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Zwei Tage nach dem Vorfall an der Rezeption des Westin-Hotels, am Mittwoch, verleiht Außenminister Heiko Maas im Berliner Rathaus den Shimon-Peres-Preis für die deutsch-israelische Zusammenarbeit. Maas verlässt sein Manuskript und redet frei: »Ich bin es wirklich leid. Ich weiß nicht, wann ich die letzte Rede zu Israel gehalten habe oder zu jüdischem Leben in Deutschland, die nicht kurz vorher noch mal verändert werden musste, weil irgendwo in Deutschland irgendetwas passiert ist.« Es reiche jetzt wirklich. Immer wieder geschähen Dinge, die man selbst nicht für vorstellbar gehalten habe. »Dass von jemandem verlangt wird, dass er seine Kette abnimmt, ist jetzt noch mal neu dazugekommen.«
Damit hat der Vorfall sein Bundessiegel bekommen, das Wasserzeichen der Faktizität. Einige Hundert Leipziger protestieren vor dem Westin gegen Antisemitismus, gemeinsam mit Hotelmitarbeitern, die ein Transparent vor sich halten, gefunden in einem Lagerraum, von einer früheren Veranstaltung. Man sieht die Fahne Israels und den islamischen Halbmond.
Eine Geste der Hilflosigkeit. Ofarim ist Münchner.
CNN berichtet, alle berichten, auch der SPIEGEL kommentiert: »Alles sieht nach einer der antisemitischen Alltagspöbeleien aus.« Sachsens Justizministerin Katja Meier (Bündnis 90/Die Grünen) twittert: »Dieser offene #Antisemitismus im Hotel #Westin in #Leipzig ist unsäglich und unerträglich. Das muss Konsequenzen haben«. Jedes # ein Schandmal im Netz. Reflex folgt auf Reflex, eine Kettenreaktion.
Niemand fragt, ob es plausibel ist, dass ein Rezeptionsmitarbeiter, geschult im Umgang auch mit schwierigen Menschen, einen Hotelgast beleidigt. Niemand wundert sich darüber, dass Ofarim nicht nachfragt, dass er nicht den Vorgesetzten des Mannes verlangt, sondern stattdessen nach draußen läuft, um ein Video zu drehen.
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Man springt einem Opfer zur Seite, das ist die richtige Reaktion. Schwierig wird es, wenn etwas aus dem Stand-by-Modus anspringt, was die Schriftstellerin Deborah Feldman »Empörungsbusiness« nennt: »In keinem anderen Land gibt es das.« Empörung, spontan geäußerte zumal, will klare Verhältnisse. Wobei natürlich fast jeder weiß, dass es eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse höchstens im Kino gibt, im Leben aber kaum. Das »Empörungsbusiness«, das Feldman beobachtet, ist oft auch die Weigerung, komplexe Themen angemessen komplex zu bedenken.
»Oft sind es Konvertiten, die am eifrigsten sind, sobald irgendetwas Antisemitisches passiert oder passiert sein soll«, sagt Feldman. »Sie schlüpfen in die Lücke, die die sogenannten wahren Juden in dem Sprachrohrgeschäft hinterlassen, weil sie eben ganz normale Leben führen wollen und keine Lust auf ständiges Posaunen haben.«
Die 35-jährige, in Berlin lebende Autorin hat über ihre Selbstbefreiung aus der Welt der Strenggläubigen mehrere Bestseller geschrieben (»Unorthodox«). Auf Moralismen reagiert sie empfindlich.
