Ich aktualisiere meine Liste auch mal. Mein bescheidenes Ziel ist es ja, in der Freizeit mindestens 2 Bücher im Monat zu lesen.
Folgende Texte stammen von mir, aber sind aus einem anderen Forum kopiert. Falls also ein Forum adressiert wird, ist nicht RBTV gemeint:
Besprechung diverser neu gelesener Bücher
Macht und Gewalt
Puh, was soll ich über einen solch voraussetzungsreichen (bzgl. Geschichte, Philosophie, Begriffen, vorheriger Texte der Autorin usw.), anspruchsvollen Essay wie diesem schreiben, bei dem ich mich davor hüte, zu behaupten, auch nur die Hälfte verstanden zu haben?
Zum Glück ist dem Essay ein Nachwort von Christine Blättler angehängt, in dem nochmal auf viele Texte Arendts eingegangen wird.
Jedenfalls ist Macht und Gewalt ein äußerst spannender Text über die Studentenrebellionen der 1960er-Jahre und der Angst vor der Atombombe (bzw. anhand dieser Hintergründe vertieft Arendt ihre Macht und Gewalt-Begriffe). Man bekommt einen guten Eindruck davon, wie apokalyptisch diese „Errungenschaft“ der Technik und Wissenschaft in den Köpfen vieler Menschen anmutete.
Ganz wichtig ist auf jeden Fall, dass Macht und Gewalt bei ihr zwei unterschiedliche Dinge sind, die häufig fälschlicherweise in eins gesetzt würden. Macht bedinge keine Gewalt, sondern nur Organisation und Menschen, die diese Macht legitimieren. Gewalt komme vor allem dann vor, wenn ein Machtverlust eintritt (so sei die starke Polizeigewalt gegen die Studenten Ausdruck eines Machtverlustes des Staates). Eine der schlimmsten neuen Staatsformen sieht Arendt hier in der Bürokratie.
Aus heutiger Sicht fragwürdig erscheint ihre Bewertung der Schwarzen Bewegung in dieser Zeit, die leicht rassistische und stark akademisch-elitäre Dimensionen annimmt, welche von einer gewissen Unwissenheit aufgrund ihrer Distanz zu dieser herrührt.
Trotzdem ist dieses Essay ziemlich mind blowing. Nicht nur besticht Arendt mit fantastischen Analysen bzgl. Hegel, Marx, Spengler, der Neuen Linken usw., auch im geschichtsphilosophischen Sinne ist sie sehr modern mit ihrer Absage an den Fortschrittsgedanken der Geschichte. Lustige Parallelen zwischen den glücklicherweise mittlerweile in den Hintergrund tretenden moralisierenden Linken (zu denen ich selbst auch gehörte) und der Neuen Linken der 1960er-Jahre lassen sich erkennen. Interessante Schlussfolgerungen im Hinblick auf „Schuldkulte“ (Einzelperson x als Weißer schuld an dem und dem Kolonialismus o.ä.) ferner entlarven Absolutsetzungen und Kollektivierungen von Schuld/Unschuld, die die eigentlichen Verantwortlichen unsichtbar machen, ohne zu leugnen, dass es Rassismus, Kolonialismus und der Gleichen natürlich gibt. Ergo: Sehr differenziert.
Gerade hinsichtlich der Angst vor der durch die Wissenschaft hervorgebrachte (Selbst-)Zerstörungsmacht des Menschen in Form der Atombombe, die in der Zeit maßgeblich war, ist die Lektüre dieses Texts auch heute noch aufschlussreich, denn wir Leben in Zeiten drohender Kriegszustände und wilder Aufrüstungsfantasien bis hin zu Forderungen nach „atomarer Unabhängigkeit“ Europas.
Über Palästina
Vor einer Weile wurden in einem Archiv 2 unbekannte Texte der deutsch-jüdischen politischen Theoretikerin Hannah Arendt gefunden. Beide beschäftigen sich mit Palästina. Erstens geht es um die amerikanische Palästina-Außenpolitik (1944) und zweitens um Lösungsvorschläge bzgl. der Flüchtlinge im Bereich Israel/Palästina. Dieser Bericht des Institute for Mediterranean Affairs ist aus dem Jahr 1958 und Arendt war Teil dieses Kollektivs von Experten, was ein Novum für ihr Wirken darstellt.
