Die Pommes Oma
Lukas hatte gute Laune. Er saß im Vorbüro seines Chefs und wartete geduldig darauf, dass sein Termin anfing. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, dass man ihn zu einem Gespräch gebeten hatte. Sein Arbeitsvertrag lief am Monatsende aus und Lukas ahnte, dass er endlich seine Festanstellung bekommen würde. Es konnte gar nicht anders sein. Er schmiss praktisch den gesamten Laden allein, ohne ihn passierte nichts. Wenn er einmal Urlaub nehmen musste, fuhr er so gut wie nie weg. Er wusste genau, dass es nicht lange dauern würde, bis man ihn zurückholte. Es gab immer viel zu viel Arbeit. Was eigentlich kein Wunder war. Der Wettbewerb wurde immer härter, kaum ein Quartal verging, in dem ein Konkurrent nicht versuchte Kunden abzuwerben und die Kunden die belieben, verlangten immer Mehr. Die Unternehmensführung reagierte immer gleich - sparen und mehr Arbeit für die Belegschaft. Doch dem ständig steigenden Druck hielten nicht alle stand. Vor allem die alten, erfahrenden Mitarbeiter verließen das Unternehmen nach und nach, was dem Management nur Recht war. Für jeden teuren langjährigen Angestellten konnten sie nun zwei Lohnnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen einstellen, die nur zu gern bereit waren unbezahlte Überstunden abzuleisten und selbst Urlaubstag verfallen ließen. Alles zum Wohl der Firma.
Lukas hatte lange zu der Heerschar der Gesichtslosen gehört. Aber das war vorbei. Mit viel Fleiß und Ehrgeiz hatte er sich nach oben gearbeitet und war nun unverzichtbar für das Unternehmen. Das hatte ihm sein Chef immer wieder gesagt. Heute würde er endlich ins Management aufrücken und die Anerkennung erhalten, die er verdiente.
Im Gedanken ging Lukas seine Forderungen durch, die er bei Vertragsverhandlungen stellen würde. Nicht Zuviel, er wollte nicht übertreiben. Anderseits, wenn er es Nichts verlangte, bekam auch Nichts. Mehr Gehalt - natürlich. Weniger Überstunden und mehr Urlaub – mussten nicht unbedingt sein, Lukas hatte ohnehin kein Privatleben. Aber als Druckmittel bei den Verhandlungen, konnte er es zum Schein verlangen. Ein Dienstwagen – warum eigentlich nicht? Und natürlich ein eigenes Büro! Kein überfülltes Großraumbüro mehr. Kein miefiger Abstellraum, eingezwängt zwischen Kaffeemaschine und Kopierer. Die eigenen vier Wände in denen man arbeiten – leben – in denen man endlich frei atmen konnte.
Verstohlen sah Lukas sich in dem Vorraum zum Büro seines Chefs um. Erst jetzt bemerkte er, wie geschmacklos, ja fast schon sterile, der Raum eingerichtet worden war. An einer Grau gestrichene Wände hing ein geschmackloses Bild in einem billigen Rahmen. Blass grünes Linoleum war auf dem kalten Betonboden verlegt und in der Ecke stand ein etwa ein Meter großer Gummibaum. Unwillkürlich musste Lukas an seine Großmutter denken.
Da Lukas Eltern eigentlich nie Zeit für ihn gehabt hatten, kümmerte sich vor allem seine Großmutter um ihn. Zwar musste auch Sie arbeiten, aber das war irgendwie keine richtige Arbeit – jedenfalls keine so wichtige Arbeit, wie die von Lukas heute oder seinen Eltern damals. Lukas Großmutter hatte einen Imbisswagen und verkaufte selbstgemachte Pommes Frites.
Ursprünglich hatten Lukas Großeltern das Geschäft gemeinsam geführt, doch eines Tages hatte Lukas Opa seine Familie verlassen. Warum hatte Lukas nie erfahren. Seine Oma hatte niemals darüber ein Wort verloren und er hatte nicht danach gefragt. Von da an, hatte seine Großmutter den Imbiss allein betrieben und ganz neben bei, erst ihren Sohn und dann Lukas großgezogen.