»Es wird einem als Jude ziemlich eingetrichtert, vor Antisemitismus sehr auf der Hut zu sein«, sagt Feldman. »Da fragt man sich bei vielen unangenehmen Situationen, wie sie von allen erlebt werden können, ob diese Unannehmlichkeit doch möglicherweise an dem Jüdischsein liegen könnte. Aber wie Gil seine Geschichte erzählt hat, das schien mir auf Anhieb merkwürdig. So ein Hotel kann sich solch ein Verhalten an der Rezeption nicht leisten.«
Dann spricht sie von dem Groll, den andere Minderheiten empfinden müssten, wenn deren alltäglichen Kränkungen mit weniger Empörung rechnen könnten. »Ich werde manchmal als Frau, als Amerikanerin, als alleinerziehende Mutter benachteiligt. Und vielleicht auch als Jüdin«, sagt Deborah Feldman. Aber das sei eigentlich banal, »neben dem, was etwa People of Color in ihrem Alltag erleben müssen.«
Nachdem die Videos der Überwachungsanlage des Westin publik wurden und damit ein erster Zweifel in der Welt war, änderte sich der Ton in den Internetforen auffällig. Plötzlich war vom »C-Promi« die Rede, von PR-Manövern und »persönlichem Machthunger« eines »talentfreien« Musikers. Er habe sich seine Opferrolle ebenso umgehängt wie diesen Modeschmuck, den Davidstern. Es triefte in den Kommentaren von Schadenfreude und Häme, von Na-da-sehen-wir’s-ja-wieder und Hass. Und keinem schien aufzufallen, dass diese Haltung belegt, was Ofarim anprangert: einen offenen Antisemitismus.
Im ICE von Berlin nach Leipzig-Hauptbahnhof sagt der Sozialpsychologe Oliver Decker einen Satz, den man lieber nicht hören würde. »Ich konnte es glauben. Es ist vorstellbar.« Er spricht über die Szene an der Rezeption, hält es für möglich, dass in einem First-Class-Business-Hotel so etwas passieren kann.
»Antisemitismus ist wie eine dunkle Ressource in der Gesellschaft, aus der man sich immer wieder bedient.« Decker ist Mitverfasser der sogenannten Leipziger Mitte-Studien zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland. Er leitet das Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung an der Leipziger Universität.
Natürlich sei der Antisemitismus kein Code mehr, mit dem sich Milieus zu erkennen geben wie in der Weimarer Zeit, sagt er. Als Bekenntnis. »Aber er droht wieder dazu zu werden. Antisemitismus äußert sich im Reden über die Eliten, über dunkle Mächte im Hintergrund, über die Banken, über George Soros und andere. Wenn Querdenker über die Impfungen als Verunreinigung des Volkes sprechen, dann schwingt darin der uralte Topos der Brunnenvergiftung durch die Juden mit.«
Der Antisemitismus war keine Erfindung Hitlers, die mit ihm untergegangen wäre. Das Potenzial, sagt Decker, sei größer als die zehn Prozent der Befragten, die ihren Hass auf alles Jüdische offen äußern. Nach der Finanzkrise sei der Wert massiv angestiegen und heute besonders in Ostdeutschland hoch geblieben. Die Zahl der gemeldeten antisemitischen Straftaten ist von 2019 auf 2020 um 15,7 Prozent auf 2351 Fälle gestiegen, so das BKA.
Dabei, so Decker, müsse Antisemitismus sich gar nicht immer nur in Antipathien gegenüber Jüdinnen und Juden äußern. Es ist subtiler: »Da ist das Gefühl, dass sie irgendwie anders, etwas Besonderes sind. Eine Differenzerfahrung. Man spricht ihnen Reichtum, Macht, Schlauheit zu. Das ist othering, eine beständige Befremdung.«
Decker erzählt von Elternabenden, wo jüdischen Eltern in bester Absicht gesagt würde, sie brauchten sich ja keine Gedanken über die Kosten der Klassenreise zu machen, sie könnten sich’s doch gewiss leisten.
Es ist ein Dilemma nicht nur der Juden in Leipzig, das Normalitätsparadox. Die meisten wollen ganz normal leben und vor allem nicht ständig gefragt werden: und du, als Jude…? Aber in Deutschland geht das nicht. Als Jude steht man unter dem Generalverdacht der Zuständigkeit, sobald in diesem Land Empörung, Aufarbeitung der Geschichte, Gedenken gefragt ist. Manchen geht es auf die Nerven. Andere nehmen die Rolle an.