Ich finde Youtube Deutschland - damit meine ich die klassischen Influencer, Reactor, Streamer etc. - nach einer kleinen Recherche in den letzten 7 Tagen mutlos und prüde in einer Form, die mich wirklich schockiert hat.
Der Grund ist offensichtlich: Vor einiger Zeit haben Werbepartner von Youtube mit dem Absprung gedroht, wenn Videos nicht „sauber“ sind. Das bedeutet, dass man „Brand Safe“ - so nennen das die coolen Kids so - sein muss. Zumindest, wenn man hauptsächlich wirklich von den Klicks abhängt.
Das bedeutet: Keine Gewalt, keine „kontroverse“ Politik wie z.B. sowas wie Krieg und Terror, keine Schimpfwörter und um HIMMELS WILLEN - es ist ja immerhin ein amerikanisches Unternehmen - keine sexuellen Inhalte geschweige denn nackte Haut.
So richtig kohärent und eintönig sind diese Einschränkungen allerdings nicht und deswegen legt sie jeder der Influencer & Co. unterschiedlich aus. Und manche sind dabei aus Angst um das liebe Geld so eifrig, dass es sehr interessante, manchmal lustige, aber auch bedenkliche Blüten schlägt.
Da wäre der Trend mittlerweile ganz frei von Ironie auch männliche Nippel zu zensieren. Eine Streamerin reagierte beispielsweise auf einen Clip von Joko&Klaas, wo diese in der Sauna waren… bzw. sie wollte darauf reagieren, die Sache war ihr dann doch zu heiß…
Ich habe sogar gesehen, wie die Füße einer Frau zensiert wurden.
Panisches Gekicher und deutlich ins Schwitzen kommen, sobald eine Frau auch nur mal im BH zu sehen ist; aufgeregt ironisierend „Ob das wohl noch zu monetarisieren ist?!“ mit einem gequälten Lachen, das verrät, dass die Frage durchaus eine ernste Befürchtung darstellt… sieht so wirklich das moderne Entertainment aus unserem Land aus?
Dann habe ich ein paar „Aufklärungsvideos“ gesehen, wo Youtuberinnen mal ganz mutig über den weiblichen und männlichen Körper aufklären wollten. Heraus kamen dabei stocksteife Videos, gegen die bereits der Sexualkundeunterricht in der 5. Klasse wie ein Hardcoreporno wirkt. Aus Vagina oder Scheide wurde da „Mumu“, „Pfirsich“, „Pipifrau“, aus Brüsten „Tatas“ und aus dem Penis der „Lulu“.
Geht es da mal um Sex wird eine so blumige Sprache bemüht, dass man sich als Dreijähriger vorkommt. Das Frauen nicht nur vaginal, sondern auch klitoral befriedigt werden wollen, wird in Bildern von Blumenbeeten verpackt, die man ja auch bestellen müsste.
Dazu die absurde „Schimpfwort-Zensur“, die einen jeden amerikanischen TV-Zensor das Höschen feucht werden lassen würde. Dass man wirklich harte Worte piept oder hinter einem lustigen Delfin versteckt… nun gut, mag ich auch nicht, aber wenn es sein muss. Allerdings muss man doch sagen, dass das F-Wort - besonders in seiner englischen Form - doch mittlerweile außerhalb dieser Influencer-Bubble keinen mehr die Ohren schlackern lässt. Das hört man doch mittlerweile schon bei Rosamunde Pilcher im ZDF. Aber bereits das Wort „Sex“ oder „Porno“ zu zensieren ist wirklich der Knüller. Manche haben anscheinend so sehr Angst um ihre Einnahmen, dass sie vollkommen freidrehen. Ich habe gehört wie das Wort „Shit“ zensiert wurde. Und es kommt noch besser: Der „Zerstörer“ Rezo zensiert sogar „high“ und „Marihuana“.
Mag ein dummes Pet Peeve von mir sein und da ich den ganzen Schrott eigentlich nicht schaue sollte es mir ja egal sein. Aber ist Youtube wirklich dafür erfunden worden? Dass es dort wo Menschen auf Klicks angewiesen sind sehr viel spießiger ist als das klassische Fernsehen? Besonders gut zu beobachten z.B. bei Wallulis, der in seinen Videos oft mal piepsen muss, aber in den ÖR-Mediatheken sind seine Videos unzensiert.
Da habe ich noch gar nicht angefangen, dass Youtube als amerikanisches Unternehmen damit natürlich auch die prüde Sexualmoral nach Deutschland und auch woanders in die Welt bringt.
Und jetzt kann man ehrlich sagen: Wayne interessiert’s, da steht man drüber; man guckt es ja nicht, aber diese Influencer sind nun mal eben die, die die krasseste Reichweite haben. Gegen die ist RBTV ein Nischenprogramm und diese Influencer und die Beschränkungen von Youtube werden die Meinungen der Jugend formen und damit auch unsere Gesellschaft.
