Hier eine Betrachtung des ganzen Filmes Moment für Moment. Wie Akiz bereits sagte, steht er [edit: er = das Nachtmahrwesen] für nichts Konkretes sondern ein ungenanntes Gefühl, er ist quasi Platzhalter für alles Seltsame und Fremde, was auf diese Situation passen könnte. Wie Akiz ebenfalls sagte, ist der Nachtmahr ein Teil von Tina, der ihr unangenehm ist, ich werde ihn deshalb auch so nennen. Tina ist 17 und befindet sich in der Entwicklung, ihre Persönlichkeit formt und verändert sich.
- Der Film beginnt damit, dass der Teil in Tina angelegt wird. (Ihr Bild wird mit dem Fötus vermorpht, er wird mit ihr vermischt, eingepflanzt.)
- Bald nach der Anlage gebiert der Teil sich. (Die Pinkelszene, von Akiz betont.)
- Die Geburt dieses Teiles ist für sie wie ein großes traumatisches Ergeignis, der Teil ist frei. (Sie wird vom Auto erfasst, aber nicht tatsächlich. Wie Akiz sagte: “Die Platte springt.” Der Nachtmahr macht sich auf.)
- Zuerst verleugnet sie vor sich selbst, dass sie diesen Teil hat. (Sie nimmt den Nachtmahr immer nur kurz wahr, aber er verschwindet, bevor sie ihn wirklich zu sehen kriegt.)
- Später akzeptiert sie, dass dieser Teil von ihr real ist. (Sie spricht ihn auf Empfehlung des Therapeuten an.)
- Gleichzeitig fürchtet sie diesen Teil aber. Sie hat Angst, von ihrer Umwelt auswegslos auf diesen Teil reduziert zu werden (im Traum wird sie hinter eine von ihr nicht öffenbare Tür gesperrt, welche die Größe des Nachtmahrs hat) und erahnt die fehlende Akzeptanz ihrer Eltern (Mutter behauptet, sie bilde sich nur ein, dass sie der Nachtmahr sei), obwohl sie sich selbst nicht vollständig mit dem ihr unheimlichen Teil identifiziert.
- Nun wird uns gezeigt, dass der Nachtmahr wirklich ein Teil von ihr ist (die Rasiererszene) und dass er kein Monster ist. Der Nachtmahr ist keine Antireaktion auf etwas, er ist nicht schädlich oder Ausgeburt eines Konflikts. Er greift weder Tina an, noch beschützt er sie vor etwas oder agiert überhaupt mit ihrer Umwelt, er ist einfach da. (Der Nachtmahr ist in Tinas Zimmer, ihrer Privatssphäre, so lange sie wach ist, und erst, als sie schläft, macht er sich selbständig und wandert umher.)
- Beachtet auch die Zeichnungen auf ihren Englischhausaufgaben, wo der Nachtmahr neben einem Bild steht, auf dem zwei Frauen sich küssen. Die rechte Frau trug das Make-Up, mit dem sich Tina in der letzten Nacht zurechtmacht, die linkte Frau ist ohne Schminke, wie Tina durch den Film. Der Nachtmahr wird hier bildlich neben die Selbstakzeptanz Tinas, bzw. die Liebe zu ihrem idealisierten Selbst gestellt.
- Nachdem Tina diesen Teil von sich akzeptiert hat, beginnt sie, ihn zu unterstützen. (Vorher ernährte der Nachtmahr sich heimlich selbst aus dem Kühlschrank, jetzt füttert sie ihn. Tina zeigt hier eine ruhige und zärtliche, wenn auch zögerliche, Fürsorge für den Nachtmahr, während sie vorher mit ihren Freundinnen eher als Hohlbratze dargestellt wird.)
- Sie ist aber noch nicht bereit, sich der Umwelt zu offenbaren. Dies steht nur scheinbar im Kontrast dazu, dass sie will, dass andere Leute ihr glauben, dass er existiert. Sie will anderen Leuten diesen Teil von sich zwar zeigen, kann es aber nicht über sich bringen. (Immer, wenn sie Leuten den Nachtmahr zeigen will, verschwindet er im letzten Moment.) Beachtet hier die Diskrepanz zwischen dem stärkeren Wunsch, den Nachtmahr ihren Freunden zu zeigen, und der Furcht vor ihren Eltern. (Sie hält ihre Eltern vom Nachtmahr fern, baut sogar die Türklinke ab.)
- Irgendwann kann sie sich nicht mehr verstecken (Mutter zwingt die Tür auf) und ihre Eltern zeigen absoluten Hass auf diesen neuen Teil von Tina und versuchen, ihn von ihr fernzuhalten.
- Mit Entfernung dieses Teils wird Tina geschwächt. (Ihr läuft Blut aus der Vene.) Hier ist der Schaden keine gewalttätige Wunde sondern medizinisch simpel gehalten, was uns zeigt, dass ihr mit der Verleugnung dieses Teiles Lebenskraft verloren geht. Dieser Verlust wird von den Eltern als Selbstverletzung brutal bekämpft, d.h. der Wunsch, diesen Teil ihrer Persönlichkeit zu behalten, wird von den Eltern als schlechtes/schädigendes Verhalten wahrgenommen und aufs Schärfste nicht akzeptiert.
- Nun jedoch hat Tina 18. Geburtstag, der Moment, in dem man in Deutschland volljährig und nominell unabhängig wird. Tina wird von dieser Reife/Unabhängigkeit aber durch ein repressives Elternhaus (sie darf nicht gehen) und schlechte Freunde (sie wird nicht eingeladen/wird weggedrückt) ferngehalten.
- Sie setzt sich jedoch über ihr Elternhaus hinweg (haut mit dem Auto ab) und will den Teil von sich akzeptieren (befreit den Nachtmahr).
- Ihr Mut verlässt sie jedoch, als sie sich ihren Freunden gegenübersieht. (Der Nachtmahr schlägt sich ins Gebüsch.)
- Erst, als sie auch von außen akzeptiert wird, kann sie sich selbst akzeptieren. (In dem Moment, da Ochsenknecht ihr sagt, dass ihm gefällt, was sie aus sich gemacht hat, kommt der Nachtmahr aus dem Versteck.)
- Sie akzeptiert den Teil nun vollständig (hebt ihn stolz auf) und kann nun auch der Gewalt ihrer Eltern widerstehen. Der letzte Punkt war für mich nicht offensichtlich, aber Akiz betonte, dass das Ende ein positives ist; daher kann ich es nur so sehen, dass der Nachtmahr trotz der brutalen Unterdrückung des Vaters überlebt hat sie nun bereit ist, sich selbst das Steuer in die Hand zu geben.
Ein netter Coming-Of-Age-Film über den Menschen und seine Umwelt in abstrakter Darstellung. Er würde z.B. gut als Metapher für ein Coming Out in einem harschen christlichen Elternhaus funktionieren, aber es freut mich, dass er so offen gehalten ist und so jedem zugänglich. Wenn Deutschlands Filmemacher sich mal nicht am Fördertropf ketten, haben sie eben doch ordentlich was drauf.