NaNoWriMo

Gerade die 19k geschafft. Schreibe seit Februar täglich und komme gut voran. Bald die 10k dieses Jahr geschrieben. Das regelmäßige schreiben hilft auch dabei in der eigenen Geschichte drin zu stecken und nichts zu vergessen. Wie läuft es bei euch?

Letzter Stand hier im Thread:

Was das Zeichenlimit pro Post hergibt:

Auch beim Striegeln regte sie sich keinen Deut und so bürstete ich ihr behutsam gegen das Fell. Die Ruhe tat erstaunlich gut. Der Lärm der Straße drang nur gedämpft in den Stall und ich hatte irgendwie das Bedürfnis mit Philippa über die letzten Ereignisse zu sprechen. Wolfgang war nett, aber er ich konnte ihn bisher nicht genau einschätzen. Das Pferd sah mich an als würde es bereits ohne jegliche Worte spüren was nicht mit mir stimmte.
„Hier ist das Waschwasser“, ertönte es plötzlich hinter mir, dass ich erschrocken zusammenzuckte und das Pferd daraufhin den Kopf schüttelte und auf der Stelle trabte. Ich streichelte dem Pferd über den Rücken und drehte mich seitlich zum Stallburschen der gerade den Kopf bückte, hinter der Holzwand verschwand und unter einem dumpfen Ton einen Behälter vor dem Gatter abstellte. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er mich ausdruckslos an, dass es mir schnell unangenehm wurde.
„Danke…“, entgegnete ich perplex. Der stoische Bursche reagierte nicht und meinte bloß knapp, er würde nun das Essen bringen und verschwand sogleich wieder im Innenhof.
Regungslos betrachtete ich weiter die Stelle an der der Junge gerade noch stand und versuchte zu verstehen was der Blick von ihm zu bedeuten hatte. Dann stieß mich das Pferd mit ihrer Nase an und weckte mich aus meiner Starre. Ich wechselte die Seite und striegelte abermals das Fell. So würde ich den Knecht das nächste Mal wenigstens sehen wenn er wiederkäme.
Der Junge war von meinem Anblick weder angewidert, noch überrascht gewesen, was ich mir nicht erklären konnte. Wie es ihm wohl hier in der Stadt erging. Ich kannte bloß das Leben als Bauer. Vielleicht war er von seiner Arbeit einfach sehr müde und regte deshalb keinen Muskel im Gesicht. Wie ich so in den Gedanken wieder versank, wechselte ich vom Striegel zur Kardätsche um das Fell wieder glatt zu streichen.
Philippa hob den Kopf abwechselnd langsam hoch und runter als würde sie zustimmend nicken. Zum Abschluss klopfte ich ihr bestätigend auf die Brust, ging vorne an ihr vorbei und tätschelte den Kopf. Dankend streckte sie den Hals in meine offene Handfläche und ließ mich aus dem Gatter passieren. Daneben stand ein kleiner Zuber mit Wasser gefüllt und einem Lappen über einen der beiden Tragegriffe gelegt.
Ich konnte nicht genau sagen ob der Zuber so dreckig war oder das Wasser darin, aber es würde reichen. Es stank wenigstens nicht.
Ich ging in die Knie, nahm das zerschlissene Tuch in die Hand und tauchte es im kalten Wasser unter. Da kam gerade der Stallbursche zurück mit einer Schale in der Brot lag.
„Suppe“, sprach er mich ohne Umschweife an, hielt das Essen kurz etwas höher um darauf zu weisen und stellte es auf einem Schemel ab, ehe er ohne weitere Äußerung auf dem Absatz kehrtmachte und abermals seiner Wege ging.
„Danke!“, rief ich noch hinterher, doch er reagierte hierauf nicht weiter. Ich kam mir vor wie in der falschen Welt. Ich schien für die Welt bereits gestorben zu sein, zusammen mit dem Rest meiner Familie.
Langsam zog ich das triefende Tuch aus dem Bottich, wrang es aus und sah den Tropfen dabei zu wie sie auf der unruhigen Wasseroberfläche aufschlugen. Nach der Wäsche würde meine Umwelt hoffentlich wieder menschlicher auf mich reagieren, dachte ich und wusch mir den Dreck aus dem Gesicht. Der Lappen war voller Erde, kleinen Grashalmen und einem Blatt, als ich ihn abermals untertauschte und mir damit im Wasser die Hände säuberte. Es fühlte sich trotz der Kälte der Flüssigkeit sehr gut an. Anders als heute Morgen, als der Körper von der Nässe aufgezehrt worden war und die Energie aus jedem Muskel ausgewaschen hatte, statt neue zu spenden. Ich krempelte mir die Ärmel hoch und befreite meine Arme vom Schmutz. Erst leicht, dann rieb ich immer fester mit dem Tuch über meine vom Dreck verkrustete Haut.
Diese verdammten Bastarde werden für das bezahlen, was sie mir und meiner Familie angetan haben, dachte ich und merkte wie sich abermals ein Kloß in meinem Hals bildete.
Philippa ragte ihren Kopf über das Gatter und blies durch ihre Nüstern. Das Tier schien wirklich alles zu bemerken. Ich lachte kurz und warf den schlammigen Lappen in den Zuber, dass es spritzte. Einen Moment hielt ich inne, dann richtete ich mich auf und ging zur Schale mit dem Essen. Mein Magen knurrte sogleich. Das Brot war in die Suppe versenkt worden, zusammen mit einem Löffel. Zu meiner Überraschung schmeckte sie erstaunlich gut, andererseits war meinem Mund und Magen gerade wahrscheinlich alles recht was auch nur entfernt nach Essen aussah und roch.
Unter großen Bissen riss ich Stücke aus dem Brot heraus, das ich mit der linken Hand hielt. Ich merkte, wie sich meine Finger immer weiter in den Laib drückten und versuchte es so sanft wie möglich zu halten, doch es gelang mir nicht so recht. Schnell leerte sich die Schale und ich hätte locker Nachschlag vertragen können, doch ich hatte weder die Mittel noch die Zeit in Ruhe zu essen. Ich sollte mich schnell fertig waschen ehe Wolfgang zurückkäme, dachte ich, stellte die fein säuberlich geleerte Suppenschale zurück auf den Schemel und ging zurück zum Zuber an dem mich Philippa bereits erwartete.
Ich zog meine Bundschuhe aus und sah einige Blasen an meinen Füßen. Die Flucht war nicht nur seelisch nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Vorsichtig ließ ich das Wasser vom Lappen auf meine Wunden tropfen. Es war kein angenehmes Gefühl und brannte entsetzlich, dass sich meine Mundwinkel verzogen, doch es sollte sich nicht entzünden.
Bedächtig wusch ich mit dem Lappen um die lädierten Stellen herum und wusch den Schweiß und Dreck von meiner rauen Haut.
„Sollte fürs erste reichen“, dachte ich, wrang das Tuch aus und legte es über den Rand des Zubers.
Langsam zog ich meine Schuhe wieder an, richtete mich auf und ging zu Philippa hinüber.
Sie hatte mich keinen Augenblick aus den Augen gelassen, als sie ihren Kopf zur Seite richtete und an mir vorbei zu sehen schien. Ich drehte mich um und sah abermals den Knecht kommen, wie er fragend auf den Zuber deutete und davor stehen blieb.
„Danke, ich bin fertig. Sag, wie ist dein Name?“, wollte ich wissen, ehe er wieder so schnell verschwinden würde wie er kam.
„Noah“, war seine knappe Antwort und griff bereits nach den Tragegriffen.
„Wie der aus der Bibel“, fügte ich hinzu, doch er nickte nur bestätigend und hob den Bottich an.
„Nicht sehr gesprächig, wie?“, warf ich ihm nun offen vor, doch er schüttelte nur den Kopf, dass ich mir leicht veräppelt vorkam, doch seine Miene veränderte sich nicht, als er sich umdrehte und wieder ging.
Ich warf Philippa einen fragenden Blick zu ob sie aus dem Jungen schlau wurde, doch sie hob bloß ihren Kopf zurück in ihre Kammer und hatte das Interesse verloren. Vielleicht sollte ich mir darüber auch nicht zu viele Gedanken machen, überlegte ich und schritt aus dem Stall zurück in den Innenhof. Die Sonne schien auf meine noch nassen Arme und wärmte meine Haut. Insgesamt war es jedoch sehr schattig in dem schmalen Hof, der ringsherum zweistöckig eingerahmt war. Die Fensterläden waren zum Großteil zugezogen, hier und da standen sie offen und es wehte Wäsche, die über die Brüstungen gelegt waren. An einer Öffnung im Obergeschoss konnte ich gerade noch eine Gestalt erkennen, als diese sofort verschwand, als hätte ich sie dabei ertappt wie sie mich beobachtet hatte. Eine Weile genoss ich die wärmenden Strahlen, während ich das Zimmer im Auge behielt, doch die Person ließ sich nicht mehr blicken.
„Das hier ist Wilhelm“, hörte ich Wolfgang sagen, der gerade durch die Unterführung des Gasthauses geschritten kam, durch die ich mit ihm auch gegangen war, zusammen mit einem langen, hageren Mann in vornehmer Kleidung an seiner Seite.
„Der Waise“, sprach er mich an und musterte zu meiner Überraschung nicht meine Kleidung sondern mein Gesicht, was mir tatsächlich schnell unangenehmer war, als könnte er so in meinen Gedanken lesen, dass ich sie gestohlen hatte.
„Der Bauernjunge, Herr. Ich bin nicht weise“, entgegnete ich berichtigend und merkte sogleich wie Wolfgang den Mund verzog als müsste er lachen allerdings versuchte einen mitleidigen Eindruck zu machen.
„Das Waisenkind“, korrigierte der Recke ruhig und glitt mit seinem Blick an mir herunter. Als er wieder aufsah nickte ich verlegen und er fügte hinzu, „ich bin Endres von Arkranz und habe von meinem Knappen Wolfgang von Giebelberg erfahren in welcher Notlage du dich befindest.“
Ich wollte Wolfgang ansehen wie er reagierte, jedoch schien es mir unhöflich den Adligen nicht in die Augen zu sehen, während er mit mir sprach und schluckte stattdessen, da der Ritter nicht weiter redete und ich nicht wusste ob ich mich wieder äußern sollte.
„Er sprach auch von deiner Schwester, die hier in Alphofen im Kerker sitzen solle“ fuhr er endlich fort, worauf ich abermals nickte.
„Ja, Herr von Arkranz“, bestätigte ich und wartete kurz ab, ob er darauf etwas sagen wollte, doch er schwieg. Ob der Stallbursche wohl sein Neffe war, dachte ich kurz und sah Wolfgang an, der kaum merklich nickte. Seine Mimik war ernst.
„Sie wird für den Mord an meiner Familie festgehalten“, entgegnete ich weiter und musste mich räuspern. Der Kloß im Hals fing wieder an zu wachsen wie ein Geschwür.
„Aber sie hat deine Familie nicht ermordet“, berichtigte mich Endres, der nun seinen Kopf zum Fenster drehte an dem ich meinte eine Person gesehen zu haben.
„Nein, es waren zwei Männer die abends unseren Hof stürmten und niederbrannten, Herr Ritter“, ergänzte ich und sah ebenfalls zum Fenster hinüber, an dem nun eine Frau stand, die im Begriff war Wäsche auszuschlagen.
„Lass mich kurz nach Philippa sehen und dort weiterreden“, reagierte Endres kühl und schritt ohne zu zögern in den Stall hinein. Wolfgang folgte ihm auf dem Fuß und ich hinterher.
„Im Gasthaus kann niemand bestätigen, etwas von einem solchen Vorfall gehört zu haben, aber wir werden uns an den Baron wenden, er wird wissen wo deine Schwester ist und hoffentlich auch wo die Männer sind, die sie gebracht haben“, erklärte Endres und streichelte die Stirn des Pferdes, das sofort wieder den Kopf über das Gatter gestreckt hatte.
„Jetzt?“, platzte es aus mir heraus, dass Wolfgang mich mit heruntergezogenen Augenbrauen zurechtwies.
„Ja, jetzt, Wilhelm“ bejahte der Ritter zu meiner Verwunderung und ich musste unweigerlich grinsen.
„Nach der Botschaft, die Wolfgang mir gebracht hat, muss ich eh mit dem Baron reden. Es bietet sich also an“, erklärte er, wischte Philippa eine Strähne aus dem Gesicht und begann seine ledernen Handschuhe anzuziehen.
„Komme ich mit?“, fragte ich zaghaft, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass der Baron jeden beliebigen Bauern in Empfang nahm.
„Natürlich, Junge. Du musst ihm die Geschehnisse schildern und die Männer beschreiben die euch überfallen haben“, erwiderte von Arkranz und ging wieder voran, den Stall hinaus und Richtung Straße. Wolfgang blieb diesmal etwas auf Abstand und ging neben mir her.
„Ich schätze deinen Respekt vor meinem Meister, doch sei dir bewusst in welche Gesellschaft du dich nun begibst junger Bauer“, redete er mich leise an und beugte seinen Kopf leicht zu meiner Seite.
„Ja, Herr“, antwortete ich gehorsam, auch wenn ich nicht wusste was jetzt auf mich zukam. Wie es im Haus eines Barons wohl aussah. Ob die Wände wohl vergoldet waren? Und das Besteck? Und ein weiches Federbett? Die Gedanken in meinem Kopf fingen an zu kreisen und bauschten sich immer weiter mit Prunk auf, den ich mir vorzustellen vermochte, als mich Wolfgang zurück in die Realität rief.
„Es ist nicht weit von hier, bleib dicht bei mir und sprich nur, wenn man dich anredet“, worauf ich direkt antworten wollte, doch dann überlegte, ob das schon ab sofort galt und ich meinen offenen Mund stattdessen wieder schloss.
„Hast du verstanden?“, fügte Wolfgang hinzu und sah mich prüfend an.
„Ja, Herr, natürlich“, bestätigte ich und war trotz der Zurechtweisung froh darüber, dass Wolfgang mit mir auf offener Straße nun auch direkt sprach. Endres war einige Schritte vor uns und ging zielstrebig in der Mitte der Straße voraus. Die Menschen die seinen Weg kreuzten, machten einen verhältnismäßig großen Bogen um ihn herum, dafür, dass sie ansonsten recht direkt aneinander vorbeigingen, wenn sich ihre Wege kreuzten, dass man meinen sollte, sie stießen gleich zusammen. Generell war das Treiben auf der breiten Hauptstraße sehr unübersichtlich für mich. Es war auch deswegen unangenehm für mich, weil ich fürchtete in jedem Gesicht plötzlich die Mörder meiner Eltern zu erblicken. Lydia würde ich hier leider nicht finden, so sehr ich es mir auch wünschte.
Schließlich bogen wir auf einen Weg ab, an dessen Seiten auch Wachen positioniert waren. Der Weg selbst führte einen leichten Hang hinauf, an dessen Ende hinter einer von groben Steinen aufgeschichteten Mauer ein imposanter Holzbau in die Höhe wuchs. Das Tor in der Mauer war mit viel Eisen beschlagen und ebenfalls bewacht. Solch einen Schutz hätten wir auch gebrauchen können, dachte ich und kaute nervös auf meiner spröde werdenden Unterlippe.

