„Jackie Brown“ sitzt zwischen den Stühlen. Für die üblichen Tarantinofans zu anspruchsvoll, für die konservativen Kritiker zu cool. „Jackie Brown“ findet man daher weder auf Nerdpartys noch in filmwissenschaftlichen Aufsätzen. „Jackie Brown“ findet man im Herzen derer, die dazwischen stehen. Jener, die weder alt noch jung sind, weder cool noch ernsthaft, weder in der Realität noch im Traum leben. Oder vielleicht besser gerade jeweils beides zugleich tun. Um dem Kind einen Namen zu geben: den Jackie Browns da draußen.
Aber wer ist Jackie Brown? Jackie ist eine Stewardess bei einer lausigen Airline, die ihre besten Jahre theoretisch hinter sich haben müsste und für einen kleinen Extraverdienst mit einem Bein im Geldschmuggel drin steckt. Doch eines Tages wird sie beim Schmuggel erwischt, da irgendwer sie verpfiffen hat. Dem nicht genug, man hat ihr ein Tütchen Kokain untergejubelt, weshalb sie nun eine safte Gefängnisstrafe erwarten darf. Zum Glück holt sie ihr Auftraggeber Ordell Robbie über den Kautionsvermittler Max Cherry aus der Haft heraus, jedoch ist Jackie keineswegs mehr gut auf Ordell zu sprechen. Deshalb beginnt sie mit dem ebenfalls im Leben festgefahrenen Max Rachepläne in Form eines zweifach doppeltem Spiels mit Polizei und Gangstern zu schmieden. Dies scheint nämlich der Einzige, um endlich wieder richtig leben zu können. Dafür müssen beide nur dieses Spiel erst einmal überleben.
Die typischen Tropfen Tarantino sind also unverkennbar da. Süße Rache, starke Frauen, coole Namen. Dazu natürlich noch ein paar Nahaufnahmen von Füßen und Samuel L. motherfucking Jackson. Man bekommt sogar noch mehr, nämlich Größen wie etwa Robert De Niro und Michael Keaton. Weswegen also die eher verhaltene Begeisterung gegenüber „Jackie Brown“?
Wie gesagt setzt sich der Film zwischen die Stühle. Er besitzt all die Coolness und postmoderne Kunstfertigkeit der Klassiker, jedoch gibt es weit weniger Schauwerte. Keine Blutfontänen, keine im genüsslichen Sadismus zelebrierte Folter, ja sogar nur vier Kills, die dann auch noch mehr oder weniger unsichtbar passieren. Was aber dann auch noch jene frustrieren wird, die sich den animalischen Gewaltdurst erhaben fühlen: Die Kunstfiguren sind nicht mehr mit dickem Filzstift überzeichnet. Auch wenn sie Jackie Brown oder Max Cherry heißen, so sind sie gar nicht so außergewöhnlich. Sie sind einfach Stewardessen und Kautionsvermittler in der Midlife Crisis. Cops wie Gangster sind keine harten Sagengestalten, sondern eher traurige Karikaturen, nicht einmal mehr mit der comichaften Überspitzung aus „Pulp Fiction“. Sie tragen Sonnenbrillen mit Halterungsband, bewegen die Lippen beim Lesen und Husten nach der Bong. Alles in allem keine besonders cool wirkende Truppe. Selbst die Sexszenen sind ziemliche trockene Enttäuschungen für alle Beteiligten. Wer kann „Jackie Brown“ also ernsthaft als den besten Tarantino bezeichnen?