Als Lukas noch klein gewesen war, gab es keinen anderen Menschen, den er so sehr bewunderte wie seine Großmutter. Sie schien einfach alles zu können. Abends schälte sie allein eine riesige Tonne Kartoffeln, schnitt sie in Stiftform und blanchieren sie. Fuhr in aller Früh zu ihrem Stammplatz und mittags hatte sie schon über hundert Portionen Pommes verkauft. Niemand konnte ihr etwas vormachen und egal was auch passierte, Lukas Oma brachte die Dinge schon wieder in Ordnung. Für Lukas Freunde war er der große Held gewesen. Es gelang ihm immer, ein paar frischer Pommes rotweiß zu organisieren und es waren wirklich die besten Pommes der Welt. Niemand konnte sie so gut machen wie seine Oma.
Doch mit der Zeit verändertet sich Lukas Verhältnis zu seiner Großmutter. Es begann damit, dass er eines Tages neben den Kartoffelkeller die alte Schalmaschine fand, mit deren Hilfe seine Oma die riesige Menge Kartoffeln für die Pommes vorbereitete. In der Küche entdeckte er schließlich noch die elektrische Schneidemaschine und den vollautomatischen Heißdämpfer zum blanchieren der Kartoffelstifte. Es war immer noch viel Arbeit, aber Lukas kam sich trotzdem etwas dumm vor. Er hatte doch tatsächlich gedacht, seine Großmutter würde alles ohne Hilfe schaffen. Aber natürlich war auch sie nur ein Mensch.
Eines Tages erklärte die Lehrerin in der Schule, warum Fast Food und ganz besonders Pommes Frites so schlecht für die Ernährung waren. Zu viel Fett, zu viel Kohlehydrate und jedes einzelne Vitamin war grausam zu Tode frittiert worden. Tatsächlich schmeckten das widerlich Zeug überhaupt nicht, durch die vielen chemischen Geschmacksverstärker glaubte man es nur. Außerdem verursachte frittierte Speisen furchtbare Krankheiten wie Diabetes und Krebs. Seit diesem Tag wollte keiner von Lukas Freunden noch Pommes rotweiß von ihm haben und heimlich nannten sie seine Großmutter „Pommes Oma“.
Lukas schämte sich. Er schämte sich vor seinen Freunden, vor seiner Klassenlehrerin und vor der ganzen Welt. Er schämte sich für seine Großmutter und Lukas beschloss damals mehr aus seinem Leben zu machen.
Irgendwann im Studium besuchte er seine Großmutter, mehr aus schlechtem Gewissen als aus tatsächlichem Interesse. Er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und seine Eltern wohnten seit einer ganzen Weile in einer anderen Stadt. Lukas hatte ihr auch ein Geschenk mitgebracht. Einen künstlichen Gummibaum.
Damit sie nicht so allein ist, meinte er. Außerdem waren diese Plastikpflanzen superpraktisch. Man musste sich überhaupt nicht um sie kümmern. Nicht gießen, kein umtopfen, noch nicht einmal Licht brauchte so eine Pflanzenattrappe.
Natürlich nicht, schließlich wachs Plastik nicht, sagte seine Oma damals mit einem Stirnrunzeln. Nur Dinge, die leben wachsen. Brauchen Pflege, Zuneigung und Liebe. Was nicht wachs ist tot. Trotzdem bedankte sich seine Großmutter für das Geschenk und stellte den künstlichen Gummibaum ins Küchenfenster.