Kapitel 4

Am Tor angelangt hatte Endres bereits mit den Wachen gesprochen und diese durch einen Ruf über die Schulter das Tor von innen öffnen lassen, das sich gerade so weit öffnete, dass ein Mann dazwischen hindurchgehen konnte.
Ich sah mich noch kurz um und konnte ein Stück weit über die Dächer des Ortes blicken, die sich spitz und in alle möglichen Richtungen zeigend nach oben erstreckten. Durch den Rauch aus den Schornsteinen wirkte es stellenweise so, als würde Nebel über die Häuser hinweg ziehen.
Wolfgang schritt als nächstes durch die Öffnung im Tor und ich sah den beiden Wachen abwechselnd in die Augen. Sie musterten mich genau von Kopf bis Fuß mit wachen Blicken, rührten sich ansonsten aber nicht weiter und so ging ich auch in den Innenhof des Anwesens, der, dafür, dass er mitten in der Stadt lag, eine erstaunliche Weite besaß. Ein eigener Stall für Vieh und Pferd, ein Schießstand für Pfeil und Bogen und andere kleinere Gebäude ohne augenscheinliche Nutzung neben dem offensichtlichen Haupthaus. Das Erdgeschoss war komplett aus grob aber ordentlich geschichtetem Stein errichtet worden, das Geschoss darüber war noch feiner bearbeitet und auch die Fenster waren größer als unten. Darüber gab es noch eine Etage aus Fachwerk, dass schließlich von einem großen Dach gekrönt wurde. Das Gebäude war nicht aus Gold, wie ich irrtümlich vermutet hatte, aber bei der Größe wäre das wohl selbst für einen Baron zu teuer schätzte ich und folgte den beiden weiter durch die Tür des Hauses ins Innere. Es roch sehr angenehm nach gebratenem Fleisch und Gewürzen, dass mir schlagartig das Wasser im Mund zusammenlief. Zusammen stapften wir eine steinerne Treppe hinauf ins nächste Stockwerk und blieben neben einer zweiflügligen Tür stehen, wovor eine Person stand die wohl als Diener unterstellt war.
„Endres von Arkranz in Begleitung seiner Untergebenen. Ich wünsche mit Baron Ullrych von Falkenstein zu Haintal sprechen“, redete der Recke den Diener an, der ihn und seine Begleitung aufmerksam musterte.
„Jawohl, Ritter von Arkranz, ich werde es sogleich meinem Herren unterrichten“, verbeugte sich der kleine Herr, dass er Endres nur noch bis zum Bauchnabel ging, öffnete beide Flügel der Tür und schwang sie gekonnt soweit auf, dass sie von selbst nach der vollständigen Öffnung zum Stillstand kamen. Ein Speisesaal tat sich auf, der mit großen Fenstern ausgestattet war, die viel Licht in den tiefen Raum warfen. Selbst dieser Raum war größer als meine Dorfkirche dachte ich. Und auch heller.
Nach zwei langen parallelen Reihen von Tischen, die zu beiden Seiten mit aufwendig geschnitzten Stühlen bestückt waren, gab es am Ende des Saales noch einen Tisch dazwischen, der mit reichlich Essen ausgestattet war, und so eine Hufeisenform bildeten. Mein Magen knurrte und ich hielt mir erschrocken den Bauch, doch keiner schenkte mir Beachtung.
Ein Mann saß an der gedeckten Tafel in der Mitte. Er besaß einen prächtigen Vollbart, hatte auf dem Kopf allerdings nicht mehr den besten Haarwuchs und bereits eine sehr hohe Stirn die sich in Falten legte als er zu uns aufsah. Seine Kleidung war außergewöhnlich. So etwas hatte ich zuvor noch nicht gesehen. Er trug einen roten Mantel mit allerlei Zierrat in blau, der sich verschnörkelt darüber schlängelte. Ich hätte den Stoff am liebsten direkt angefasst, aber das wäre wohl einer der Fälle, in denen Wolfgang an die Decke gehen würde.
„Herr Baron von Falkenstein zu Haintal, der werte Ritter Endres von Arkranz wünscht mit euch zu sprechen“, kündigte der Diener den Besuch an. Ich verstand nicht, warum sie sich nicht einfach selbst gegenseitig grüßten aber was verstand ich schon von Gepflogenheiten des Adels.
„Bitte, Endres von Arkranz, was führt euch zu mir?“, nickte der Baron dem Recken zu ohne von seinem breiten Stuhl aufzustehen. Der Ritter ging unterdessen weiter in den Saal zwischen die Tische bis er in der Mitte des Raumes stand. Wolfgang folgte ihm, blieb allerdings links neben dem Diener des Barons stehen, der noch am Anfang der rechten Tischreihe stand und die Arme hinter dem Rücken hielt. Ich stellte mich inmitten der beiden und wechselte meinen Blick nervös zwischen Wolfgang und dem Diener. Sie sahen jedoch zum Baron hinüber, der einen Schluck aus einem goldenen Kelch nahm.
„Mein Knappe Wolfgang von Giebelberg“, begann Endres zu erklären und wies mit seiner offenen Hand und einer seitlichen Drehung nach hinten, „hat mich darüber informiert, dass Burkhart von Erhau die Erträge seiner beiden Kupferminen gerne hier bei euch in Alphofen zusammentragen und einlösen möchte.“
Endres wollte wohl erst das geschäftliche klären, bevor er mir helfen würde. Eine andere Wahl hatte ich eh nicht als zu warten bis er mich ansprechen würde.
„Angenehme Neuigkeiten, von Arkranz. Lasst uns die Einzelheiten doch bei einem Glas Wein besprechen“, besserte sich die Miene des Barons schlagartig und wies auf einen Stuhl neben sich. Der Diener nickte abrupt aus seiner stoischen Haltung heraus, dass ich mich erschrak und Wolfgang mir zuflüsterte.
„Das kann eine Weile dauern, wir warten besser draußen, bis der Diener uns holt“, unterwies er mich, doch das behagte mir gar nicht. Ich wollte Lydia so schnell wie möglich aus dem verdammten Kerker holen, stattdessen wollte der Baron lieber mit dem Ritter über Geld reden.
Ich seufzte, dass Wolfgang mir einen mitleidigen Blick zu warf, legte eine Hand auf meine Schulter und drückte mich sanft zurück in den Flur. Ich drehte mich noch kurz zu Endres um, der gerade neben dem Baron Platz nahm, als der Diener auch schon die beiden Türen vor unserer Nase zumachte.
„Und was machen wir jetzt, Herr?“, stand ich ratlos vor dem Knappen, der gedankenversunken auf eine Sitzbank neben der Tür starrte.
„Wolfgang?“, sprach ich ihn abermals mit seinem Namen an, was ihn endlich aus seiner Abwesenheit weckte.
„Bitte? Wilhelm, wir machen erst mal gar nichts, setz dich doch“, murmelte er. Nichts? Das war etwas, was einem Bauern fremd war. Es gab immer etwas zu tun, dachte ich, als die Tür des Saales sich wieder knarzend öffnete und wir beide verwundert in das gelangweilte Gesicht des Dieners blickten.
„Der Baron und Ritter wünschen ebenfalls eure Anwesenheit, Herr von Giebelberg, um die Planung zu vernehmen“, lud er den Knappen ein, der grinsend nickte. Ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, als er beiläufig mir noch mitteilte zu warten.
Wieder kaute ich auf meiner Unterlippe herum und beobachtete, wie die Tür aufs Neue ins Schloss fiel. Ich biss einen Hautfetzen ab und schmeckte Blut. Wie lange wird das jetzt dauern? Hätte man mir nicht wenigstens etwas vom guten Essen anbieten können? Mein Magen fühlte sich bei dem Geruch in der Luft noch leerer an als vor der Mahlzeit am Gasthaus.
„Ich kann hier nicht nichts tun“, murmelte ich und sah auf die Holzbank. Dann warf ich einen Blick die Stufen der Treppe hinunter. Wenn der Kerker ebenfalls hier lag, konnte ich Lydia vielleicht kurz sehen. Ich wollte nicht herumschnüffeln oder die Gastfreundschaft missbrauchen, aber sich kurz umzusehen war sicherlich kein Verbrechen, dachte ich. Wenn mich jemand fände würde ich einfach behaupten ich suchte nach dem Örtchen um mich zu erleichtern.
Nervös stapfte ich die Stufen Schritt für Schritt hinunter und versuchte dabei so leise wie möglich zu sein, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, ich würde durch das Anwesen schleichen. Soweit konnte ich niemanden erspähen und so öffnete ich die nächste Tür einen Spalt weit, die direkt neben der Treppe lag. Dahinter konnte ich einen Raum ausmachen der mit allerhand Töpfen, Geschirr und diversen Lebensmitteln ausgestattet war. Die große steinerne Feuerstelle in der Mitte besaß einen komplett schwarz verrußten Kamin. Das Sichtfeld, das sich mir für die Küche erschloss, lies keine Person im Raum erkennen, wodurch ich die Tür langsam wieder zu zog und mich weiter umsah. Hinter der nächsten Tür war nichts zu hören, also schaute ich auch hier hindurch, eröffnete mir allerdings nur einen langen Korridor mit noch mehr Türen an den Seiten. Den würde ich wohl begehen, wenn ich die anderen Zimmer durch hätte in der Eingangshalle, überlegte ich und ging zur nächsten Tür um zu lauschen.
Es waren Stimmen zu hören, daher drückte ich die Klinke gar nicht erst herunter und wollte gerade weitergehen als mir ein Schauer über den Rücken lief und ich wie angewurzelt stehen blieb.
Ich konnte nicht verstehen was gesagt wurde, aber die Stimme kam mir unangenehm bekannt vor. Halluzinierte ich? Vorsichtig griff ich nach der Klinke. Sie kam mir sehr kalt vor, während mir immer wärmer wurde und ich tief durchatmen musste. So langsam wie möglich drückte ich den Griff hinunter und öffnete die Tür nur soweit, dass ich die Stimmen besser verstehen konnte.
„… für das Geld kaufe ich mir so teure Stoffe wie der Baron sie trägt und verkaufe sie andernorts teurer“, hörte ich nun deutlich die Stimme eines Mannes, die eindeutig zum Mörder gehörte, der mich gestern angegriffen und verfolgt hatte. Fassungslos versuchte ich zu verstehen was hier vor sich ging. Kein klarer Gedanke kam zustande.