Vielleicht ist das auch mein Alter und hier verwechsle ich Henne und Ei und es stört einfach keinen und die neue Generation ist einfach prüde. Es wäre nicht die erste Generation, die sich gegen ihre Vorgängergeneration durch Opposition absetzen will. Durch die Umkehrung von Mustern. Und die Gründe für eine neuerliche Prüderie müssen nicht die gleichen der Vorvorgenerationen sein - also z.B. religiöse. Für viele mag auch die Angst umgehen, dass sexuelle oder freizügigere Inhalte gleich als sexistisch wahrgenommen werden würden und man deswegen darauf verzichtet. (Deswegen ist RBTV bei dem Thema zwar etwas lockerer, aber noch bei weitem nicht wirklich unverklemmt, behaupte ich jetzt mal aus der Ferne)
Es werden auch sicher einige die Bleistifte bzw. die Tastaturen spitzen - wobei, das könnte teuer werden - und mir vorwerfen ich würde ja nur gerne Schweinkram auf Youtube sehen wollen. Nun… nein, nein dafür gibt es im Internet sicher bessere Ecken. Ich finde nur, dass die Themen an sich nicht tabuisiert werden sollten, denn dann ist es für mich eindeutig Prüderie.
Und man sollte den Menschen den Ausdruck gestehen auch mal etwas über Nacktheit oder Sexualität auszudrücken ohne in Schnappatmung zu verfallen. Und auch ohne die Muster, dass Frauen dadurch geldgeil wären und Männer pervers. Ich dachte eigentlich, dass die Erkenntnis, dass Sexualität zum Leben, auch zum Öffentlichen, dazugehören kann in der Gesellschaft eigentlich fest verankert wär.
Es geht hier - um es lieber noch einmal zu verdeutlichen - NICHT um Porno oder Sexfilmchen. Dafür ist das Internet an anderen Stellen reserviert. Aber es gibt eben noch etwas dazwischen, wo es künstlerisch, pädagogisch oder auch einfach nur unterhaltend ist. Und natürlich ist es auch nicht mein Ziel dafür zu plädieren, dass es jetzt im jeden Video auf Youtube um Aufklärung oder anderweitig um Sex, Erotik oder Nacktheit gehen muss. Nur es sollte eben in einem gewissen Rahmen ohne Repressalien möglich sein und auch respektiert werden.
Ist nun nicht Youtube schuld, wenn es den „Creatorn“ diesen Freiraum aus Angst Werbepartner zu verlieren nicht lässt? Absolut. ABER es ist nicht weniger auch die Schuld, der Influencer, die sich dem Diskurs mit Youtube verweigern, dass die umstrittenen Themen nicht nativ etwas „rufschädigendes“ sind. Wenn ein MontanaBlack über die Sexualität der Frau redet, mag jeder Werbetreibende zurecht mit den Knien schlottern, wobei seine Highlight-Videos auf Youtube auch erstaunlich oft an heiklen stellen cutten und man auch dort gerne den sehr „blumig“ redenden „Monte“ mit piepsern beglückt. Aber ist deswegen für alle anderen Influencer das Thema verbrannt? Hat man kein Selbstbewusstsein z.B. als AnniTheDuck zu Youtube zu gehen und zu sagen: „Ich möchte ein Video über Muschifakten machen und es ist nichts verwerfliches daran auch die entsprechenden Begriffe - auch flapsige aus der Jugendsprache - zu verwenden! Und vielleicht sogar anschaulichere Bilder als einen gammeligen Pfirsich“.
Und um der Sache vorzugreifen: „Youtube ist aber privat und keiner zwingt ja Leute da zu veröffentlichen“. Faktisch natürlich richtig, aber naiv zu glauben, dass das der Realität entspricht. Der Wechsel auf andere VoD-Plattformen oder auf eigene Homepages würde denen um die es geht Millionen Abos kosten, weil die Bequemlichkeit und schlicht Gewohnheit alles auf Youtube zu haben eine zu große Rolle spielt. Und neu in das Geschäft zu kommen ohne Youtube? Unmöglich. Youtube ist nicht öffentlich, ist aber so groß und wichtig, dass einen gewissen öffentlichen Charakter hat, wo sich neben Twitch die Moral und Ethik der Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens bilden wird. Deswegen darf man Ansprüche stellen, dass sich nicht alles einer Firmenlogik unterwerfen lässt.
(Exkurs: Das gilt bei der politischen Willensbildung z.B. auch für Facebook und Twitter)
Disclaimer: Das ist keine Studie oder ein journalistischer Aufsatz. Ich habe schlicht nicht die Ressourcen das zu leisten. Aber ich habe mir wirklich eine Woche lang sehr viele Videos der größten und bekanntesten Influencer angeschaut und dadurch ist dieses Bild entstanden.
Ich habe auch ein paar Themen in einen Topf geworfen (Schimpfwörter und Sexualmoral haben zwar Anknüpfungen lassen sich aber auch unterschiedlich betrachten) und natürlich ein globales Unternehmen nur im deutschen Kontext betrachtet. Aber den Aufwand da wirklich eine umfassende und strukturierte Abhandlung drüber zu schreiben kann ich nicht leisten… zeitlich und wahrscheinlich auch nicht handwerklich, einfach weil ich kein gelernter Journalist bin.
Ich wollte nur mal eine Diskussion anregen.
So und hoffentlich kriege ich jetzt diesen Influencer-Sprech wieder aus den Ohren: Realtalk, save, ja Moin, obviously , i bims, Bruder muss los.