Ich will hierauf nicht auch noch inhaltlich eingehen. Erstens, weil es den Rahmen des Beitrags sprengen und zweitens, weil es das erlaubte Maß an Politik in diesem Forum torpedieren würde. Nur so viel: Die Lektüre lohnt sich ungemein und ist auch für die heutige Situation im Nahen Osten interessant, wenngleich die Texte natürlich in ihrer Zeit verfangen sind. Das Nachwort von Thomas Meyer ist aufschlussreich.
Das zweite Buch des Blutes
Wie nach dem ersten Buch des Blutes von Clive Barker vorgenommen, bin ich mit dem zweiten durch. Es hat mir ebenso, wenn nicht vll sogar ein bisschen besser gefallen als das erste.
„Moloch Angst“ ist eine echt fiese Sadismus-Studie mit Genugtuung am Ende. Eine Stelle dürfte für Vegetarier / Veganer unter uns schlimm sein xD.
Beim „Höllenrennen“ dachte ich erst, ok, wild, was für ein random Setting, aber auch hier schafft es Barker, seine eigentlich komplett bescheuerte Idee sehr spannend, mitunter fast filmisch, umzusetzen und seinen Monstren eine ordentliche Wucht einzuschreiben, dass man sie klar vor Augen hat.
„Jaqueline Ess: Ihr Wille, ihr Vermächtnis“ hat mich umgehauen. Zunächst hatte ich gewisse Bedenken, dass das eine unschöne „don’t fuck with borderline“-Geschichte wird (immerhin ist das ja schon was älter …), aber nein, die Darstellung von Jaquelines Innerem ist toll, ambivalent und sie ist badass, während ihre Boshaftigkeit niemals zu girlboss-Unsinn verkommt. Hat mich beeindruckt, starke Figur.
„Wüstenväter“ liest sich, als hätte Barker hier 3 unterschiedliche Geschichten zu einer gemacht. Die „harten“ Übergänge (wie jumpcuts im Film), die zumindest in meiner ebook-Version auch nicht in der Form des Texts ablesbar sind, irritieren zunächst, aber trotzdem verbindet sich alles geschickt und befriedigend am Ende zusammen. Dieser Karnevalszug erinnerte mich ein bisschen an Satoshi Kons grandiosen Film Paprika, nur dass es hier eben die Horror-Freakshow-Variante ist. Es ist eine Wonne, wenn Clive Barker einfach mal so nebenbei die biblische Entstehung der Menschheit umschreibt und umkehrt, ohne sich dabei einer ausufernden Bildsprache zu bedienen - nein, hier wird der Ursprung der Menschheit aus dem Ärmel geschüttelt, aber gekonnt. Skurrile Monster, skurrile Menschen, alles dabei.
„Neue Morde in der Rue Morgue“ hat mich erst beunruhigt, weil ich einen billigen Pastiche erwartete. Es hat zwar erwartungsgemäß einen ganz anderen Ton als Edgar Allan Poes Detektivgeschichte, überzeugt mit seinen guten Twists aber absolut.
Fazit zum zweiten Buch des Blutes: Geiler Scheiß!
Schattenseiten
Beim Herumstöbern bin ich auf eine Kurzgeschichtensammlung eines wohl recht unbekannten deutschen Autors namens Alexander Klymchuk gestoßen. Titel und Cover des 2024 erschienenen Buches sprechen mich an, also mal gucken, was drin ist!
Ich sach ma so: Clive Barker isset nich. Zuerst das Positive: In den 13 Kurzgeschichten wird im Hinblick auf die Settings ordentlich was an Abwechslung geboten. Von unterschiedlicher Science Fiction, Zombieapokalypse im Heute und dem Alten Rom (Varusschlacht gewürzt mit Lovecraft) ist fast alles dabei.