„Du willst fahrender Händler werden? Lächerlich! Aber mir vorwerfen es zu versaufen sei eine bescheuerte Idee“, spottete der andere. Beide lachten, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten.
Was machten sie hier? Es konnte kein Zufall sein. Oder doch? Ich konnte nicht glauben was ich hörte und drückte mit meinen Fingerkuppen gegen das Holz der Tür um den Spalt zu vergrößern. Jedes noch so leise Knarzen der Tür ließ mein Herz rasen, doch ich traute meinen Sinnen nicht mehr und wollte mit meinen eigenen Augen sehen wer sich dort unterhielt.
„Der soll endlich mal unsere Besoldung rausrücken. Keinen Bock hier noch einen Tag länger zu schimmeln. Die Küchenmagd bringt uns nicht mal Bier“, schimpfte der erste, der mich durch den Wald gejagt hatte. Die Öffnung war fast groß genug um den Kopf durchzustecken.
„Der soll sich echt mal nicht so haben. Konnte ja keiner ahnen, dass der Bauernhof abfackelt. Das war nicht Teil der Vereinbarung gewesen“, pflichtete der zweite bei.
„Naja, der Junge sollte auch sterben, aber was will der jetzt schon noch groß machen“, warf der erste ein. Ich versteinerte. Das konnte einfach nicht wahr sein. War ich direkt in die Falle getappt? Was jetzt?
„Und du hast es Gott verdammt nochmal verkackt. Wehe ich kriege wegen deinem Patzer keine Kohle“, klagte der zweite und schlug wohl mit der Hand auf den Tisch, da es einen Krach machte und ich erschrocken zusammen fuhr.
„Halt die Klappe, wenn ich dir nicht geholfen hätte, wärst du zu Brei geschlagen worden“, wies der andere energisch zurück. Langsam zog ich meine zitternde Hand zurück vom Türflügel und ging einen Schritt rückwärts. Meine Augen tränten und ich presste die spröden Lippen aufeinander.
„Ruhig bleiben… Bleib ruhig. Was tun?“, zermarterte ich mir mein Hirn und wischte mit meinem Ärmel über das feuchte Gesicht. Ich sollte nichts überstürzen. Ich würde sie am liebsten auf der Stelle mit all meiner Wut ersticken, die meinen Hals brennen ließ, doch ich hatte alleine ohne Waffen gegen die beiden keine Chance. Zaghaft ging ich zurück in Richtung des Aufstiegs ins Obergeschoss zum Speisesaal und ließ die Tür einfach offen stehen. Kein Risiko eingehen. Wenn sie mich noch nicht bemerkt hatten, sollte es wohl am besten erst einmal auch so bleiben, dachte ich.
Wolfgang und Endres mussten gewarnt werden. Oder konnte man ihnen überhaupt noch trauen? Meine Beine waren ungemein schwer, als ich sie die Stufen hinauf schleppte und ich konnte meine Tränen einfach nicht stoppen.
Oben angekommen lief ich unruhig vor der Tür des Speisesaals hin und her und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Der Baron hatte die zwei bezahlt uns zu töten. Aber warum? Wir hatten mit dem Baron fast nichts zu tun gehabt. Nicht mehr als andere Bauern in der Gegend. Die Verzweiflung wich einer enormen Wut und ich ballte meine Fäuste, dass sich die Knöchel weiß verfärbten. Er musste sterben. Es gab keine Erklärung. So absurd es auch war, dass ich weiter überlegte, wieso er uns das angetan hatte, wollte ich doch begreifen aus welchen Gründen jemand so etwas tat. Ich weinte nicht mehr, doch ich hätte am liebsten losgeschrien und den Speisesaal gestürmt, doch wenn jetzt eine Sache zählte, dann mir nichts anmerken zu lassen. Ich ging zur Bank und setzte mich hastig hin. Während ich mit meinem Oberkörper auf und ab wippte und den Fußboden vor mir anstarrte, als könnte ich direkt hindurchsehen in die Abgründe des Anwesens, versuchte ich meine nächsten Schritte zu planen.
Wenn der Baron erführe warum ich hier war, würde er mich wohl direkt in den Kerker zu Lydia werfen. Meine Einzige Chance war es Wolfgang und Endres davon zu überzeugen, dass der Baron verantwortlich war, doch ich war ratlos wie ich das anstellen sollte. Er stritt alles sicher ab, daher musste ich versuchen unter vier Augen mit Wolfgang oder Endres zu sprechen und den Baron im Glauben lassen, ich wüsste nicht Bescheid. Fliehen konnte ich jetzt auch nicht mehr. Ich war bereits sein Gefangener geworden ohne es zu geahnt zu haben.
Ich wischte ein letztes Mal mit meinem Ärmel über mein Gesicht und atmete tief durch, als die Tür zum Speisesaal sich langsam öffnete. Entgeistert starrte ich hinüber und erblickte den Diener mit seinem nach wie vor desinteressierten Gesichtsausdruck.
„Der werte Herr Baron Ullrych von Falkenstein zu Haintal erwartet euch“, leierte er herunter und sah mich mit seinen müden Augen an. Ich reagierte nicht weiter als dass ich aufstand und wortlos an ihm vorbei ging in den Saal hinein. Ich kam mir vor, als würde ich vors Gericht treten.
Wolfgang hatte ebenfalls neben dem Baron Platz genommen. Endres saß zur Linken des Teufels, von Falkenstein zu Haintal in der Mitte wie man es erwarten konnte. Ich ging an die Stelle wo Endres zuvor gestanden hatte um Ullrych anzusprechen und musterte die drei abwechselnd, die mich allesamt gespannt ansahen. Ich versuchte den Ausdruck des Barons zu lesen, doch sein Bart verdeckte das halbe Gesicht.
„Bauer Wilhelm, wir haben dich hergebracht um über dein Unglück zu berichten…“, begann Endres, der seine Finger ineinander verschränkt hatte und seine Ellenbogen auf dem Tisch abstützte.
„Wilhelm und weiter?“, unterbrach ihn Ullrych, der sich in seinem hölzernen Thron hervor lehnte. Endres verstummte, doch er sah verwundert zu seinem Nachbarn, „wie lautet dein Familienname?“.
Ich begriff sofort worauf er hinaus wollte doch lügen würde mich nur weiter in die Bredouille bringen.
„Wilhelm Frank, Herr“, antwortete ich knapp. Es widerte mich an den Baron einen Herrn anzureden, aber ich durfte mir keine Blöße erlauben. Seine Augenbrauen gingen kaum wahrnehmbar nach unten als würde er angestrengt nachdenken. Als er merkte, dass Endres auf eine Geste wartete weiter zu reden, lehnte er sich wieder zurück und nickte.
„Wilhelm Frank, erzähl uns bitte, was an deinem Hof auf dem du lebtest passiert ist“, fuhr Endres fort. Ich kaute wieder auf meiner Unterlippe und versuchte den letzten Abend zu beschreiben ohne die Bilder in meinem Kopf wieder zum Leben zu erwecken.
„Zu Sonnenuntergang kamen zwei Männer in unser Haus gestürmt, töteten sofort meine Mutter und anschließend meinen Vater. Meine Schwester versteckte sich in der Vorratskammer, ich konnte aus der Tür fliehen als die Mörder bereits unser Haus in Brand gesteckt hatten, doch wurde verfolgt bis ich sie im Wald abschütteln konnte“, schilderte ich. Wolfgang kratzte sich die Wange und warf mir einen schrägen Blick zu. Ich merkte in dem Augenblick, dass meine Geschichte vom Umziehen meiner Kleidung nicht ganz herein passte.
„Und was ist mit deiner Schwester passiert?“, fragte Endres nach.
„Ich hatte schließlich das Bewusstsein verloren und wachte an diesem Morgen auf. Ich lief zurück zum verkohlten Hof und konnte meine Schwester nirgendwo finden.
„Du hast im Wald geschlafen?“, wunderte sich der Baron und nahm einen Schluck aus seinem Kelch.
„Ich war völlig erschöpft, Herr. Ich fand bei uns Kleidung zum Wechseln, die nicht dem Feuer zum Opfer gefallen war und ging zum nächsten Hof um von der Schandtat zu berichten. Dort erfuhr ich, dass Lydia von zwei Männern hier in Alphofen abgeliefert wurde“, erläuterte ich und rieb meine verschwitzten Hände.
„Lydia ist deine Schwester nehme ich an?“, erkundigte sich abermals der Baron. Er wusste genau von wem ich sprach, stellte sich allerdings wie ich unwissend dar in dieser Situation.
„Ja… Herr. Sie soll von den Männern hergebracht worden sein zum Kerker. Die gleichen Männer, die unseren Hof zerstört haben schieben ihr die Schuld zu“, erwiderte ich und sah dem Baron tief in die Augen, doch er wich meinem Blick aus und sah erst zu Endres und dann zu Wolfgang, ehe er sich mir wieder direkt widmete.
„Woher weißt du, dass es die gleichen sind?“, fragte der Baron weiter aus, „Sebastian, bringe in Erfahrung, ob sich eine Lydia Frank in unserem Gewahrsam befindet“, und sogleich setzte sich der Diener wie ein Uhrwerk in Bewegung und verließ den Saal, nicht ohne vorher wie immer die Tür auch wieder zu schließen.
„Wer sonst soll sie hergebracht haben und dann noch behaupten sie sei für das Massaker verantwortlich gewesen?“, schnauzte ich den Baron an. Seine Provokationen fingen an mich rasend zu machen. Mit Mühe versuchte ich ruhig zu atmen. Ich merkte wie abfällig dem Baron meine Antwort missfiel, als er sich räusperte.
„Klingt plausibel für mich, Herr Baron“, ergriff Wolfgang für mich das Wort. Sowohl Ullrych als auch Endres sahen zum Knappen hinüber, der verlegen die Blicke erwiderte.
„Wie dem auch sei, bevor wir alles weitere zu deiner Schwester besprechen, was geschieht nun mit dir, mein Junge?“, ging der Baron nicht weiter darauf ein. Seine Frage klang viel eher wie eine Drohung.
„Ich habe keine Familie mehr außer meiner Schwester“, stellte ich bekümmert fest.
„Keinen Vormund also“, zischte Ullrych, doch ehe er seinen Satz fortführen konnte nahm ich ihm den Wind aus den Segeln.
„Ich benötige keinen Vormund, Herr. Ich brauche meine Schwester, damit ich den Hof wieder aufbauen kann“, unterstrich ich und merkte wie meine Miene immer düsterer wurde.
„Das wird wohl kaum zu bewerkstelligen sein“, führte nun Endres vor Augen. Mein Hass ging nun auf ihn über, auch wenn er das ganze bloß rational betrachtete. Verwirrt musterte er mein Gesicht.