Nun, da wären beispielsweise Tarantino selbst sowie Samuel L. Jackson. Die Frage des Warums bleibt aber. Sie lässt sich womöglich irritierenderweise erneut mit dem Sitzen zwischen den Stühlen beantworten. Denn Tarantino gelingt hier gerade durch das Prinzip der Dichotomie und Widersprüchlichkeiten sein coolstes wie anspruchsvollstes Meisterwerk. Das fängt schon damit an, dass das Drehbuch auf einer Buchvorlage von Elmore Leonard basiert und damit das einzige Nicht-Originaldrebuch des Regisseurs ist, er seine DNS aber merklich in die Doppelhelix des Stoffes spinnt. „Jackie Brown“ ist nämlich ein Triumph in einer Art Kunst-Realismus. Einerseits sind sie die Filmhelden und Gangster mit coolen Namen und coolen Outfits, andererseits sind sie eben auch echte, lebendige, plastische Menschen. Tarantino gelingt es, die eloquente Kunstfertigkeit seiner Dialoge und die postmodernistische Reflexionsebene stets wachsam zu erhalten, jedoch nimmt er sich auch Zeit für Ruhepausen, um die Charaktere atmen zu lassen und einfach Mensch zu sein. Indem sie wirkliche Sorgen und Träume bekommen, transzendieren sie von Comicfiguren zu Romancharakteren, ohne dabei ihre knackigen Konturen zu verlieren. Gerade in Jackie selbst gelingt das bravourös, da sie einerseits ihr Alter spürt und sich Sorgen um die ungewisse Zukunft, ihre Karriere und schlichten körperlichen Verfall hat, andererseits modischste Outfits trägt, die sowohl vor femininer Erotik glühen als auch in straightester Souveränität Respekt einflößen, und passenderweise eben auch noch buchstäblich ein doppeltes Spiel spielt. Indem sie mit ungerührtester Selbstverständlichkeit und doch menschlichster Tiefe so viele Widersprüche vereint, macht sie sich nicht nur die wohl verführerischste und faszinierendste Eigenschaft ihres Geschlechts zunutze, sie wird vor allem zu einer der stärksten, sympathischsten und kultigsten Heldinnen der Filmgeschichte.
Ähnliches lässt sich an allen Figuren beobachten, wobei es Tarantino vor allem um Imagebrüche geht. Jacksons Ordell ist bei allem sinistren und selbstsicher Auftreten bloß ein popliger Kleingangster und himmelweit entfernt vom Killer und Bibelzitierer aus „Pulp Fiction“, De Niros Ordell wirkt wie der bewusst verschwiegene Taugenichtsbruder seines Neils aus „Heat“. Durch diese Brüche schwingen sich alle Darsteller nicht in neue Höhen, bekommen aber neue, spannende, witzige Facetten, die ihren Schauspielertypus in bester postmodernen Manier noch dreidimensionaler und vor allem menschlicher machen. Diesen angenehmen menschlichen Feinschliff verpasst Tarantino auch seinem vielleicht größten Qualitätsmerkmal: der Musik. Fast der komplette Soundtrack läuft diegetisch im Film. Die Charaktere singen zwar nicht mit, sie hören ihn aber bewusst und bewegen sogar oft sehnsüchtig die Lippen mit - sie fühlen die Musik genau wie wir. Das ist nicht auf dem gleichen Postmodernismus-Level wie bei Suzukis Killern, die ihre Titelmelodie selbst pfeifen, aber dafür so viel realer, nachvollziehbarer und uns den Charakteren näherbringender. Vielleicht hat „Jackie Brown“ im elaborierten Vergleich nicht die besten Lieder unter der ganzen Filmografie, aber da man sie hier intensiver als überall sonst fühlt, ist es der beste Soundtrack von allen.
Und so macht sich Tarantino genau wie seine Protagonistin den Umstand, zwischen den Dingen zu stehen, zu Nutzen. Das trifft auch auf die Stellung im Werk zu. „Jackie Brown“ hat die zitier- und verweiswütige Coolness, das einzigartige Lebensgefühl des frühen Tarantinokinos, welches später in „Once Upon a Time in Hollywood“ dankenswerterweise zurückkehrt, hat aber gleichwohl die ausgeklügelte Raffinesse in den langen szenischen Inszenierungen der späteren Werke. „Jackie Brown“ sollte dahingehend in jedem Lehrbuch vorkommen. Aber leider wird Tarantino gerade dann verkannt, wenn er am reifsten ist, wenn er, wie man fast sagen möchte, am meisten der Mensch Quentin Tarantino ist. Denn trotz allen Blut, Schweiß und Füßen hat man Tarantino nie mehr wieder so gefühlt wie hier.