Ansonsten hat mich das Ganze leider nicht überzeugt. Vielleicht liegt es an mir, denn Atmosphäre ist mir am wichtigsten und die wollte fast nie aufkommen. Wenn in einer Geschichte von merkwürdigen Selbstmorden in einem Kloster die Rede ist, dann wünschte ich mir, ich könnte mehr von dieser Umgebung einsaugen. Stattdessen bleibt es ein Dialog zwischen 2-3 Personen, in dem sich dann alles klärt. Mir gefällt auch nicht, dass ständig irgendwo eine Referenz zu Shakespeare, anderen großen Autoren, gehobener klassischer Musik usw. gemacht wird; nicht weil ich irgendeinen Snobismus vorwerfen will, sondern weil es meistens nicht über Referenzen hinausgeht – verarbeitet werden die Stoffe in den meisten Fällen nicht.
Eine Geschichte spielt in einem Theater. Ein hübscher Hamlet-Schauspieler wird von einem roten Geist heimgesucht. Was ein japanischer Geist allerdings dort verloren hat, erschließt sich mir nicht. Am Ende des Tages: Effekthascherei, aber hier passt der Shakespeare wenigstens.
Was ich auch nicht ganz versteh, ist die Formatierung des Textes. Wenn in der ein oder anderen Geschichte zwischen 2 unterschiedlichen Erzählebenen gewechselt wird, ist das mitunter dadurch gekennzeichnet, dass die andere Erzählebene komplett in kursiv abgedruckt ist. Wirkt unprofessionell. Generell wird diese Art des Erzählens zu häufig verwendet, weshalb den Geschichten etwas „binäres“ anhaftet.
Trotzdem gab es auch gute Geschichten: Die bereits erwähnte Klostergeschichte („Blutacker“) mag ich trotz der o.g. Schwächen, „Invictus“ erweitert die Varusschlacht um bekannte Lovecraft-Wesen (als Grundlage für ein Pen-and-Paper-Abenteuer würde sich das ganz gut machen), in „Schlachtrufe“ eskalieren Klimaaktivisten gegen ihren Willen auf etwas andere Art, „Tempus fugit“ versprüht im Spukhaus tatsächlich einen Hauch von Stimmung, „Kreuzweg“ erinnert positiv an Slender Man o.ä. (auch wenn es nervt, sich durch den Dialekt zu lesen xD) und „Entfremdung“ hat ne gute Idee, was der Supergau in Tschernobyl noch so hervorbringen könnte (sie lässt wegen fettgedruckter [!] Einschübe, die das Wesen einordnen, aber viele Federn). Das lowlight ist die letzte Geschichte, in der Dante, Vergil, Putin und Selenskyj (!!!) in einem Satz erwähnt werden. Man merkt den Geschichten ihre Entstehungszeitraum an … und zwar nicht auf eine gute Weise.
Da hat mir das Zeug von Simon Krätschmer besser gefallen … ich geh wohl zurück zu meinen Büchern des Blutes … Nummer 3 steht bald irgendwann mal an!
Zwischen Simulation und Narration. Theorie des Fantasy-Rollenspiels
Was macht man, wenn man seinen Freundeskreis nicht dazu kriegt, regelmäßig Pen and Paper-Runden abzuhalten? Man liest Dissertationen zum Thema … na klar.