4 „Gefällt mir“

[details=Direkte Fortsetzung (ebenfalls bis zum Zeichenlimit von 32k)]„Kein Grund zur Sorge…“, beschwichtigte der Baron, doch für mich klang es wie blanker Hohn.
„Was soll hier heißen keine Sorge? Meine Familie wurde verstümmelt und die Mörder sind vermutlich noch hier“, rief ich erbost. Bei der letzten Aussage zuckte von Falkenstein zu Haintal kurz mit dem Augenlid.
„Ich kann euch zum nächsten Kloster bringen. Badenmühle ist nicht weit von hier. Dort seid ihr sicher. Von da können sich die Hochwürden darum kümmern euch in ein Waisenhaus der Kirche zu bringen in denen ihr ein Handwerk lernt. Einen Hof könnt ihr zu zweit nicht mehr bewirtschaften“, versuchte Endres die Situation zu beruhigen, doch ich fiel ihm noch während seines Vorschlages ins Wort.
„Ich brauche keine Sicherheit! Die Mörder sind hier! Unter euren Füßen!“, schrie ich zornig. Wolfgang war sichtlich verwirrt und sprachlos, während Endres seinen Satz beendete ohne mir zuzuhören. Die Gesichtszüge des Barons entgleisten deutlich bei meinem Vorwurf.
„Das ist doch Quatsch! Beruhige dich! Warte die Nachricht von meinem Diener ab. Wenn deine Schwester hier ist, können wir sie herholen und zusammen besprechen was das Beste für euch ist“, faselte Ullrych. Ich kochte vor Wut.
„Ich kann es beweisen! Folgt mir!“, ergriff ich die Initiative. Der Baron wollte bloß Zeit gewinnen, die würde ich ihm unter keinen Umständen schenken. Ich drehte mich um und ging zum Ausgang, als der Baron mit der Faust auf den Tisch schlug und seinen Thron quietschend nach hinten rückte beim Aufstehen.
„Was erlaubst du dir in meinem Haus?!“, brüllte er.
„Was erlaubt ihr euch?!“, äffte ich ihn nach und riss die Türklinke herunter. Ich konnte Schritte hinter mir hören. Wolfgang sah mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen worden. Endres stand neben dem Baron und wusste nicht so recht was er tun sollte. Der Mann in den feinen Kleidern gestikulierte wild, dass sie schlackerte.
„Wilhelm, was soll das?“, rief Wolfgang mir hinterher. Ich wollte nicht, dass er mich einholte, ehe ich an der verräterischen Tür stünde, daher sprang ich die Stufen der Treppe hinunter, quer über die Eingangshalle zum Raum mit den Mördern. Niemand sollte mich aufhalten. Wolfgang lief mir nicht so schnell hinterher wie ich befürchtete, daher ging ich die letzten Schritte zur Tür so ruhig wie möglich um die Mäuse in der Falle nicht aufzuschrecken.
Wolfgang kam gerade bei mir an, als Endres auch die Treppe hinuntergelaufen kam. Vom Baron war nichts zu sehen. Der Knappe sah mich erst wütend, dann fragend an, bis seine Mimik beides widerspiegelte.
„Was wird das, wenn’s fertig ist?“, schnaubte er. In diesem Moment trat ich die noch immer angelehnte Tür auf, die donnernd gegen den Rahmen knallte.
„Woah, scheiße!“, fluchte jemand in dem Raum. Es war immer noch die gleiche widerliche Stimme. Ohne dem Knappen zu antworten ging ich in das Zimmer, in dem ich sogleich die beiden Mörder sah wie sie von ihrem Tisch in der Mitte des Raumes aufgestanden waren und mich erschrocken ansahen.
„Habe ich euch!“, überführte ich sie aggressiv.
Die Verwunderung in ihren Gesichtern wich schnell einer Selbstgefälligkeit.
„Das war ein Fehler hier her zu kommen, Freundchen“, spottete der erste, dass mein Herz kurz aussetzte und ich hastig zu Wolfgang sah der noch immer vor dem Raum stand und mich fassungslos anstarrte, dann allerdings sein Schwert zog und hinein geschritten kam. Die Mörder hatten unterdessen ihre eigenen Schwerter gezogen und mich fokussiert, als sie verdattert den Knappen erblickten, der sie mit bösen Blicken begutachtete.
„Nehmt sie fest!“, überschlug sich meine Stimme.
„Der wird uns nicht aufhalten“, lachte der zweite.
„Aber ich“, grölte plötzlich Endres, der mit bereits gezogenem Schwert in das nun recht klein gewordene Zimmer stapfte. Nicht nur seine Stimme war plötzlich sehr bestimmend, wie ich es gar nicht erwartet hätte, auch sein gesamtes Auftreten war respekteinflößend und nahm den Raum noch zusätzlich in Beschlag.
„Verdammt“, schimpfte der zweite, „aus der Nummer kommen wir nicht mehr raus, oder?“, raunte der erste.
„Legt eure Waffen nieder und erklärt euch!“, befahl Wolfgang und hob drohend seine Klinge.
Unter kurzem zögern und abwägen, ob sie den Kampf wohl doch eingehen sollten, warf erst der eine und dann der andere sein Schwert vor sich auf den Tisch.
„He, wir wollten nur Geld…“, platzte es aus dem zweiten heraus, doch der erste fiel ihm direkt ins Wort.
„Schnauze, Peter!“, kläffte er und trat ihm gegen das Schienbein. Unter schmerzverzerrtem Gesicht presste Peter die Lippen aufeinander und verstummte sogleich.
„Geld? Wofür? Habt ihr den Hof dieses Bauernjungen überfallen?“, forderte Wolfgang zu einer Erklärung.
„…Nein“, hielt der erste wortkarg dagegen nach kurzem überlegen.
„Vorsicht! Ihr habt euch entwaffnet, aber ich prügel die Antwort notfalls aus euch heraus.“, schüchterte der Knappe sie weiter ein.
„Wir sagen kein Wort mehr“, konterte Peter, der einen ernsten Blick mit seinem Komplizen austauschte.
„Dann werdet ihr erst einmal im Kerker eure Zeit verbringen, bis ihr redet“, bestimmte Endres und wies mit seiner Klingenspitze Richtung Tür. Meine Ohren rauschten und mir war speiübel, doch die Freude, die mich in diesem Moment durchflutete war enorm.
„Deo volente“, sprach ich, „wird es Gerechtigkeit geben“, und sah den beiden triumphierend nach, wie sie widerwillig um den Tisch herum gingen und sich vor das Zimmer führen ließen. Endres von Arkranz vorne weg, Wolfgang von Giebelberg hinterher. Ich sah bekümmert auf die beiden Schwerter, die überkreuzt auf dem Tisch lagen. Sie hatten meine Eltern ermordet. Angewidert ging ich aus dem Raum. Die Ritter standen mit ihrer Beute vor dem Baron, der in mitten der Halle stand und langsam den Arm hob und in eine Richtung zeigte. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck aus der Entfernung leider nicht erkennen, aber wo die Mörder hingebracht wurden, sollte er gleich mit eingesperrt werden, dachte ich.
„Ich möchte Lydia sehen“, rief ich auffordernd und ging auf die Gruppe zu.
„Ich denke das ist keine gute Idee zum jetzigen Zeitpunkt, Wilhelm“, antwortete Endres wieder kühl wie eh und je.
„Wir bringen sie aus dem Kerker und holen sie hinauf. Warte solange beim Baron“, fügte Wolfgang hinzu. Endres nickte bestätigend und ging auf die Tür zu, auf die der Baron hingewiesen hatte. Der Gedanke behagte mir gar nicht, schließlich war es doch Ullrych, der meine Schwester und mich tot sehen wollte, warum auch immer.
Als die vier davon gingen zeigte sich dahinter auch der Diener, der halb versteckt neben dem Baron stand. Misstrauisch näherte ich mich den beiden.
„Ich kann mir das nicht erklären“, log der Baron, dass ich ihn böse anfunkelte.
„Wir sollten zurück in den Saal gehen um alles weitere zu klären, Herr Baron“, stimmte der Diener mit ein. Ich traute ihm ebenfalls keine Sekunde mehr über den Weg. So langsam wie möglich ging ich auf die beiden zu. Ich wollte Endres und Wolfgang Zeit verschaffen um so schnell wie möglich wieder bei mir zu sein. Nach der anfänglichen Euphorie bei der Festnahme überkam mich nun ein schweres Unbehagen der Unsicherheit. Ich hatte ihn aus der Reserve gelockt, doch er hatte sicherlich auch etwas geplant.
„Gute Idee, Sebastian. Hier unten zieht es so“, bestätigte der Baron und drehte sich um zur Treppe. Es wirkte fast wie ein einstudierter Dialog zwischen den beiden, statt eines normalen Gespräches. Vielleicht kam es mir auch nur so vor, doch in Gedanken ging ich jedes Wort von ihnen noch einmal durch, ob sie sich damit eventuell etwas Geheimes mitteilen wollten. Es zog tatsächlich in der Eingangshalle, aber es war Vorsicht geboten. Der Baron ging mit seinem Diener die gewendelte Treppe hinauf um zum Speisesaal zu gelangen. Ich wartete unten noch einen Augenblick und überlegte ob ich hier lieber auf die Rückkehr von Wolfgang und Endres warten sollte, oder den Baron unter keinen Umständen aus den Augen verlieren sollte, bevor er noch ganz verschwand.
Ich entschied mich für letzteres. Ich schlich die Treppe hinauf und lugte über die letzte Stufe in den Bereich vor dem Speisesaal. Ullrych und Sebastian verschwanden gerade im inneren des Raumes und schienen nicht weiter auf mich zu warten. Ich atmete tief durch. Wenn mir jetzt noch etwas zustoßen würde, wäre der Baron so oder so fällig und wenigstens Lydia in Sicherheit.
Bedächtig bewegte ich mich fort zum Speisesaal und trat besonnen über die Türschwelle. Der Baron saß, wie konnte man es anders erwarten, wieder auf seinem Thron, der Diener an seiner Seite wie eine Statue.
Ich erwartete eine weitere dämliche Bemerkung von Ullrych, doch er schien noch darüber nachzudenken.
„Dafür werdet ihr bezahlen“, spuckte ich vor mir auf den Holzboden. Ich hatte jegliche Achtung vor dem Mann verloren. In seiner Kleidung kam er mir nun eher albern als erhaben vor. Solange Wolfgang nicht in meiner Nähe war würde ich die Fassade auch nicht weiter wahren.
„Du überschätzt dich maßlos, du Narr“, hielt Ullrych dagegen. Der Diener reagierte weder auf meine noch auf die Aussage seines Meisters und sah weiter stumpf geradeaus.
„Ihr seht aus wie ein Narr“, beleidigte ich ihn, doch er grinste nur müde.
„Wir werden sehen“, prophezeite er und lehnte sich selbstgefällig zurück.
„Wir werden sehen“, behielt ich das letzte Wort.
„Sprecht den Baron entsprechend mit ‚mein Herr‘ an“, warf der Diener ein. Ich spuckte ein weiteres Mal auf den Boden und ging noch weiter zwischen den Tischreihen hindurch, bis ich in der Mitte der hufeisenförmigen Tischformation stand.
„Euer Speichellecker wird euch auch nicht mehr retten, mein Herr“, spottete ich. Der Baron schnaufte nur kurz belustigt, blieb jedoch still. Dann hörte ich Schritte und ich sah gebannt zum Ausgang. Zwischen Endres und Wolfgang stand Lydia. Mein Atem stockte. Sie hatte den Kopf gesenkt, doch ich erkannte auch so, dass er völlig verrußt war. Langsam blickte sie auf und ihre weißen Augen funkelten auf, als sie mich erspähte. Ich wollte vor Freude weinen, doch ihr Anblick ließ mich erschaudern. Ihr Gesicht war völlig verweint und hatte dadurch die Asche auf ihrer Haut zu bizarren Rinnsalen verflossen. Ich grinste perplex, was sie erwiderte und Hals über Kopf zu mir losrannte. Ich ging ihr langsam entgegen und umarmte sie kräftig. Sie roch grässlich nach Rauch, doch das war egal. Sie lebte. Wir schluchzten völlig losgelöst, als ich sah wie Endres und Wolfgang gebremst auf uns zukamen. Unter dem Weinen meiner Schwester konnte ich fast nicht verstehen was Endres sagte.
„Wir haben die Schwester gefunden. Ihre Reaktion auf die beiden Männer die wir statt ihrer in den Kerker geworfen haben sprach Bände“, redete er laut und deutlich.
„Was machen die Mörder der Eltern dieser Kinder noch hier bei Euch, Baron Falkenstein zu Haintal?“, fuhr der Ritter fort.
„Mein Diener“, setzte Ullrych an und machte eine kurze Pause, „ließ mich wissen, dass die beiden das Mädchen unter dem Vorwand herbrachten, sie hätte einen Bauernhof niedergebrannt nachdem sie die dort lebende Familie umgebracht hatte und wollten für ihre Ergreifung ein Kopfgeld kassieren“, meinte der Baron. Ich konnte nicht fassen was ich da hörte. Ich hätte ihn am liebsten wieder angeschrien, aber ich war noch damit beschäftigt mich selbst und vor allem Lydia zu beruhigen, die von dem Gespräch nichts wahrzunehmen schien.
„Und das Kopfgeld? Sie sprachen von Geld, aber wir fanden nichts Nennenswertes bei Ihnen“, fragte nun Wolfgang nach, der seine Hand auf dem Knauf seines Schwertes ruhen ließ.
„Das hätten die beiden erst nach Vollstreckung des Urteils erhalten. Es gab schließlich keine Zeugen für das Vergehen… Nun ja, zumindest bis gerade eben. Bis zur Hinrichtung ließe ich sie hier warten, falls sich noch jemand vorher zu dem ganzen Vorfall äußern würde. Glücklicherweise kamt ihr ja rechtzeitig mit dem Jungen her“, die Heuchelei des Barons ließ mich zusammen mit dem stechenden Rußgeruch in Lydias Haaren sauer aufstoßen.
„Und was geschieht jetzt?“, wollte Wolfgang wissen.
„Ich denke das Verhör können wir uns sparen. Die beiden werden für ihre Dreistigkeit hoffentlich auf der Stelle exekutiert“, verlangte Endres und blickte zum Baron hinüber.
„Es war ja eh eine Hinrichtung geplant für heute Abend, auch wenn wir statt dem Scheiterhaufen jetzt wohl den Henker mit dem Schwert holen werden.
„So einfach wirst du mir nicht davon kommen, Baron!“, schoss es durch meinen Kopf und ich versuchte Lydia sanft von mir zu stoßen, die sich allerdings weiterhin fest an mich klammerte. Es half nichts, ich musste so den Baron anschwärzen.
„Es gab kein Kopfgeld, der Baron hat sie schon vorher beauftragt“, bebte meine Stimme, „ich habe es von ihnen selbst gehört als…“
„So eine Frechheit! Was erlaubst du dir?“, unterbrach mich der Baron laut, dass Lydia aufschrie und ich dadurch zusammenzuckte.
„Ich lasse doch nicht meine Untertanen ermorden, wie bescheuert ist das denn?“, wehrte sich Ullrych weiter. Wolfgang hatte den gleichen verwirrten Ausdruck im Gesicht wie zuvor im Saal, als ich herausgerannt war, Endres sah mich ernst an.
„Diese Anschuldigungen sind schwer, Wilhelm, kannst du das beweisen?“, bat Endres um Aufschluss.
„Fragt die Mörder, die…“, stammelte ich und konnte endlich Lydias festen Griff um mich etwas lösen.
„… Die werden jetzt alles behaupten um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen“, erwiderte Endres und schüttelte den Kopf.
„Lass gut sein Bauernjunge, du hast bereits großes heute geleistet“, versuchte Wolfgang mich zu beschwichtigen.
„Versteht ihr denn nicht?“, stieß ich hervor, „der eigentliche Mörder sitzt hier. Hier!“, und ich ließ Lydia vor mir stehen, die mich mit großen Augen ansah. Fassungslos ging ich auf den Tisch des Barons zu, der mich mit ernster Miene ansah.
„Wilhelm!“, rief Wolfgang drohend und ging mir hinterher.
„Der Teufel persönlich steckt in ihm!“, redete ich mich in Rage. Die gedeckte Tafel fiel mir gar nicht mehr auf.
„Blasphemie!“, faselte der Diener empört, doch ich beachtete ihn gar nicht weiter. Wutschnaubend blieb ich vor dem Baron am Tisch stehen, sah in seine Augen, als er spöttisch seine Augenbrauen hob und sich seine hohe Stirn in Falten legte. Ich sah Rot, griff nach dem Messer neben dem Teller von Ullrych, beugte mich über den Tisch und schnitt nach seiner Kehle, doch er konnte mit seinem klobigen Stuhl gerade noch so weit nach hinten rücken, dass ich ihn verfehlte und ich auf den Tisch fiel. Ich stieß mich von der Platte ab und stach auf ihn ein.
„Wilhelm!“, schrie mich Wolfgang an, der bereits hinter mir war und mich herunter riss. Der Baron schrie auf und hielt sich den Bauch. Der Diener stand planlos neben dem Spektakel.
„Was ist bloß in dich gefahren?“, brüllte der Knappe mich an und trat mir das Messer aus der Hand. Dann beugte er sich über mich und presste mich auf den Boden. Ich wehrte mich erst vehement und schrie, als ich Lydias Schluchzen vernahm ließ ich jedoch ab und regte mich nicht mehr.
„Was ist bloß in dich gefahren?“, fragte er mich erneut. Endres stand nun auch neben mir und sah geringschätzig auf mich herab.
„Verdammt!“, fluchte der Baron, „es reicht! Der Junge hat den Verstand verloren wie die gesamte Sippschaft!“, schimpfte er weiter.
„Für diesen hinterhältigen Angriff verurteile ich dich zum Tode durch den Strick!“, platzte es aus ihm zum Schluss heraus und ich schloss die Augen um den elendigen Blick Wolfgangs nicht mehr sehen zu müssen.

