Vier Brüder und der Blaukische Bohnenwuchs
„Und? Was siehst du? Sollen wir’s versuchen? Kommt schon, jetzt macht euch doch nicht in die Hose, werft mich einfach und ich mach aus denen Mikadostäbchen!“ Bordo hievte sich enthusiastisch aus dem Sand hoch, seine Augen vor Kampfeslust flackernd. „Komm schon Olaf, wirf mich! Oder wollen wir das Bobo-Rad machen?“
Brontus schüttelte schweigend den Kopf und Olaf drückte seinen Bruder zurück in den heißen Sand, in welchem die vier Brüder lagen und über eine Düne hinweg die Gruppe Menschen beobachtete, welche sich ächzend und wimmernd unter dem erbarmungslosen Schein der Sonne durch die Wüste schleppten. „Bordo, Bordo, wie sagte eins Karl Ender: Wer sich in den Kampf stürzt kopflos, der ist im Kampf bald seinen Kopf los!“
„Ich geben Brontus recht“, sagte Oleg in seinem russischen Akzent, der gerade das Fernglas von seinen Augen nahm und mit dem Ärmel die Gläser des Fernstechers sauberwischte. „Ich sehen darnisch-en-snasch, ne, dnasnisch-en-snasch Trauernde.“ Seine Brüder blickten Oleg verständnislos an, dieser rollte die Augen. „Achtzehn! Da seien achtzehn Trauernde!“
„Ah!“, meinte Olaf, als ihn die Erkenntnis traf. „Und siehst du auch noch Herders? Oder sind die allein?“
Oleg legte das Fernglas erneut an und blickte auf die Trauernden, die etwa dreihundert Meter von der Gruppe entfernt waren. „Hm…ne…ich sehen sonst niemanden…die scheinen allein zu sein! Keiner Reiter, keiner Herders.“
„Dann lass uns die doch fertigmachen!“, krakelte Bordo und richtete sich seinen Eisenhelm, bereit, die Deckung zu verlassen und auf die Trauernden loszustürmen.
„Aber aber, Bordo, gemach!“, erwiderte Brontus. „Das könnte eine Falle sein. Wie einst schon Karl Ender philosophierte: Manche Dinge, die einfach aussehen, entpuppen sich als schwere Aufgabe. Nimm nicht immer den einfachen Weg, denn er könnte verborgene Verborgenheiten verbergen. Ich schlage vor, wir umgehen die Trauernden!“
„Brontus haben wieder recht!“, pflichtete Oleg seinem Bruder bei.
Bordo schnaubte verächtlich unter seinem Eisenhelm. „Ihr Feiglinge! Ich sollte entscheiden, was mir machen, schließlich bin ich der älteste von uns vie-„
„-und der kleinste!“, unterbrach Olaf seinen Bruder.
Zwischen den schmalen Augenschlitzen des Helms blitzten Bordos Augen auf. „Und der kräftigste! Und der mutigste!“
Olaf lachte auf. „Aber nicht der am besten eingeölteste! Da bin ich der Champion drin!“ Um seine Aussage zu unterstreichen, wühlte Olaf aus einer seiner Hosentaschen ein Fläschchen Sonnenöl hervor, mit welchem er sich ausgiebig bestrich.
„Nun hören endlich auf mit diese dauerhafte Streit!“, brummte Oleg seine Brüder mahnend. „Wir gehen jetzt einfach um diese Trauernde herum, dann wir nicht müssen kämpfen! Zeigen mir mal das Buch der Tausend Wege, Brontus!“
Brontus seufzte, robbte sich von dem Rand der Düne weg und griff in seine Tasche. Aus dieser holte er ein Artefakt aus der Alten Welt, welches er mit Inbrunst in den Augen an seinen Bruder weitergab. Oleg setzte sich im Schneidersitz in den warmen Sand und strich mit der Hand den Dreck und Staub, welche sich auf dem Buchdeckel niedergelassen hatten. „Dirke Wetals 207“ standen in langsam verbleichenden Buchstaben auf dem blauen Cover, auf dem die Welt abgebildet war, wie sie einst mal gewesen war.
Vor dem Kollaps der Zivilisationen.
Vor dem Vergessen der Menschlichkeit.
Vor dem Verfall der Moral.
Vor dem täglichen Morden.
Vor dem allgegenwärtigen Hunger.
Vor dem T.E.A.R.S.-Virus.
Eine alte Welt.
Eine tote Welt.