Gestern hatte Lukas seine Großmutter wieder besucht. Sein Chef hatte ihn zu dem wichtigsten Gespräch seiner Kariere eingeladen und bis auf seine Oma, hatte Lukas niemanden dem er die guten Nachrichten erzählen konnte. Sie freute sich für Lukas und hörte ihm geduldig zu, als er von seiner Arbeit und seiner Zukunft redete. Nach einer Weile fragte Lukas nach ihrem Befinden, doch die rüstige Frau winkte nur vage ab. Alles war mehr oder weniger immer das Gleiche. Immer noch statt sie im Imbiss und immer noch verkaufte sie jeden Tag ihre selbstgemachten Pommes. Lukas wunderte sich. Er wusste, dass seine Großmutter mittlerweile längs in Rente hätte gehen konnte und eigentlich nicht mehr arbeiten musste. Als er sie danach fragte, meinte sie nur, dass sie leider bisher niemanden gefunden hatte, der ihren Imbiss übernehmen wollte. Noch nicht einmal geschenkt. Und den alten Imbisswagen einfach zu verschrotten, brachte sie nicht übers Herz. Dafür hatte sie zu viel Arbeit und Herzblut ins Geschäft gesteckt.
Lukas konnte es nicht fassen, dass niemand diese Gelegenheit ergreifen wollte. Natürlich musste viel Arbeit in den alten Imbiss-Wagen gesteckt werden, doch es konnte sich durchaus lohnen. Food-Trucks waren gerade schwere in Mode und selbstgemachte Essen aus Ökologischem Anbau kam besonders gut an. Dafür musste man noch nicht einmal irgendwas umstellen. Lukas Großmutter hatte schon immer ihre Kartoffel von den etwas seltsamen Hippie-Bauern aus dem Nachbardorf bezogen, nur war ihr das immer etwas peinlich gewesen. Niemals hätte sie damit für die Qualität ihrer Pommes geworben. Doch die Zeiten hatten sich geändert und die Hippie-Bauern waren heute Vorzeigeunternehmer der Öko-Landwirtschaft. Lukas hatte viele Ideen wie man das Geschäft noch verbessern konnte und erzählte seiner Großmutter davon.
Sie hörte geduldig zu und meinte schließlich lächelt, dass er jederzeit bei ihr anfangen könnte. Lukas schüttelte traurig den Kopf. Er hatte bereits eine Arbeit. Eine richtige Arbeit. Und seine Kariere stand kurz vor dem Durchbruch. Er konnte jetzt nicht einfach alles hinschmeißen.
Langsam trat er ans Küchenfenster und betrachtet den Gummibaum, den er seine Großmutter einst geschenkt hatte. Die Plastikpflanze sah immer noch so aus wie am ersten Tag. Die Blätter hatten sich nicht verändert, sie waren kein Zentimeter gewachsen. Nur etwas Farbe hatten sie verloren. Sie waren blasser als früher.
Vorsichtig berührte Lukas die Blatter und schloss seine Hand um sie. Als er sie wieder öffnete, waren die Blätter des Gummibaums zu kleinen Plastikflocken zerfallen. Lukas war erstaunt. Irgendwie hatte er gedacht diese künstlichen Pflanzen würden ewig halten, doch nach nur wenigen Jahren in der Sonne, begann der Gummibaum zu verrotten.
Dinge die nicht wachsen zerfallen irgendwann, sagte seine Großmutter leise. So ist das nun mal, Lukas.
„Lukas!“
„LUKAS!“ brüllte eine herrische Stimme laut und riss Lukas aus seinen Gedanken.
„Ja!“ antwortete Lukas schnell.
„Sie können reinkommen!“ erwiderte die Stimme.
Lukas betrat das Büro seines Chefs und setzte sich auf den angebotenen Stuhl.
„Nun am Monatsende verlassen sie uns.“, begann Lukas Chef und blickte dabei in seine Unterlagen. „Ich möchte mich im Namen der Unternehmensleitung bei ihnen bedanken und ihnen viel Erfolg auf ihrem weiteren Weg wünschen.“
Emotionslos reichte er Lukas seine Hand. Lukas ergriff sie nicht.
„Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass sie mir einen neuen Vertrag anbieten werden,“ meinte Lukas verwundert. „Wir haben so viel Arbeit … Sie können doch gar nicht auf mich verzichten.“
Lukas Chef lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und deutete dabei mit dem Kopf auf einen riesigen Stapel mit Mappen. Lukas konnte nur die Überschrift der obersten Mappe lesen. Bewerbung, stand dort.
„Doch eigentlich schon,“ murmelte Lukas Chef etwas süffisant. „Für jede freie Stelle haben wir über hundert Bewerbungen.“
„Sie ersetzen mich?“ fragte Lukas einer Panik nahe.
„Oh nein,“ antwortete Lukas Chef mit einem schiefen Grinsen. „Wir werden niemanden mehr einstellen.“
Lukas sah ihn verständnislos an.
„Die Anforderung eines Globalen Wettbewerbs macht neue Unternehmensstrategien notwendig,“ erklärte er gedehnt. „Wenn dieses Unternehmen wachsen will, müssen wir unser Kosten signifikant senken und das größte Einsparungspotenzial befindet sich nun mal in den Personalkosten. Die Unternehmensführung hat daher beschlossen, den Großteil unserer Mitarbeiter durch externe Partner zu ersetzen.“
Er reichte Lukas eine Hochglanzbroschüre.
„…und ich denke, das ist genau das richtige für sie.“
Lukas durchflog die Seiten der Broschüre und erfasste sofort die Zusammenhänge. Scheinbar hatte die Firmenleitung eine neue Methode entwickelt wie sie ihren Mitarbeitern noch mehr Arbeit aufbrummte und dabei ihnen weniger zahlen musste als bisher. Statt teuer Angestellte zu beschäftigen wurde die ganze Arbeit an selbstständige Mitarbeiter weitergeleitet, die um jeden Auftrag betteln mussten und ganz nebenbei konnte sich das Unternehmen die kompletten Kosten für die soziale Absicherung sparen. Lukas war entsetzt.
„Das kann doch nicht ihr ernst sein,“ stotterte er. „Selbst, wenn sie jemanden finden, der sich auf so etwas einlasst, werden sie damit jede Motivation, jede Kreative der Mitarbeiter für immer zerstören. Kein Sklave wird sich für seinen Unterdrücker aufopfern. Jeder der wirklich gut ist in seinem Job, wird sich schleunigst etwas Besseres suchen. Die Einzigen, die ihnen dann noch bleiben sind Unfähige, die niemand sonst will. Was glauben sie werden unsere Kunden dazu sagen?“
„Unsere Kunden wollen geringe Kosten,“ erwiderte Lukas Chef gelangweilt. „Und solang wir die bieten, wird dieses Unternehmen auch immer weiterwachsen.“
„Wachsen?“ lachte Lukas laut auf. „Diese Firma ist tot! Hier wachst gar nichts mehr! Sie verrotten! Sehen sie da denn nicht?“
Lukas Chef zuckte nur mit den Achseln.
„Mag schon sein,“ sagte er. „Aber bis hier alles zusammenfällt, bin ich längst weg und bis dahin gibt es jedes Jahr einen netten Bonus.“
Kopfschüttelnd stand Lukas auf und zerknüllte die Broschüre.
„Das würde ich mir gut überlegen,“ meinte sein Chef.
Doch Lukas warf ihm nur kommentarlos die Papierkugel an den Kopf und ging Richtung Tür.
„Was wollen sie denn machen?“ rief Lukas Chef ihm hinterher. „Vielleicht Pommes verkaufen?“
Lukas blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich langsam um.
„Ganz genau, Arschloch! Ich werde Pommes verkaufen,“ meinte er grinsend. „Und weißt du was ich machen werde, wenn ich deine Scheißfresse an meinem Stand sehe?“
Lukas Ex-Chef starte ihn verblüfft an.
„Ich werde dir die verdammt besten Pommes der Welt verkaufen!“
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