Kapitel 5

Endres hatte Mühe Lydia zu beruhigen, die wie am Spieß schrie, während Wolfgang sein Schwert auf mich richtete und mich böse ansah. Ich saß auf einem Stuhl im Speisesaal, senkte mein Haupt und sah beschämt auf den Fußboden.
„Herr Baron von Falkenstein zu Haintal“, sprach Wolfgang laut um Lydia zu übertönen, „die Familie hat schon genug durchgemacht. Lasst Gnade walten.“
Ich schielte zum Baron, der gerade von einer Magd genäht wurde. Die Wunde schien sehr schmerzhaft, allerdings nicht tödlich zu sein. Ich wünschte von ganzem Herzen ich hätte ihn besser erwischt. Der Diener wusste noch immer nichts mit sich anzufangen und stierte auf die blutverschmierten Hände der Frau.
„Zu viel! Verrückt ist er geworden. Eine Gefahr für den Rest!“, plagte sich der Baron unter schmerzverzerrtem Gesicht.
„Dann verbannt sie ins Kloster, oder…“, setzte Wolfgang erneut an, doch wurde vom stöhnenden Baron unterbrochen.
„Nichts da! Führt den Mörder in den Kerker!“, fluchte er. Ich wusste, dass ich mir mit jedem Kommentar den Strick um den Hals nur enger zog, doch diese Frechheit konnte ich nicht auf mich sitzen lassen.
„Ich habe niemanden ermordet. Ihr wart es!“, griff ich ihn verbal an, doch er schüttelte nur mit zugekniffenen Augen den Kopf.
„Raus! Sofort! Das ist ein Befehl!“, keuchte er und wischte das Geschirr vor sich vom Tisch, das es scheppernd auf den Boden fiel und das Essen sich schmatzend darauf verbreitete. Was für eine Verschwendung. Ich rieb mir die Stirn und stand auf. Wolfgang wechselte seinen Blick vom Baron zu mir und ging einen Schritt rückwärts. Lydia war völlig aufgelöst und lag flennend am Boden. Endres stand bestürzt neben ihr und wusste nicht, was er tun sollte.
„Und das Mädchen?“, hakte Wolfgang noch nach, als er mir durch neigen seiner Schwertspitze zu verdeutlichen gab, dass ich mich zum Ausgang des Saals begeben sollte.
„Ins Kloster! Schafft mir das Balg aus den Augen!“, entschied Ullrych mit ähnlicher Härte. Endres nickte gedankenversunken und griff Lydia beim Arm. Sie hatte jeglichen Willen sich zu wehren verloren, wurde von Endres untergehakt und vor mir aus dem Saal begleitet.
Meine Wut war enorm. Auf Ullrych, dass er mit seiner Verlogenheit und Skrupellosigkeit davon kam, auf Wolfgang, dass er mich aufgehalten hatte den Baron zu töten, auf Endres, dass er Lydia ins Kloster bringen würde, statt uns wirklich zu helfen und auf mich, dass ich Lydia das alles zumuten musste. Es war mir egal, dass ich streben sollte. Meine einzigen Gedanken drehten sich um Rache und Schuldgefühlen für meine Familie.
Der Diener machte sich nun auch nützlich und schickte sich an, die Sauerei seines Meisters aufzuräumen.
„Erwarte keine Rettung mehr“, raunte mir Wolfgang zu, während wir den Saal verließen, „du hast deine Gerechtigkeit erhalten und dankst uns so unsere Hilfe.“
Ich wollte mich rechtfertigen, doch die miserable Verfassung Lydias, die halb zusammengesackt von Endres eher getragen als gestützt wurde, hatte einen der Klöße von der Tafel des Barons in meinem Halse geformt.
„Ich tue das nicht gerne, aber du kommst zu den anderen beiden in den Kerker“, sprach er weiter. Mir lief ein tiefer Schauer über den Rücken, als ich daran denken musste mit den beiden Mördern in dem Loch zu hocken bis wir hingerichtet werden.
„Gibt es keine andere…“, krächzte ich. Mein Hals brannte fürchterlich.
„Nein. Ich wollte nicht, dass es so endet, aber bereite dich darauf vor heute Abend vor deinen Schöpfer zu treten und um Vergebung zu bitten“, schüttelte der Knappe den Kopf.
Das würde Lydia nicht verkraften, dachte ich.
„Bringt Lydia sofort weg“, bat ich die beiden, als wir durch die Eingangshalle gingen.
„Ich fürchte das ist nicht möglich. Wir haben noch andere Dinge zu erledigen, weißt du? Du kannst dich von ihr verabschieden, wenn du zum Galgen musst, dann reisen wir ab“, entgegnete Endres. Lydia sagte zu alledem nichts. Sie schien sich ihrem Schicksal bereits gefügt zu haben.
„Lydia… Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich bei meiner Schwester und meine Augen wurden feucht. Wolfgang schob seine Klinge zwischen uns beide um uns zu trennen und mich in Richtung der Tür zu geleiten, in die sie zuvor die zwei Mörder gebracht hatten. Lydia wurde noch immer von Endres umarmt.
„Mir auch“, war ihre knappe Antwort. Ich konnte hören wie schwer es ihr fiel überhaupt etwas zu sagen, als Endres mit ihr durch die Tür nach draußen gingen.
„Für den verdammten Baron tut es mir nicht Leid“, murmelte ich zu Wolfgang, der hinter mir herging.
„Ich weiß“, antwortete er knapp und ich drückte die Klinke der Tür herunter und öffnete sie, „irgendwann werde ich vielleicht verstehen, was in dich gefahren ist.“
„Die zwei im Kerker werden dir bestätigen können, was ich oben gesagt habe. Es ist die Wahrheit“, erklärte ich und ging eine steile Treppe hinunter die an den Seitenwänden mit brennenden Fackeln ausgestattet war.
„Sie sind wie gesagt nicht vertrauenswürdig. Und du hast mein Vertrauen ebenfalls missbraucht“, lehnte Wolfgang ab und stapfte hinterher.
„Ich greife doch nicht grundlos den Baron an“, rechtfertigte ich mich, auch wenn es kein wirklicher Grund für Wolfgang gewesen sein dürfte.
„Selbst wenn, macht es deinen Angriff nicht rechtens“, entgegnete er.
„Und wer hätte das Recht den Baron anzuklagen? Er herrscht über diese Land“, stellte ich verbittert fest. Wir kamen unten vor einer Tür an, die ich zunächst musterte.
„Öffnen“, forderte der Knappe mich auf. Nachdem ich sie durchschritten hatte und in einen kurzen Flur kam, konnte ich links und rechts eine Tür ausmachen.
„Das dürfte dann der Landgraf sein, dem der Baron als Vasall untersteht“, griff Wolfgang meine letzte Frage wieder auf und ging nun an mir vorbei und öffnete die Tür mit einem Schlüssel, der an einem Haken im Flur gehangen hatte.
„Der Mann aus Kreuzfurt?“, erinnerte ich mich, als Wolfgang das erste Mal von ihm gesprochen hatte.
„Bertholdt II. von Kreuzfurt, ja“, bestätigte er, zog die Tür am Gitter auf, dass auf Kopfhöhe in der Tür eingelassen war und deutete mit einem Schwenk seines Schwertes ins Innere der Zelle.
„Peter…“, rief ich, als ich langsam in den kleinen Raum schritt, der stockdunkel war. Nur das Licht der Fackeln aus dem Flur erleuchteten gerade flackernd die steinernen Wände des Kerkers, der mit Stroh ausgelegt war. Es roch sehr unangenehm in der Zelle, doch von den beiden Mördern war nichts zu sehen.
„Was machst du denn hier unten?“, hörte ich die Antwort aus der gegenüberliegenden Zelle dröhnen.
„Wie viel hat euch der Baron geboten um meine Eltern zu töten?“, wollte ich wissen, doch die Frage stellte ich eigentlich für Wolfgang, der mich mit seinem verschatteten Gesicht finster ansah. Noch stand er an der Tür und rührte sich nicht sie zu schließen. Er schien auf die Antwort gespannt.
„Was kümmert es dich?“, entgegnete er trotzig, „es ist schon sehr hinterhältig von ihm uns hier jetzt einzusperren“, ging der andere auf meine Frage ein.
„Was das anbelangt, werdet ihr heute noch vor den Henker geführt“, ließ Wolfgang die beiden unverfroren wissen.
„Obwohl wir seine Drecksarbeit erledigt haben?“, schimpfte einer von beiden und ich hörte wie er gegen die Tür der Zelle trat.
„Sei still, Hans!“, zischte Peter.
„Welche Drecksarbeit habt ihr denn erledigt? Ihr wart doch auf das Kopfgeld aus“, wendete Wolfgang ein und schob langsam die Tür zu, dass es schlagartig finster wurde.
„Er ist unsere einzige Rettung…“, hörte ich noch dumpf und leise durch die kleine vergitterte Öffnung in der Zellentür dringen, dann drehte Wolfgang das Schloss um und seine Schritte entfernten sich zügig.
Ich war allein und verspürte eine Ratlosigkeit wie ich sie zuletzt morgens nach meiner Ohnmacht verinnerlicht hatte.
Eine Weile lauschte ich der Stille. Selbst Peter und Hans, wie die beiden Mörder anscheinend hießen oder sich zumindest gegenseitig nannten, verblieben stumm.
Meine Gedanken kreisten sich um Lydia, die nun statt meiner mit den Rittern unterwegs war, allerdings keine Hilfe mehr erwarten konnte außer dem Geleit zum Kloster. Die Priester würden sie wohl kaum aufnehmen als Bauernmädchen und in ein Waisenhaus zu kommen war leider alles andere als wünschenswert. Sie hätte keinerlei Rechte mehr und würde wohl am ehesten als Magd einfach weiterverkauft werden.
Aber auch wenn ich jetzt bei ihr wäre, könnten wir zu zweit wohl wirklich nicht den Hof wieder aufbauen und bewirtschaften. Am besten hätte man wohl für eine Familie gearbeitet, die sich ihres Landes annimmt und sie dafür adoptierte.
Jetzt musste der verdammte Baron darüber entscheiden, was damit passieren würde. Ob er es wohl deshalb getan hatte? Wegen des Landes? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er wegen so etwas belanglosem die Menschen seiner Ländereien ermorden lassen würde.
Ich versuchte eine Zeit lang mich zu beruhigen und tief durch den Mund zu atmen, da es durch die Nase einfach zu stark stank, doch mein Hirn war auf Hochtouren während meine Augen und meine Ohren keinerlei Reize wahrnahmen.
Wie könnte ich Wolfgang bloß davon überzeugen, dass der Baron hinter allem steckte? Den Mördern schien er nicht zu glauben und Lydia kannte die Antwort nicht.
Die Ratlosigkeit machte sich immer weiter in meiner Zelle breit, als ich hörte wie eine Tür geöffnet wurde. Wie viel Zeit war vergangen? War es bereits abends geworden? Perplex horchte ich auf und konnte nach einigen Schritten den Diener Sebastian entdecken, wie er seinen Kopf kurz nach oben reckte, in meine Zelle schaute und sich dann wieder abwandte. Dann räusperte er sich. Ich hoffte er sei nicht wegen mir hier und würde mich noch im Kerker ermorden.
„Mein Meister lässt ausrichten, dass die beiden Herren Hans und Peter zum Tode durch das Schwert verurteilt worden sind und noch heute Abend exekutiert werden“, schwafelte er los und sprach offensichtlich in die gegenüberliegende Zelle durch das Türgitter hinein.
„Das ist ein Scherz, oder?“, entgegnete Hans erbost.
„Er lässt uns nicht frei? Hat der Mann gar keine Ehre!“, brüllte Peter und ich hörte einen Schlag gegen das Holz der gegenüberliegenden Zellentür.
„Baron von Falkenstein zu Haintal vermeldet darüber hinaus, dass die eigene Inkompetenz den Auftrag auszuführen einen Vertragsbruch darstellt, die Belohnung hierdurch entfällt und der Mord an der Familie Frank mit dem Tode bestraft wird“, fuhr der Diener unbeirrt fort, während die Schlagintervalle gegen die Tür immer kürzer wurden.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Wenn sie uns alle getötet hätten, wäre der Mord rechtens gewesen für den Baron und er hätte sie noch dazu belohnt? Ich war fassungslos über diese Begründung, doch es wunderte mich nicht mehr. Ich richtete mich langsam vom kalten und nassen Boden auf und ging zur Tür hinüber. Der Diener stand immer noch vor der Tür die ordentlich in den Angeln wackelte und drehte sich langsam zu mir um.
„Wilhelm Frank, für euren kaltblütigen Mordversuch an Baron Ullrych von Falken…“, begann er zu faseln. Ich spuckte ihn an und verlangte, er solle gefälligst zum Punkt kommen. Angeekelt ging er einen Schritt rückwärts, als plötzlich ein Arm hinter ihm aus der Dunkelheit durch das Gitter fuhr, ihn am Kragen seiner Kleidung packte und zu sich heranzog, dass er unter einem gellenden Schrei gegen die Tür knallte und ein anderer Arm folgte und mit dem Ellenbogen den Hals abschnürte. Erschrocken ging ich selbst einen Schritt zurück, auch wenn der Angriff gar nicht mir galt und sah wie sich langsam ein Gesicht an das Gitter presste und den Diener mit einem fiesen Grinsen anstarrte.
„Sicher, dass der Baron uns nicht freilassen möchte?“, flüsterte Hans ihm in Ohr. Die ruhige und geordnete Art Sebastians wich schlagartig einer riesen Angst, als er mit seinen Augen hastig absuchte, wer gerade mit ihm in seinem Rücken sprach. Er riss mit seinen Händen am Arm von Peter, doch dieser hatte die Faust zusätzlich mit seinem anderen Ellenbogen eingehakt und fixiert im inneren der Zelle. Er drückte den Diener nur noch fester an sich, dass er nicht mehr atmen konnte.
„Nicht so gesprächig wie sonst, wie?“, lachte Hans, „du scheiß Klugscheißer.“ Dann löste er den Griff ein wenig, damit Sebastian wieder atmen konnte und lauschte, was dieser sich als Antwort überlegt hatte.
„Doch! Doch!“, krächzte der Diener und rang verzweifelt nach Luft.
„Ach, ist das so? Das muss vorhin also ein Missverständnis gewesen sein“, wunderte sich Peter künstlich und neigte den Kopf ein wenig, um die Seite des Gesichts des Dieners besser in Augenschein nehmen zu können.
„Ja! Ja! Ich lasse euch sofort frei!“, stammelte er und bekam feuchte Augen. Dann presste Peter wieder die Kehle zu.
„Und wie willst du das anstellen? Du hast keinen Schlüssel bei dir“, stellte Peter kühl fest und löste dann wieder seinen Griff, dass der Diener atmen konnte.
Dieser hustete zunächst, ehe er folgendes stammelte: „dort hängt der Schlüssel. Ich hole ihn und schließe euch auf.“
„Ach, das würdest du für uns tun?“, spottete Peter. Sein Blick wurde allerdings sehr ernst, dass ich Gänsehaut bekam.
„Ja, bitte lasst mich frei“, heulte er los.
„Du hast da etwas falsch verstanden, du sollst uns freilassen“, stellte Peter zynisch fest und presste den hilflosen Diener wieder an sich. Er ließ ihn nicht mehr los. Sebastian japste nach Luft, doch seine Lungen konnten weder ein- noch ausatmen. Er tat mir einerseits sehr leid und ich wollte das nicht, als ich ihn angespuckt hatte, doch es war seine Eitelkeit, die ihn nun das Leben kostete. Eine Genugtuung machte sich in mir breit, auch wenn ich mich wegdrehte um das Ganze nicht weiter mit ansehen zu müssen. Er röchelte länger als ich erwartet hätte, bis er immer schwächer wurde und irgendwann verstummte.
„Dieser verkackte Bastard“, schnauzte Hans. Peter brummte nur kurz als Bestätigung und ließ den leblosen Körper des Dieners wenig später herunter sacken. Ich schaute erneut durch das Gitter und sah auf den blau angelaufenen Kopf des Dieners, der mit weit aufgerissenen Augen an meine Tür stierte. Es war kein schöner Anblick, aber er hatte es wirklich verdient, dachte ich. Er wusste von allem und hatte es vorgezogen seinem Herren gewissenlos zu folgen. Peter drückte noch immer sein Gesicht gegen das Gitter seiner Zellentür und schielte nach unten.
„Das hat Spaß gemacht“, grinste er und sah dann zu mir hinüber. Mein Herzschlag beschleunigte, doch ich blieb ruhig vor meiner Tür stehen und musterte ihn.
„Was verschafft uns die Ehre deiner Zellennachbarschaft?“, verspottete er mich.
„Ich habe den Baron abgestochen“, antwortete ich kalt.
„Hoffe er ist dran gestorben“, warf Hans von hinten ein.
„Er hat nur schwere Schmerzen. Seine schimmeligen Gedärme konnte er leider in sich behalten“, gab ich verbittert zurück.
„Schade. Immerhin. Du bist in Ordnung“, meinte er zu mir zu meiner Verwunderung.
„Ich hasse euch“, gab ich abweisend Kontra und meine Miene verfinsterte sich.
„Man kann dem Adel nicht trauen“, ging er nicht weiter auf mich ein. Nickte dann eher sich selbst als mir zu, als er den Blick durch den Flur zwischen uns schweifen lies und löste sich dann von der Tür, dass er wieder gänzlich im Dunkel seiner Zelle verschwand.
Wolfgang und Endres konnte ich vertrauen, dachte ich, doch sie schienen an Ihresgleichen so stark gebunden zu sein, dass sie nicht aus ihrer Haut konnten.
Ich setzte mich wieder hin und schloss die Augen, da es eh nichts zu sehen gab und versuchte mir vorzustellen mit meiner Familie beim Abendbrot zu sitzen, doch es gab nur Schwärze. Ab und an sah ich Lydia mit ihrem verrußten Gesicht vor mir.
Erneut hörte ich Schritte die unter einem lauten Schreck verstummten. Dann entfernten sie sich wieder zügig. Da hatte wohl jemand nachgesehen wo der Diener blieb und den toten Sebastian aufgefunden, überlegte ich.
Kurze Zeit später vernahm ich gleich etliche Paare an Fußtritten, die eilig in den Kerker marschierten.
„Sebastian ist tot, Herr Baron”, rief ein Mann. Das konnte nichts Gutes bedeuten, dachte ich, und verblieb in meiner gehockten Haltung, als ich aufmerksam lauschte. Dann folgten langsame Schritte unter stetem Ächzen. Der Baron schien sich bequemt zu haben trotz seiner Verletzung nachzusehen was hier unten vorgefallen war.
„Ein Jammer…“, setzte er an, „schafft ihn raus und fesselt und knebelt die beiden Mörder, bevor die weitere Dummheiten anstellen“, befahl er und die Schritte entfernten sich wieder.
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Macht ihr alle Pause oder habe ich euch vergrault? :beanomg:
Ich bin jetzt bei 22k nachdem ich gestern 3,7k geschrieben habe. :beangasm:
Habe nun von meiner ursprünglichen Handlung aber auch über 2/3 leider fertig. :beansad:

Ja. :smiley: Heute oder morgen lege ich aber wieder los.
Ach, und das mit dem Schreibkalender find ich auch mega praktisch, und es motiviert einfach auch irgendwie. Find ich gut.

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Na? :stuck_out_tongue_winking_eye: Kriegen wir auch mal wieder einen Ausschnitt von deiner Geschichte? :slight_smile:
Mein Schreibkalender wächst auch stetig.

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:slight_smile:

Klar, gerne. Ist zwar irgendwie ohne Kontext, aber dieser Teil hat beim Schreiben Spaß gemacht. Da muss aber noch einiges an Arbeit reinfließen.

Zusammenfassung

So verschwand er geschwind in dem schattigen, tunnelartigen Durchgang. Das hölzerne Tor, von dem sein Onkel ihm schon berichtet hatte, stand praktischerweise offen, sodass er sich diese Kletterpartie sparen und ungehindert in den Innenhof marschieren konnte, so als ob es sich für ihn so gehörte.
Als er aus dem kurzen Tunnel heraustrat, befand er sich inmitten eines viereckigen Hofes, rundherum ragten die Gebäudewände empor, wovon zwei offenbar zu dem Prunkbau gehörten, den er gerade beobachtet hatte, und zwei zum nebenanliegenden Gebäude. Der Blick nach oben offenbarte einen kleinen, viereckigen Ausschnitt des starrend blauen Himmels. Die Sonne stand zu schräg, um mit ihren Strahlen den Hof zu beleuchten, nur die oberen Stockwerke badeten im warmen Mittagslicht. Links des Eingangs, durch den Timothy gerade getreten war, befand sich eine vierstufige Treppe, die zu einer geschlossenen Holztür hochführte. Neben der Treppe waren Kisten und Fässer gestapelt. Ein übler Geruch ging davon aus. Sonst gab es in dem Innenhof nichts außer einem kreisrunden Regenabfluss genau in der Mitte. Gegenüber dem Eingang hatte es wohl einmal einen weiteren Durchgang gegeben, doch dieser war auf lieblose Weise zugemauert worden. Die relativ neuen Steine und der helle, bröckelige Mörtel hoben sich vom umliegenden Prunk der Fassaden ab und ließen diese Handwerksarbeit noch schäbiger wirken als ohnehin schon.
Timothy blickte an dem links von ihm liegenden Gebäude empor und sofort sprangen ihm die ausladenden Balkone des ersten und zweiten Stockes ins Auge. Sie spannten sich über die gesamte Länge dieser Fassade. In der Mitte der Balkone befand sich ein Bogen, der sich von der Hauswand bis zum Geländer spannte und die Balkone in zwei Bereiche teilte. Auf beiden Seiten dieses Bogens führten jeweils zwei übergroße Fenster ins Innere. Bis in den zweiten Stock musste er etwa zehn Meter steiler Wand überwinden, schätzte Timothy. Glücklicherweise war diese Hauswand ebenso verziert wie die Vorderseite des Gebäudes. Allerorten gab es aus der Wand ragende Steine und Bögen über den Fenstern, die als Trittsteine fungieren konnten. Die Schlusssteine dieser Bögen bestanden aus lebensecht gearbeiteten Gesichtern. Timothy plante seinen ungefähren Aufstieg mit den Augen, jedoch nicht allzu lange. Er wollte keine Zeit verlieren, jederzeit konnte jemand den Hof betreten und ihn auf frischer Tat ertappen, denn hier gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken.
Als Aufstieg hatte er sich die Kistenstapel neben der Tür, die wohl in einen hinteren Teil des Erdgeschosses führte, ausgesucht. Er ging auf die Kisten und Fässer zu und je näher er kam, desto intensiver wurde der Gestank, der über dem ganzen Innenhof hang. Als er dann vor diesen Stapeln stand, wusste er auch, wieso. Die Fässer waren bis zum Rand gefüllt mit Müll, liefen fast über vor Unrat. Timothy versuchte so gut es ihm möglich war, die stinkenden Küchenüberreste zu vermeiden und stieg von der obersten Stufe der kurzen Treppe aus auf die erste Kiste und prüfte vorsichtig, ob sie sein Gewicht tragen würde. Er befand sie für stabil genug und kletterte auf die zweite Kiste. Schon beim Hochziehen bemerkte er, dass er hier keinen guten Stand hatte, die Kiste lag ein wenig schief mit einer Ecke auf einem der Fässer auf, sodass sie unter seinem Gewicht zuerst ein bisschen nachgab und hin und her wippte, als er dann darauf stand. Als weiteren Tritt nutzte er geschwind einen aus dunklen, fast schwarzen Backsteinen gefertigten Bogen, der in das Gemäuer eingelassen war und sich über die gesamte Wand erstreckte. An seinem Scheitelpunkt reichte er fast bis zum ersten Balkon. Timothy setzte seinen rechten Fuß auf einen der Steine, presste sich an die Hauswand und stemmte sich mit aller Kraft nach oben. Mit größter Vorsicht einen Fuß vor den anderen setzend, bewegte er sich den Bogen entlang nach oben und vermied dabei den Blick nach unten. Solche Höhen war er nicht gewohnt, zumindest nicht ohne die beruhigende Sicherheit des metallenen Geländers in ihrer Bibliothek. Dort genoss er den schwindelerregenden Blick in die Tiefe aus den oberen Stockwerken bis ganz in das Erdgeschoss. Hier jedoch würde jeder Fehltritt auf schmerzhafte Weise zu bezahlen sein und die Entdeckung seines Vorhabens stand obendrein auf dem Spiel, weshalb er besonders auf seine Bewegungen achtete und jeden Schritt lieber zweimal überprüfte, bevor er sein ganzes Gewicht auf einen der Steine aufbrachte. Auf diese Weise schaffte er es auf den höchsten Punkt des Bogens, der von einem größeren Schlussstein gebildet wurde, wodurch Timothy etwas mehr Platz hatte, um beide Füße darauf zu stellen. Er verschnaufte kurz und sammelte sich für einen der beiden schwersten Teile, er musste es nun irgendwie schaffen, sich auf den Balkon hochzuziehen. Über ihm ragte er etwa einen Meter in den Innenhof hinein. An der Unterseite des Balkons waren drei galleonsfigurenartige Statuen in der Form von massiven Fischen gleichmäßig verteilt angebracht. Die Schuppen am Körper der Figuren waren allesamt feingearbeitet, wenn auch von leichtem Grünbelag oder winzigen Flechten überzogen. Etwa mittig, also genau über ihm, befand sich der größte der drei Fische. Mit dem Bauch gegen die nackte Fassade gedrückt, streckte Timothy sich nach oben und umfasste den Körper mit seinen Händen. Er brachte seine gesamte Kraft auf, um sich nach oben zu ziehen. Mit der rechten Hand griff er um auf den Kopf und stemmte die Füße auf den Hinterleib des Fisches. Als er sich mit den Füßen abdrücken wollte, rutschte sein rechter Fuß auf dem schmierigen, moosigen Belag ab. Einen atemraubenden Moment baumelte er sich nur mit den Händen festhaltend frei in der Luft. In seinem Kopf schaltete sich auf einen Schlag alles aus und nur ein einziger Gedanke schoss immer wieder in sein Bewusstsein.
Nicht loslassen! Nicht loslassen! Bloß nicht loslassen!
Er befand sich etwa vier Meter über dem Boden, was für ihn schon hoch genug war, um in Panik zu verfallen. Nur mit größter Mühe schaffte er es, sich nicht von seiner Angst übermannen zu lassen. Er atmete zweimal tief ein, schwang seine Beine wieder nach oben und hakte sich mit den Füßen am Hinterleib des Fisches ein. Dann benutzte er die seitlich abstehenden Flossen als Tritthilfe und schob sich so weiter nach oben, bis er mit den Händen den Boden des Balkons greifen konnte. Noch ein letztes Mal nahm er Schwung und drückte sich mit den Beinen vom Kopf des Fisches ab. Auf diese Weise erreichte er das Geländer, umfasste es sicher und bugsierte seinen Körper mithilfe der aufgestützten Unterarme auf den Balkon. Er hatte es geschafft.
Erleichtert setzte Timothy sich auf das Geländer und schwang seine Beine darüber. Nun stand er unter dem Bogen, der sich von der Wand bis an das Geländer spannte. Sein Blick wanderte nach unten. Bis zum Boden mochten es von hier aus gute fünf Meter sein. Ein Sturz wäre nicht tödlich, aber mit Sicherheit sehr schmerzhaft gewesen. Mit einem Aufatmen schaute er über sich und sah, dass der zweite Balkon nicht sonderlich hoch über dem ersten lag. Also hatte er den schlimmsten Punkt schon überstanden. Über den Abstieg machte er sich bisher noch keine Gedanken.
Nach einer kurzen Pause hatte er sich von der Panik, die ihn gerade überkommen hatte, erholt und beschloss, seinen Weg nach oben fortzusetzen. Der beste Aufstieg zum zweiten Balkon, befand er, war der Bogen, neben dem er gerade stand. Ohne große Mühe konnte er darauf klettern und von dort aus schon fast die Figur unter dem Balkon erreichen, die geformt war wie ein Löwe, mit imposanter Mähne und vier stämmigen Beinen, die in mächtigen Pranken endeten.
Er wollte sich gerade hochschwingen auf den Steinbogen, als er unter sich ein schweres Quietschen vernahm. Sofort ging er in die Hocke und spähte zwischen dem Geländer hindurch nach unten. Aus der Tür im Erdgeschoss war ein junger Bursche getreten, der eine weiße Mütze trug und eine ebenso weiße Schürze, die jedoch mit unzähligen Spritzern in den verschiedensten Farben übersät war. Aus dem Inneren drang das laute Klappern von Töpfen und Tellern, und dazwischen waren undeutliche Rufe zu hören. Gerade hatte Timothy beschlossen, trotzdem weiter noch oben zu klettern, da polterte ein lauter Knall durch den Innenhof und widerhallte von den Wänden hin und her geworfen nach oben.
»Ey, glaubst du, du kannst hier drin Scheiße bauen und dann hier draußen faulenzen, oder was? Du hast sie wohl nicht mehr alle! Schieb deinen Arsch sofort wieder hier rein, sonst rate ich dir, dein Pockengesicht ab morgen hier bloß nie wieder blicken zu lassen.«
Ein Schreck durchfuhr Timothy, dachte er doch für einen Moment, dass er gemeint war. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der junge Bursche im Hof gemeint war. Timothy lehnte sich etwas vor, um die Tür sehen zu können, jedoch war der Schreihals, wahrscheinlich ein Koch oder Küchenchef, schon wieder nach drinnen verschwunden, nachdem er seine Wuttirade über dem Lehrjungen ausgegossen hatte. Das leise Murmeln des Jungen verstand Timothy in seiner erhöhten Position nicht, aber es klang nicht gerade nett. Er schlurfte ebenfalls wieder nach innen und schloss die Tür hinter sich. Timothy atmete tief ein und ließ einen lauten Seufzer der Erleichterung hören. Nun wollte er erst recht keine Zeit mehr verlieren. Offenbar wurde in dem Haus unter Hochdruck gearbeitet. Also konnte auch jeder Zeit einer der Angestellten auftauchen und ihn entdecken. Zum Glück waren hinter den riesigen Fenstern, vor denen er stand, die dicken Vorhänge zugezogen, sodass er zumindest von drinnen nicht entdeckt werden konnte.
Er schüttelte sich kurz die Hände aus, damit sie auf der bevorstehenden Kletterpartie nicht verkrampften, und schaute sich noch einmal genau an, wie er nun auf den über ihm ragenden Balkon gelangen konnte. Die Löwenfigur war größer als der Fisch und bot ihm mehr Möglichkeiten, sich daran festzuhalten. Also stieg er nun zunächst auf das Balkongeländer, um von dort aus auf den Steinbogen zu steigen. Auf den schmalen Steinen konnte er ganz gut stehen. Der weitere Aufstieg bereitete ihm keinerlei Probleme. Mit Leichtigkeit zog er sich an dem Löwen hinauf, wobei er die Pfoten als optimale Tritthilfen benutzte. Einmal auf dem Kopf des Löwen angekommen, konnte er ohne sich großartig zu strecken nach oben greifen und sich an den schmalen Säulen der Balkonbalustrade hochziehen.
Nun stand Timothy auf dem Balkon von Langeroogs Unterkunft und blickte auf die unverhangenen Fenster. Die Hoffnung war, dass zu dieser Zeit keiner da sein würde, was nach Timothys Meinung auch der Fall war. Jedoch sah er durch die Fenster nicht gut in das dahinterliegende Zimmer hinein. Timothy lehnte sich vorsichtig über das Geländer des Balkons und schaute in den Innenhof, der nun doch recht tief unter ihm lag. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören. Er beeilte sich, zum Rand des äußerten linken Fensters zu gehen, solange er wusste, dass niemand da war, der ihn stören oder entdecken konnte. Aus seiner Umhängetasche nahm er einen der Steine, die er auf den Rat von Onkel Heinrich auf dem Weg eingesammelt hatte, zog seine Weste aus und wickelte das schwere Objekt darin ein. Nach einem letzten prüfenden Blick nach unten stellte Timothy sich seitlich an das Fenster und schlang die Weste mit dem Stein nach außen um seinen Ellenbogen. Ein einziger schneller Schlag und schon hatte sich ein kleines Loch in der Scheibe aufgetan. Das Klirren war nicht so laut, wie er es erwartet hatte, doch klang es seltsam deplatziert in der Stille des Innenhofs. Timothy bewegte für einen Moment keinen einzigen Muskel und lauschte. Als er keinerlei Reaktion vernahm, reichte er durch das Loch und öffnete den Sicherungshaken des Fensters. Ein sanfter Stupser ließ das gesamte Fenster daraufhin nach innen schwingen. Timothy betrat Langeroogs Zimmer.