Die Brüder versammelten sich um Oleg, als dieser das Buch aufschlug und durch die angerissenen, vergilbenden Seiten blätterte, bis er schließlich die Karte fand, nach der er gesucht hatte. Alte Zungen hatten E-Central, wie es heute nur noch genannt wurde, altes Festland oder Europa genannt, doch waren diese Namen mittlerweile nur noch ein leises Flüstern. „Wir seien ungefähr…hier!“, sagte Oleg und deutete mit dem Finger auf einen Punkt in der Karte.
Die Brüder nickten und murmelten zustimmend. Brontus, der sein Haustier, den Europäischen Hummer namens Locus, ebenfalls aus der Tasche geholt hatte und diesem gerade zärtlich den Panzer kraulte, fuhr fort. „Im Nord-Westen, in den Toten Wäldern, ist das Gebiet der Tree-Man. Wenn wir einfach nur nach Süden gehen, kommen wir zu den Feudals, im Osten sind die Tribals. Im Süd-Osten erreichen wir zuerst die Kinder des Chaos und dann, irgendwann später, sollten wir zu den Holys kommen. Was meint ihr, welche dieser…“, Brontus machte eine kurze Denkpause, um seine nächsten Worte zu formulieren. „…bemerkenswerten Kulturen sollten zuerst in den Geschmack der unglaublichen Wrestling-Künste der Bobo-Brüder kommen?“
Olaf zuckte mit den Schultern. „Ich wette, bei den Tribals kann ich mir noch mehr Öle besorgen! Mir fehlt schließlich noch ein Gute-Nacht-Öl zum Schlafen, ein Eidechsen-Schuppen-Öl gegen Falten…“ Sein Blick fiel auf den Hummer Locus in Brontus Armen, an dessen Scheren mit Panzerklebeband ein Messer und eine Gabel angebracht worden waren. „…und Locus braucht noch ein Öl, damit er sich keinen Sonnenbrand auf dem Panzer holt!“
„Aber sind die nicht allen Fremden feindlich gesinnt? Heißt es nicht, dass niemand, der je in den Urwald der Tribals gegangen ist, je wiedergekommen ist?“, warf Bordo ein, dessen Stimme unter dem Eisenhelm ein wenig gedämpft klang.
„Papperlapapp!“, winkte Brontus ab. „Das sind doch alles nur Vorurteile und Hörensagen! Wie Karl Ender schon sagte: Wer die Augen schließt und sich nur von Vorurteilen leiten lässt, der läuft blind durch die Welt. Öffne die Augen, dann sieht du die Welt auch.“
„Dann wir gehen zu den Tribals? Und hoffen, dass wir nicht direkt gemacht werden tot?“, fragte Oleg unsicher.
„So ist es! Auf in den Dschungel der Tribals, die werden staunen, was die Bobo-Brüder ihnen zu zeigen haben!“
So zogen die vier Wrestling-Brüder weiter, ließen die Gruppe Trauernde links liegen und gingen, immer brav dem Buch der Tausend Wege folgend, tiefer und tiefer in die Wüste. In dem tagelangen Marsch erblickten sie abgesehen von einzelnen Trauernden nur Sand, Sand und nochmals Sand.
„Ich mag Sand nicht!“, meinte Olaf schließlich. „Er ist kratzig und rau und unangenehm! Er ist einfach überall! Gehen wir überhaupt in die richtige Richtung?“
„Na aber sicher!“, echauffierte sich Brontus. „Wie Karl Ender schon sagte: Folgt eurem Willen, dann werden ihr euer Ziel schon erreichen. Wir müssen einfach nur der Sonne folgen, die wird uns sicherlich aus der Wüste bringen!“
Oleg schüttelte nur den Kopf. „Aber die Sonne sich doch immer drehen! Wir dann doch nur laufen im Kreis!“
„Genau!“, empfand Bordo. „Woher wissen wir denn, dass wir in die richtige Richtung gehen? So ganz ohne Kompass!“
Olaf verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte beleidigt. „Moment mal, es ist nicht nur meine Schuld, dass wir den Kompass verloren haben! Schließlich hat Oleg mir den Kompass ja damals zugeworfen, was kann ich dafür, dass er mir durch die geölten Hände flutscht und in den Fluss fällt?“
„Welcher Idiot haben denn den ganzen Tag seine Hände ölen? Da werfen man einmal und flupsch, Kompass weg!“, brummte Oleg.
