Abby Anderson (The Last of Us: Part 2)
Zur Sicherheit: SPOILERWARNUNG.
Abby ist der fiktionale Charakter, der mir in meinem bisherigen Leben so nah gegangen ist wie kein anderer. Ellie und Joel gehören ebenfalls zu meinen Favoriten, aber nach dem Ende von „The Last of Us: Part 2“ kehrten meine Gedanken und meine Gefühle immer wieder zu Abby zurück. Sie übt von den drei Hauptfiguren der beiden Spiele die größte Gravitationskraft auf mich aus.
Abby foltert und tötet Joel auf grausamste Weise. Das ist quälend für alle Spieler, denen Joel und Ellie, die den Mord ansehen muss, ans Herz gewachsen sind. Ich konnte die meisten Spoiler aus den Leaks umgehen, aber von Joels Ermordung wusste ich leider schon im Vorfeld der Veröffentlichung. Trotzdem war ich angegriffen von Abbys Tat. Es war einfach fürchterlich.
In der zweiten Hälfte des Spiels zwingt mich das Spiel dann in die Perspektive der Mörderin. Das war auch sehr unangenehm für mich, aber nicht so skandalös, wie es viele andere Spieler empfunden haben. Stärker war in mir die Neugier, warum Abby so eine monströse Tat begangen hat. Im Moment des Perspektivwechsels, als die hasserfüllte Abby im Theater Ellie konfrontierte und dann in einem Flashback in ihre Jugend übergeblendet wurde, kam in mir bereits - als die Kamera zum ersten Mal in der Rückblende das Gesicht der noch jugendlichen Abby in einer Nahaufnahme fokussierte - intuitiv folgender Gedanke auf: „Ich glaube nicht, dass Abby ein Monster ist. Woher kommt ihr maßloser Hass auf Joel?“ Alles, was ich sah, war ein Mädchen.
Als ich erfuhr, was Abbys Motiv für ihre Tat war, konnte ich rational nachvollziehen, worin die Ursachen ihrer irrationalen Tat begründet lagen, wenn auch (noch) nicht emotional hinnehmen. Sie war schuldig, aber ich konnte verstehen - nicht entschuldigen -, warum sie diese Schuld auf sich geladen hatte. Denn auch Joel war ein Mörder, unter anderem der Mörder ihres Vaters. (Ihr Vater hatte übrigens Zweifel an der Richtigkeit der Operation an Ellie, sie hat ihn aber in der Richtigkeit derselben bestärkt.)
Sie ist ein traumatisiertes Mädchen, das zu einer verhärteten jungen Frau wird. Ihr schon grotesk muskulöser Körperbau ist geradezu sinnbildlich dafür, wie schwach sie sich innerlich fühlt. Der weichste Kern braucht die härteste Schale.
Abbys Rache bringt ihr keinen Frieden. Sie ist innerlich entfremdet von ihren Freunden - und von sich selbst. Sie ist aus ihrem eigenen Leben herausgefallen und ahnt das Schlechte in sich, aber will es nicht wahrhaben. Erst Yara und Lev geben ihr eine unerwartete Gelegenheit, sich selbst wiederzufinden. Lev macht Abby zu Joel - zu dem Mann, an dem sie mörderische Rache verübt hat. Gut und Böse sind in uns Menschen kaum zu trennen, möglicherweise gar nicht. In Joel nicht, in Abby nicht - und auch in Ellie nicht.
Ellie tötet Abbys Freunde, als sie ihrerseits gegen Abby auf Rachefeldzug geht. Auch Abby erntet somit die üblen Früchte ihrer schlechten Taten. Der Teufelskreis dreht sich weiter, die Gewaltspirale eskaliert erneut. Abby folgt daraufhin auch ihrerseits wieder ihrem jahrelang gelernten Rachemuster - und durchbricht es im Theater wirklich erst in letzter Sekunde, dank Lev. Sie nimmt die für sie letzte Ausfahrt zur Menschlichkeit.
Abbys Leid endet hier jedoch nicht. Es genügt nicht für ihre Erlösung. Die Rattler schinden Abby (und Lev) über Monate. Paradoxerweise überlebt sie (zusammen mit Lev) nur, weil Ellie in ihrem Wahn nicht von ihrer Rache lassen kann und ihr erneut nachstellt, um sie endlich zu töten. Ellie will ein weiteres Mal gegen Abby kämpfen, aber Abby sieht in Ellie keine Feindin mehr. Sie kämpft erst, als Ellie Lev bedroht, um ihren Willen zu bekommen. Das Verhältnis ihres Körpers und ihres Geistes hat sich übrigens umgekehrt. Die letzten Monate haben sie all ihrer physischen Kraft beraubt, dafür scheint sie mental stärker als jemals zuvor. Sie weiß, wofür sie lebt - und wofür sie sterben würde.
In der finalen Konfrontation zwischen Ellie und Abby verspürte ich fast so etwas wie väterliche Gefühle für Abby. (Ich bin ungefähr 18 Jahre älter als Abby am Strand, aber habe keine eigenen Kinder.) Und wieder zwang mich das Spiel, etwas zu tun, was ich nicht wollte, nämlich gegen Abby zu kämpfen, sie möglicherweise auch zu töten. In Anlehnung an Jörg Liubl gesagt: Das Spiel spielte mich und nicht ich das Spiel. Zum Glück. Keine faulen Kompromisse für das „gute“ Gefühl (vielleicht: Rachegefühl) des Spielers. Die Kunst hatte hier Vorrang. Ich hatte Angst um Abby, mehr als um Ellie. Bei mir flossen die Tränen während des Kampfes, zu dem das Spiel mich nötigte. Und nachdem Ellie im letzten Augenblick ihren Gesinnungswandel vollzog und von Abby abließ, bekam ich einen Weinkrampf, auch weil ich erleichtert war, dass Abby noch lebte, dass Ellie in sich doch noch ihre Gnade entdeckt hatte.
Warum liebe ich Abby als Figur so sehr? Naughty Dog erzählt seine Geschichten durchaus plakativ, aber dennoch intelligent. Kunst muss nicht immer subtil sein, aber sie darf sich niemals bei ihren Konsumenten bzw. Rezipienten anbiedern. Und das tut „The Last of Us: Part 2“ zu keiner Sekunde. Naughty Dog hat seine ganz besonderen Stärken in der Figurenzeichnung, in der Charakterentwicklung. Abby ist eine Figur, der es gelingt, aus dem Herz der Finsternis zurückzukehren. Sie überwindet sich selbst. Sie ist dadurch ein Test für die Menschlichkeit des Spielers, eine Prüfung seiner Empathie. Sie ist gleichermaßen Zumutung wie auch Geschenk für den Spieler.
Mich persönlich hat sie näher an mein eigenes Inneres geführt.