Trotz der immens großen Fenster, die immerhin eine gesamte Wand der Wohnung einnahmen, war es drinnen schummrig. Die Luft war stickig und erfüllt vom typischen Geruch nach Staub, der sich in selten genutzten Räumen festsetzte. Timothy stand in einem geräumigen Zimmer, das wohl am ehesten als Wohnstube bezeichnet werden konnte. Es gab einen langen Tisch, um den in regelmäßigen Abständen acht Stühle angeordnet waren. Darauf stand in der Mitte ein mehrarmiger silberner Kerzenleuchter, die Kerzen weiß und ungebraucht. Zu Timothys Rechten war eine Art Sitzecke angeordnet, bestehend aus mehreren Sitzkissen und zwei sich gegenüberstehenden Sofas, in der Mitte ein kurzbeiniger Tisch mit einem hölzernen Schachbrett darauf. Ansonsten war der Raum mit einigen Bücherregalen, Kommoden und einem zweiflügeligen Schrank eingerichtet. Drei Türen führten aus dem Raum heraus, die gegenüber der Fensterfront schien die Eingangstür zu sein. Für Timothy sah es aus, als wäre diese Wohnung unbewohnt, er sah keinerlei Gegenstände, die dem Raum einen Anschein von Persönlichkeit verliehen. Entweder hatte Langeroog keinerlei persönlichen Dinge mit hierhergebracht oder sie waren in den beiden anderen Räumen untergebracht, zu denen die Türen führten. Auf leisen Sohlen schlich Timothy über den orientalisch anmutenden Teppich, der fast den gesamten Boden bedeckte. In der Wohnung war es komplett still, weil offenbar niemand da war, zu seinem Glück. Trotzdem vermied er jedes Geräusch, sofern es ihm möglich war. Er schaute sich noch einmal genau in dem großen Wohnraum um, sah aber nichts, was seine Aufmerksamkeit erregte. Daher begab er sich als nächstes zu der Tür rechts von ihm.
Timothy schlich an der Sitzgruppe und dem Tisch mit dem Schachbrett vorbei. Als er an der Tür ankam, legte er ein Ohr gegen das Holz der Tür und lauschte. Nichts war zu hören. Mit bedächtigen Bewegungen drückte er die Klinke herunter, die trotz aller Vorsicht ein leises metallisches Klicken von sich gab. Die Tür ging nach innen auf und Timothy trat in den Raum hinein, der sich als Schlafzimmer herausstellte. Ein riesiges Bett mit Baldachin an der gegenüberliegenden Wand dominierte das Zimmer, das ähnlich große Ausmaße aufwies wie der Wohnraum. Auf der linken Seite öffnete sich ein Fenster auf eine Gasse, die offenbar von der Hauptstraße abzweigte, die Timothy vorhin noch entlanggelaufen war. Also musste sich die Wohnung an dieser Stelle über einen Teil des gesamten Stockwerkes erstrecken. Timothy lehnte die Tür hinter sich an und schritt weiter in die Mitte des Raumes. Er musste nicht groß suchen, um Langeroogs persönlichen Sachen zu finden. Direkt neben dem Bett waren Kisten aufeinandergestapelt, lagen vollgestopfte Taschen. Ein scheinbar heilloses Durcheinander, aufgereiht entlang der gesamten Wand. Die Tür würde sich gar nicht ganz öffnen lassen, da sie von all dem Gepäck blockiert werden würde. Timothy wusste gar nicht so recht, wo er anfangen sollte zu suchen. Glücklicherweise hatte sein Onkel ja in Erfahrung gebracht, dass die seltenen Bücher in einer Art verschließbarer Truhe aufbewahrt wurden. Unter all den Kästen, Taschen und Beuteln sah er auf den ersten flüchtigen Blick aber keine Truhe mit einem Schloss oder etwas, was auch nur annähernd so aussah. Er würde sich also durch alles durchwühlen müssen.
Zunächst räumte er alles, was irgendwie taschenartig aussah oder aus Stoff bestand auf das Bett, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Möglicherweise hatte Langeroogs Handlanger Onkel Heinrich auch Unsinn erzählt und eine solche Truhe, wie er sie beschrieben hatte, existierte gar nicht. Doch Timothy ließ es vorerst darauf ankommen und sortierte alles, was keine Kiste war oder nicht aus Holz bestand, auf einen Haufen auf das Bett. Bei einigen merkte er beim Hochheben schon, dass dort keine Bücher drin sein konnten, sondern wahrscheinlich nur Kleidung hineingestopft war. Diese legte er ans Kopfende. Bei anderen war er sich nicht sicher, was darin sein könnte, doch er war konsequent und sammelte sie zuerst ohne in jede Tasche hineinzuschauen. Das hätte ihn zu viel Zeit gekostet, die er nun mal nicht hatte. Zunächst ging er noch behutsam vor, doch er merkte schnell, dass er die schiere Menge unterschätzt hatte, weshalb er letztendlich dazu überging, die Taschen einfach zu werfen. So legte er in kurzer Zeit die Kisten und Holzboxen frei. Auch wurde ihm schnell klar, dass er nicht jede einzeln durchschauen konnte, aber er sah auch jetzt noch keine Truhe mit einem auffälligen Schloss daran. Ohne große Hoffnung öffnete er eine der kleineren Holzkisten. Er hob den Deckel davon ab und blickte auf stapelweise aufgeschichtete Papierbögen, bis zum Rand reichten sie. Ein knapper Blick genügte, um zu sehen, dass es sich dabei um Kalkulationstabellen und andere Buchhaltungsunterlagen handelte. Er verschloss die Kiste wieder. So schaute Timothy sich noch zwei weitere Behälter an, jedoch ohne die gesuchte Truhe oder gar das Buch zu finden. Langsam wurde ihm bewusst, dass er sich schon recht lange in Langeroogs Wohnung aufhielt. Und das ohne irgendeinen nennenswerten Fortschritt gemacht zu haben. Viele der Kisten waren zudem zugenagelt und Timothy sah momentan keinen Weg, wie er diese Deckel lösen sollte. Er musste sich eingestehen, dass er zu blauäugig an dieses Vorhaben herangegangen war. Als größtes Problem hatte er das Eindringen in die Wohnung erwartet, jedoch war ihm dies vergleichsweise einfach von der Hand gegangen. Nun stand er vor dem weitaus größeren Problem.
Sein Auftrag überforderte ihn, er wusste nicht, wie er weitermachen sollte oder ob das alles überhaupt einen Sinn hatte. Er spürte Verzweiflung in sich aufsteigen und setzte sich resigniert auf die seidene Tagesdecke auf dem gewaltigen Bett. Jede Minute, die er hier länger verbrachte, machte es wahrscheinlicher, dass jemand ihn erwischen würde. Das wurde ihm immer mehr bewusst, half aber nicht gerade dabei, seine Aufgabe zu erfüllen. Er durfte nun nicht die Nerven verlieren.
Mit dem Kopf in die Hände gestützt starrte er auf den Boden. Dann wurde sein Blick von dem tiefschwarzen Ebenholzschrank angezogen, der an der gegenüberliegenden Wand neben dem Fenster stand. Vielleicht war es ganz sinnvoll, sich im gesamten Raum umzuschauen, vielleicht finde ich ja irgendein Werkzeug, dass mir irgendwie weiterhilft, die vernagelten Kisten zu öffnen, dachte Timothy. Er stand auf und ging zu dem Schrank hinüber, der ein gutes Stück über seinen Kopf hinausragte. Die Vorderseite bestand aus zwei Flügeltüren, darunter waren drei gleichgroße Schubladen angeordnet. Timothy griff nach den Messinggriffen, die sich jeweils an den Türen befanden, und rüttelte daran. Die Türen bewegten sich keinen Deut. Nur die obere Angel der rechten Türseite gab ein leises Klackern von sich. Timothy schaute sie sich genauer an und sah, dass die kleine Metallplatte, an der die Angel angebracht war, lose war und ein kleines Stück vom schwarzen Holz des Schrankes abstand.
Von dem dunklen Möbelstück ging eine seltsame Anziehungskraft aus. Timothy ging davon aus, dass sich darin wohl etwas befinden musste, was nicht einfach gefunden werden sollte, wenn der Schrank schon abgeschlossen war. Er beschloss, den Schrank auf welche Weise auch immer aufzubrechen.
Er nestelte an der Türangel herum, versuchte, die kleinen Schräubchen mit der Hand herauszudrehen, was ihm aber nicht gelang. Mit bloßer Hand kam er hier nicht weit, das wurde ihm schnell klar. Er kramte in seiner Umhängetasche und fand auch, wonach er suchte. Sein Taschenmesser, das ihm schon so oft in so vielen Situation ausgesprochen gute Dienste geleistet hatte. Er schnappte sich den Griff und zog es aus der Messerscheide, die aus weichem Leder bestand und sich immer so geschmeidig anfühlte in seinen Händen. Vorsichtig schob er die blitzende Klinge mit dem dickeren Messerrücken zwischen das Metallplättchen und das Holz. Das Messer passte gerade so dazwischen. Mit einer langsamen Bewegung drehte Timothy am Griff. Er spürte einen starken Widerstand, das Holz ächzte auf. Er drehte weiter, bis das Holz nachgab und das komplette Scharnier mit einem splitternden Geräusch aus der Tür herausbrach. Das reichte jedoch noch nicht aus. Timothy setzte die Messerklinge, diesmal mit der flachen Klinge, an das zweite, untere Scharnier an und versuchte es ebenfalls aufzuhebeln, jedoch ohne Erfolg. Dort kam er anscheinend nicht weiter, also versuchte er es noch einmal an der oberen Seite der Tür. Er rammte das Messer mit aller Kraft in den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen und hoffte, dass die Klinge so stabil war, wie sie aussah. Mit aller Kraft drückte er den Griff in Richtung des Rahmens, um die Tür so aufzubrechen. Er hatte das Gefühl, dass die Klinge sich langsam zu biegen begann, wieder ächzte das Holz unter all dem Druck. Und schließlich gab die Tür nach und sprang oben aus dem Rahmen heraus. Nun konnte Timothy sie einfach packen und mit einem Krachen nach unten stemmen. Die rechte Schranktür lag teils zerborsten auf dem Boden. Spätestens jetzt war dieser Einbruch nicht mehr zu verschleiern.
Da die eine Seite des Schrankes nun offen stand, war es kein Problem mehr, die linke Schranktür von innen aufzustemmen. Gähnend öffnete sich der schwarze Schrank vor Timothy.
Darinnen waren allerlei Dinge verstaut, aufgehängte Kleidung, Schreibutensilien, persönliche Accessoires lagen auf Innenregalen verteilt, auch Schmuck war darunter, vor allem recht große goldene und silberne Ringe. Auf dem rechten Teil des Bodenbretts standen kleine Schächtelchen aufgereiht, alle zu klein, um ein oder gar mehrere Bücher in sich zu tragen. Rechts davon war eine purpurne Wolldecke ausgebreitet, die an einer Stelle eine deutliche Ausbeulung aufwies. Aufgeregt packte Timothy die Decke und riss sie mit einem Schwung in hohem Bogen in die Luft und ließ sie hinter sich in einem verworrenen Häufchen zu Boden fallen. Vor ihm, in der hintersten Ecke des Schrankes, stand eine kleine Holztruhe, an deren Vorderseite ein seltsamer Metallmechanismus prangte. Das dunkelbraune Holz der Kiste war glatt und glänzte selbst in der schattigen Dunkelheit des Schrankes. Timothy griff mit beiden Händen danach und hob sie behutsam hoch, um sie auf dem Fußende des Bettes abzustellen. Sie war um einiges schwerer als er erwartet hatte. Er kniete sich vor das Bett, um die Truhe genauer betrachten zu können. Im Tageslicht, das durch die Fenster hereindrang, konnte Timothy die Kunstfertigkeit dieser Handwerksarbeit erkennen. Hierbei handelte es sich nicht um ein herkömmliches Möbelstück, dass man beim lokalen Schreiner um die Ecke erstehen konnte, das sah er sofort. Es schien auf den ersten Blick so, als wäre die Kiste aus einem einzigen Stück Holz gefertigt. Und aus einem exotischen Holz noch dazu. Eine solche Maserung hatte Timothy noch nie irgendwo gesehen. Außer des Schlosses war von außen nichts zu erkennen, keine Klappscharniere oder Tragegriffe, nicht eine einzige Verzierung. Einzig die vier Bodenecken waren mit einem matten silbernen Metallbeschlag verstärkt. Selbst der Schlitz zwischen Deckel und Korpus war mit bloßem Auge fast nicht auszumachen.
Ein Anflug von Ehrfurcht überkam Timothy, als er die Truhe so betrachtete. Er klopfte zweimal kurz auf den Deckel. Ein hohles Pochen antwortete ihm. Er hob die Truhe wieder hoch und bewegte sie sachte hin und her. Nichts. Keine Bewegung im Inneren, kein Klappern. Aber das musste sie sein, dies musste die Truhe sein, in der Langeroog das gesuchte Buch aufbewahrte, da war sich Timothy sicher. Die Beschreibung des Handlangers passte genau. Timothy lehnte sich weiter vor und besah das metallene Schloss. Er konnte ein paar winzige Metallstifte und Knöpfe ausmachen, aber keine Öffnung für einen Schlüssel. Die Stifte ließen sich einfach hin und herbewegen, doch nicht mit dem gewünschten Erfolg. Er sah keinen Weg, die Truhe auf der Stelle zu öffnen. Die Zeit, einen Schlüssel zu suchen, falls es denn überhaupt einen gab, hatte er auch nicht. Die Öffnung würde ihn und Onkel Heinrich zwar noch vor ein Rätsel stellen, aber das war nicht weiter schlimm, solange die Truhe mit ihrem Inhalt wenigstens schon in ihrem Besitz war. Zur Not würden sie sie eben aufbrechen. Also klemmte er sich seine Trophäe unter den Arm und ließ das Zimmer in dem verwüsteten Zustand hinter der Tür, die er hinter sich schloss. Langeroog würde sowieso schnell bemerken, dass seine wertvolle Truhe nicht mehr an ihrem angestammten Platz stand, also wäre es auch von keinem großen Nutzen gewesen, wenn Timothy seine oberflächlichen Spuren notdürftig beseitigt hätte. Und der Schrank war sowieso unwiederbringlich hinüber.