Brontus konnte bei dem mangelnden Glauben seiner Brüder nur den Kopf schütteln. „Ihr werdet es schon noch sehen.“ Plötzlich schrie er wie von einer Tarantel gestochen auf und hüpfte wild gestikulierend umher. „Seht! Seht! Ich habe es geschafft!“, rief er und deutete in den Sand. Seine Brüder sahen sich verwirrt an, doch als sie näher traten erkannten sie, weswegen Brontus gerade am Ausflippen war. Eine kleine Blume spross zwischen dem Sand und rotem Wüstengestein den Bobos entgegen, ihr Blütenkleid dunkelblau-weiß gefärbt, ein einzelnes Blatt an ihrem Blumenstängel hängend.
„In der Wüste wachsen für gewöhnlich keine Pflanzen!“, begann Brontus zu referieren. „Und dank meiner herausragenden Fähigkeiten in den Naturwissenschaften, mein vorheriger Beruf als Meeresbiologe sei Dank, kann ich genau sagen, dass diese Pflanze hier der Blaukische Bohnenwuchs ist! Diese Pflanze braucht sehr viel Wasser und ist für gewöhnlich nur in Wäldern zu finden, was also bedeutet, dass wir in der Nähe eines Waldes sein müssen! Und wer lebt in einem Wald?“
„Die Tribals!“, jubelten die Gebrüder Bobo.
„Außerdem“, fuhr Brontus fort. „zeigt das einzelne Blatt des Blaukischen Bohnenwuchs genau in die Richtung, in welche die Wurzeln der Pflanze verlaufen! Die Wurzeln haben ihren Ursprung natürlich im Wald, also müssen wir sehr nah sein! Über die nächste Düne und ich verspreche euch, dann werden wir bei den Tribals sein!“
„Hurra! Die Bobos kommen!“, riefen die Wrestling-Brüder euphorisch. Bordo riss die Blume kurzerhand aus dem Boden, dann stürmten sie schnellen Schrittes und laut jubelnd die Düne herauf. Als sie jedoch die Düne heraufgestürmt waren und über die andere Seite blickten, blieben die vier Wrestler wie versteinert stehen. Anstatt eines Waldes blickten sie in ein kleines Lager, in welchem einige Fahrzeuge und Zelte um ein kleines Lagerfeuer gestellt waren. Etwa vierzig Augenpaare blickten die Bobos verwundert an, stumm blickten die Bobos, ihren Schrei noch auf den Lippen, die Menschen an, welche sich um das Lagerfeuer versammelt hatten. Fast alle waren mit Knüppel und Eisenstangen bewaffnet, der Blick der Versammelten wurde mehr und mehr feindselig. Langsam richteten sich die Gestalten auf und gingen langsamen Schrittes auf die Wrestling-Brüder zu.
Bordo schluckte schwer. „Ähm…Brontus…bist du dir ganz sicher, dass diese Personen zu den Tribals gehören?“
„Ähm“, Brontus biss sich verlegen auf die Unterlippe. „Nein, ich glaube nicht!“
„Seien es möglich, dass die Blume hier gar nicht die Blaukische Bohnenwuchs seien?“, fragte Oleg.
Brontus verzog das Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Es könnte, rein theoretisch, auch die Mother-Blume sein, eine Wüstenblume…also rein theoretisch…“
Plötzlich trat Olaf einen Schritt auf die sich langsam Annähernden zu, sodass diese mitten in ihrer Bewegung stehenblieben. „Seid gewarnt, ihr Stinker! Vor euch stehen die echten, die einzig wahren Bobo-Brüder! Unser Wrestlingkönnen ist in ganz E-Central bekannt! Wenn ihr gegen uns kämpfen wollt, werdet ihr es bereuen!“
„Stinker? Wir?“, tönte es aus der Gruppe, ein verrücktes Lachen folgend, in welches alle Fremden miteinfielen. „Riechen wir etwa so schlecht?“, meinte ein anderer. Die Gruppe hatte die Brüder nun fast komplett eingekreist.
„Naja“, meinte Oleg. „Gut riechen tuen ihr nicht…“
„Stinker sind wir deswegen noch lange nicht!“, klang es beleidigt aus der Gruppe der Angreifer. „Das hier ist ein Vorposten der Kinder des Chaos und ihr“, die Bobos waren nun komplett eingekreist. „habt unbefugt unser Gebiet betreten!“ „Das ist verboten!“ „Lassen wir Mother darüber richten! Ab zu Mother mit ihnen!“
„Aber aber!“, Brontus hob beschwichtigend die Hände. „Es war gar nicht unsere Absicht, in euer Territorium einzudringen, wir sind doch keine Schurken! Karl Ender hat schon gesagt: Wer durch ein fremdes Gebiert wandert, der-“
Weiter kam Brontus nicht, da sich die Kinder des Chaos auf die Bobo-Brüder stürzten…