Die rund 400 Seiten lange Studie gibt einen Überblick zur beachtlichen Entwicklung von P&P, dessen Formen und Funktionen und analysiert narrative sowie simulative Aspekte davon. Es werden drei Systeme vorgestellt, analysiert und mehr oder weniger miteinander verglichen: Das Schwarze Auge, Shadowrun und Call of Cthulhu. Schon bei der Vorstellung von DSA wird hervorgehoben, was das mit der Zeit eigentlich für hochkomplexe Phänomene geworden sind. Die Schilderungen zum CoC-System haben mir doch glatt Lust gemacht, mal wieder in den alten, verqueren, snobistischen, rassistischen Gentleman Lovecraft reinzulesen. Kenn sein Werk zwar so gut wie auswendig, aber HPL geht immer … zurück zur Arbeit: Es handelt sich um eine literaturwissenschaftliche Arbeit mit interdisziplinären Tendenzen (Ludologie), was ja durchaus Sinn ergibt. So wird die P&P-Runde als eine neue Literaturgattung/form mit vielen alten Aspekten (orale Traditionen, Rückgriff auf Mittelalter-Epen, Fantasy-Literatur wie von Tolkien usw.) entwickelt, generell ist das Erzählen ein großes wichtiges Ding, wenn es um Rollenspiel geht. Die Besonderheit liegt hier vor allem darin, dass im Grunde alle Beteiligten zu Miterzählern werden.
Hat mir auf jeden Fall gefallen, das zu lesen. Die letzten Kapitel wirkten etwas wie Fremdkörper oder drangetackert, aber ansonsten tolle, für den Forschungsbereich wegweisende Arbeit. Das Buch ist 2012 erschienen und ich kenne natürlich den aktuellen Forschungsstand nicht, aber das wirkte schon noch sehr aktuell. Der einzige Aspekt, der mir fehlt, und dessen Bearbeitung ich hier interessant gefunden hätte, ist das Phänomen des Zuschauens von P&P-Runden etwa bei RBTV, Orkenspalter TV, den Alriks, Tales off the Script oder bei wem auch immer. Dass dieses Thema keinerlei Beachtung findet, liegt wohl an der Entstehungszeit, denn solche Let’s Plays sind heute viel verbreiteter.
Das übernatürliche Grauen in der Literatur
Mal wieder Literatur über die Horrorliteratur: Das übernatürliche Grauen in der Literatur von Lovecraft. Ein 28000 langer Essay über die Geschichte des Horrors von der Antike bis zu HPLs Lebzeiten. Trotz des Alters und allen verqueren Eigenheiten Lovecrafts (kosmisch kommt unzählige Male vor) ist die Arbeit immer noch stark. Man erfährt nicht nur, was man lesen sollte, sondern auch viel über HPL selbst, der seine eigene Philosophie einbringt. Der größte Schnitzer der Arbeit ist, dass er Le Fanu übergeht.
Gelesen habe ich die deutsche, schöne, hochqualitative, kommentierte Version vom Golkonda Verlag. Es gibt eine fantastische Einleitung von S.T.Joshi, die viele Dinge einordnet, aber auch seine peinlich-unterhaltsame Tirade gegen populäre Autoren wie Stephen King enthält. Joshi hat das Essay mit Anmerkungen versehen, die aufzeigen, wo Lovecraft Infos herhatte, die ihn korrigieren, die zeigen, wo man die besprochenen Titel herbekommt usw. Das ist alles ziemlich klasse. Die Kirsche auf der Torte ist eine um deutsche Titel erweiterte Bibliographie der besprochenen Werke von S.T.Joshi und Robert N. Bloch.
Lovecraft widmet Edgar Allan Poe ein ganzes Kapitel. Böse Zungen würden sagen, Lovecraft überhöhe Poe hier, aber der gehört genau dahin.
Wir verdanken diesem Essay wohl, dass manche Autoren nicht vergessen wurden. HPLs (und Koenigs) Bearbeitung des großartigen William Hope Hodgson („Das Haus an der Grenze“, „Geisterpiraten“) bewahrten ihn davor, und Lord Dunsany wäre ohne Lovecraft ebenfalls vergessen, den er hier in seinem Kapitel über Autoren seiner Zeit neben Arthur Machen und M.R.James hoch lobt. Gerade bei Letzterem zeigt sich, wie geschärft HPLs Gespür ist, denn James ist ein, nein, der Großmeister der Geistergeschichte. James hatte zu der Zeit aber nicht mal all seine berühmten Erzählungen verfasst.
Kann man sich immer noch geben. Stephen King hat es in „Danse Macabre“ auch empfohlen – ich stimme zu, vor allem bzgl. dieser kommentierten Ausgabe.