Schon nach kurzer Zeit des Tragens machte sich das zusätzliche Gewicht unangenehm bemerkbar. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass die Truhe so unhandlich war und Timothy sie seitlich gegen seine Hüfte pressen musste, um sie sicher tragen zu können. So bepackt würde der erneute Abstieg immens erschwert, vielleicht sogar unmöglich sein, dachte er sich. Er stellte die Truhe vor dem offenstehenden Fenster ab, durch das er eingetreten war, und schaute sich ein wenig ratlos in dem Raum um. Sein Blick fiel auf die Vorhänge. Ihm sprang eine Idee in den Sinn, inspiriert von einer Geschichte, die er einmal als kleiner Junge gelesen hatte, doch konnte er nicht mehr genau zuordnen, welches Buch das gewesen war. Er ging zu einem der Vorhänge und löste den Haken an dem Band, durch das er zurückgehalten wurde. In einer wallenden Bewegung entfaltete sich der Vorhang und bedeckte nun einen Teil des Fensters. Timothy befühlte ihn mit einer Hand. ‚Das müsste funktionieren. Wenn ich mich nicht zu dämlich anstelle‘, dachte er bei sich, während er den Vorhang samt Aufhängung begutachtete. Über dem Fenster war das Stofftuch an einer hölzernen Stange eingefädelt, die an der Wand angebracht war. Die Halterungen waren nicht sonderlich dick, Timothy schätzte, dass er sie mit etwas Kraft einfach abbrechen konnte. Er warf einen Blick hinaus auf die Balustrade des Balkons. So stand er inmitten von Langeroogs Wohnung und bedachte seinen Plan, wollte gerade hinaustreten auf den Balkon und die darunter angebrachte Steinfigur des Löwen noch einmal inspizieren, als er vor der Tür eine lauttönende Männerstimme vernahm. Vor Schreck fast wie erstarrt wandte Timothy sich um und schaute panisch auf die Tür. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er seine Entscheidung gefällt.
Er schnappte sich einen Stuhl, der direkt neben ihm stand, und sprang mit einem Satz darauf. Mit beiden Händen zog er an der Holzstange. Dies zeigte keine große Wirkung, also ließ er sich, während er die Stange weiterhin festumschlossen hielt, mit seinem ganzen Gewicht vom Stuhl fallen. Der Holzstab brach krachend von den Wandhalterungen ab und Timothy landete inmitten des wogenden Vorhangs auf dem Boden. Das Splittern des abbrechenden Holzes und das darauffolgende Poltern drangen durch die Wohnungstür nach außen, die auch prompt aufflog. Im Türrahmen erkannte Timothy sofort die hochgewachsene Statur Langeroogs. Aus seinem wutverzerrten Gesicht stachen seine hellen Augen blitzend hervor und fixierten zunächst Timothy und dann die Truhe, die immer noch auf dem Boden stand. Ein Ausdruck der Erkenntnis überkam Langeroogs Züge. Hinter ihm drängte sich einer seiner Handlanger durch die Tür. In der Zwischenzeit hatte Timothy schnell den Vorhang von der Stange abgezogen und sich über die Schulter geworfen. Er hechtete zu der Truhe, klemmte sie sich unter den Arm und stürmte durch das Fenster nach draußen. Er hörte noch die zornige Stimme Langeroogs hinter sich, der dem anderen Typen einen harschen Befehl zurief. Timothy schaute sich nicht mehr um, einerseits aus reiner Furcht, aber auch um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Er lief direkt in die Mitte des Balkons, worunter sich die steinerne Löwenfigur befand. Ohne zu überlegen beugte er sich so weit wie möglich über das Geländer und warf die Truhe auf den Balkon des unter ihm liegenden Stockwerks, wo sie mit einem lauten Knall aufschlug. Dann riss er sich den Vorhangsstoff von der Schulter und ließ diesen geschickt um den Kopf des Löwen gleiten, sodass er wie eine Schlaufe um dessen Hals geschlungen lag. Durch das offene Fenster stürzte nun Langeroogs Handlanger, dicht gefolgt von ihm selbst, eine Mischung aus Besorgnis und rasender Wut in den Augen. Timothy hatte keine andere Wahl als seinen eingeschlagenen Plan durchzuführen, sofern er nicht von diesen Kerlen geschnappt werden wollte. Und das wollte er um jeden Preis vermeiden. Er stieg auf das Geländer, warf einen unsicheren Blick unter sich und sprang, den Vorhang fest in den Händen.

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@Qualle_mit_Hut @Tweeny Habt ihr euch schon Gedanken über diesen Kurzgeschichten-Wettbewerb gemacht? Wenn wir da alle eine ungefähre Idee und vielleicht ein bisschen was ausgearbeitet haben, können wir uns ja mal austauschen, damit wir nicht im exakt gleichen Themengebiet wildern (wobei das ja sowieso schon sehr eng gesteckt ist).
Und am Ende vielleicht gegenseitig über die Geschichten drüberlesen. :blush:

Gilt natürlich auch für alle anderen, die mitmachen möchten, aber sonst hatte sich ja keiner gemeldet.

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Gut, dass du daran erinnerst! :blush:
Habe mir noch keinerlei Gedanken gemacht, werde das aber dann mal in nächster Zeit tun. Einen kleinen Austausch fände ich auch fein!

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Hab auch grade erst damit angefangen und versuche, mir etwas zu überlegen, was nicht schon 185-mal in dem Bereich erzählt wurde. Spoiler: gar nicht so einfach. :confused:

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Das glaube ich dir.
Ich würde ja ganz gerne mal was witziges schreiben, ich weiß nur nicht, ob ich witzig kann. :smile:

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Ein paar Gedanken schon, aber nichts Konkretes. Wie du sagst, gab es irgendwie alles schon mal.
Ich werde wahrscheinlich irgendwas komplett abstruses schreiben.

Wir können uns da gerne abstimmen :slight_smile:

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Doppelpost, oh no!

Wie weit seid ihr mit euren Geschichten? Schreibt ihr überhaupt noch?
Ich schiebe das Editing meines NaNo-Geschreibsels vor mir her. Für den Schreibwettbewerb fällt mir partout nichts ein. Sci-Fi ist eh nicht mein Genre, und jede kleine Idee von mir ist entweder abgedroschen oder albern.

Bei euch?

Hejo!
Ich schreibe im Moment auch nicht. Bzw, heute schon, aber für einen Kurzgeschichtenwettbewerb (in dem anderen Schreiberling-Thread hatte ja jemand ne Liste gepostet).
Die Geschichte wird allerdings zu lang und ich weiß jetzt schon, dass ich da gar nicht so viel kürzen kann. Mal gucken, ob das noch was wird.

Möchte aber bald weitermachen mit der Dachsgeschichte. :blush:


Edit: KANN.NICHTS.LÖSCHEN! :wtf:

Ja. :slight_smile:
Die NaNo-Geschichte läuft momentan so ein bisschen nebenher. Bin jetzt so zwischen der Hälfte und Dreiviertel, würde ich schätzen. Aber in nächster Zeit will ich auch eher ein paar Wettbewerbstexte schreiben, beides gleichzeitig ist irgendwie nicht so doll.
Das Sci-Fi-Ding fällt mir auch ein bisschen schwer. Hab zwei Anfänge geschrieben, wovon einer überhaupt nicht funktioniert, der zweite… auch nicht, aber den versuche ich grade trotzdem zu ner Geschichte zu verwursten.
Das Thema ist irgendwie sehr eng, um da viel draus zu machen. Und irgendwie hab ich mir in den Kopf gesetzt, das Thema Religion da mit reinzubringen. :facepalm: Funktioniert super. Nicht.

Interessant, dass es euch gerade auch so geht.

Von welchen anderen Wettbewerben redet ihr denn? Im Moment ist gerade viel los, sodass ich wahrscheinlich eh nicht zum Mitmachen kommen werde, aber vielleicht küsst mich ja die Muse auf diesem Weg wieder…

In dem anderen Schreibthread hat jemand diese Seite hier gepostet, wo ganz viele Ausschreibungen gesammelt sind. :slight_smile:

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Wow, das sind ja echt einige. Vielen Dank!

Ich hoffe trotzdem, dass der hiesige Autorenwettbewerb irgendwann wieder kommt. Und ganz besonders, dass dieser Thread nicht ganz in der Versenkung verschwindet. Ich mag unseren kleinen Zirkel hier :slight_smile:

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Ich schreibe gerade einen Tierkrimi (für Kinder) für einen der Wettbewerbe von der Seite. Hoffe, ich werde nicht wieder ein Zeichenproblem bekommen, muss aber sagen, dass mir das Schreiben bisher sehr viel Spaß macht! Vielleicht sollte ich mehr Kindergeschichten schreiben. :blush:

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Sehr cool! Kann ich mir von dir auch ganz gut vorstellen, dachsmäßig hast du da ja schon etwas Erfahrung. :blush:
Dafür will ich auch ne Geschichte schreiben, sobald meine aktuelle fertig ist (was hoffentlich diese Woche passiert), aber bisher waren meine Ideen entweder eins zu eins von „Basil, der große Mäusedetektiv“ oder Florentins P&P inspiriert. :smile: Da muss ich noch etwas überlegen.

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Habe mich nun aber gegen ein Säugetier entschieden. :slight_smile:
Bin immer noch dran - macht echt Bock!


Edit: Komme nun langsam ans Eingemachte, sind nämlich nicht mehr als 35k Zeichen erlaubt und ich bin nun bei knapp über 25. Der Krimi muss noch sinnvoll aufgelöst werden und dann fehlt noch das Ende. Hoffe, es wird nicht wieder so ne krampfige Sache, wie bei der letzten, wo ich Zeichen löschen musste.

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