(Teil)Vortrag von Pierre Bourdieu - Über das Fernsehen (2010)
Das Fernsehstudio und seine Kulissen
Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann, zumal nicht über das Fernsehen. Wenn es aber wahr ist, daß man im Fernsehen nichts sagen kann, sollte ich dann nicht mit vielen der größten Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller daraus den Schluß ziehen, es gar nicht erst zu versuchen?
Mir scheint, man braucht diese krasse Alternative »alles oder nichts« nicht hinzunehmen. Ich glaube, es ist wichtig, im Fernsehen zu sprechen – aber unter bestimmten Voraussetzungen. Dank der audiovisuellen Abteilung des Collège de France verfüge ich heute über ganz außergewöhnliche Voraussetzungen: Erstens ist meine Redezeit nicht begrenzt; zweitens zwingt mir niemand ein Thema auf (ich habe mich selbst dafür entschieden und kann meine Entscheidung immer noch umstoßen); drittens sitzt nicht, wie in den üblichen Sendungen, jemand da, der mich im Namen der Technik, der »Zuschauer-denen-man-erklären-muß«, der Moral, der Schicklichkeit usw. zur Ordnung ruft. Also eine ganz ungewöhnliche Situation, besitze ich doch, um mich altmodisch auszudrücken, eine ganz unübliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Indem ich unterstreiche, was meine Voraussetzungen an Außergewöhnlichem haben, sage ich schon etwas über die gewöhnlichen Voraussetzungen, unter denen man sonst im Fernsehen sprechen muß.
Warum aber, wird man einwenden, wird trotz allem akzeptiert, unter den gewöhnlichen Voraussetzungen in Fernsehsendungen aufzutreten? Eine sehr wichtige Frage, und trotzdem wird sie von der Mehrzahl der Forscher, der Wissenschaftler, der Schriftsteller, die an solchen Sendungen teilnehmen, nicht gestellt – von den Journalisten ganz zu schweigen. Daß diese Frage nicht gestellt wird, muß man, wie mir scheint, unbedingt in Frage stellen. Meines Erachtens verrät derjenige, der eine solche Teilnahme akzeptiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob er überhaupt etwas wird sagen können, deutlich, daß er nicht kommt, um etwas zu sagen, sondern aus ganz anderen Gründen, und zwar: vor allem um sich zu zeigen und gesehen zu werden.
«Sein«, sagt Berkeley, »ist wahrgenommen werden.« Für manche unserer Philosophen (und unserer Schriftsteller) ist Sein: im Fernsehen wahrgenommen werden, von den Journalisten wahrgenommen werden, von ihnen, wie man so sagt, gern gesehen werden (was zahlreiche Kompromisse und Kompromittierungen mit sich bringt) – und tatsächlich können sie kaum davon ausgehen, durch ihr Werk auf Dauer zu existieren, so daß sie sich gezwungen fühlen, so oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen, also in regelmäßigen und möglichst kurzen Abständen Schriften zu publizieren, die, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, hauptsächlich verfaßt werden, um deshalb Einladungen zu Fernsehsendungen zu erhalten.
Diese Präambel erscheint vielleicht ein wenig lang, aber ich finde es wirklich wünschenswert, daß die Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler sich ausdrücklich – und womöglich gemeinsam, damit nicht jeder es nur mit sich selbst abmachen muß – die Frage stellen, ob man Einladungen zu Fernsehsendungen annimmt oder nicht, ob man Bedingungen damit verbindet oder nicht, usw. Mir liegt sehr daran (mag dies auch ein Wunschtraum bleiben), daß sie dieses Problem angehen, und zwar gemeinsam, daß sie Verhandlungen mit Fachjournalisten und anderen aufzunehmen versuchen, um zu einer Art vertraglicher Abmachung zu gelangen. Selbstverständlich geht es nicht darum, die Journalisten zu verurteilen oder zu bekämpfen, die unter den Zwängen, die auszuüben sie genötigt sind, häufig genug selbst leiden. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, sie an Überlegungen zu beteiligen, die darauf abzielen, Mittel zur gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumentalisierung ausfindig zu machen.
Die schlichte, Weigerung, sich überhaupt im Fernsehen zu äußern, scheint mir nicht vertretbar. Ich denke sogar, daß man in bestimmten Fällen förmlich dazu verpflichtet ist – allerdings müssen vernünftige Voraussetzungen dafür gegeben sein. Bei der Entscheidung ist das Spezifische des Instruments Fernsehen in Rechnung zu stellen. Wir haben es hier mit einem Instrument zu tun, das jedenfalls theoretisch die Möglichkeit gibt, jedermann zu erreichen. Daher sind ein paar Vorfragen zu berücksichtigen: Geht das, was ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede formal so zu gestalten, daß alle sie verstehen? Verdient sie, von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie überhaupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem vielleicht der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ihrer Forschung allen zugänglich zu machen. Wir sind, wie Husserl sagte, »Beamte der Menschheit«, vom Staat bezahlt, um etwas aus dem Bereich der Natur oder der Gesellschaft ans Licht zu bringen, und es gehört, wie mir scheint, zu unseren Verpflichtungen, das Entdeckte offenzulegen. Ich habe mich immer bemüht, die Frage der Teilnahme oder Nichtteilnahme an einer Sendung von der Beantwortung dieser Vorfragen abhängig zu machen, und würde mir wünschen, daß alle, die vom Fernsehen eingeladen werden, sie sich stellen oder nach und nach verpflichtet werden, sie sich zu stellen, weil die Zuschauer und Fernsehkritiker sich fragen, sobald einer von ihnen auf dem Bildschirm erscheint:
Hat er etwas zu sagen? Sind die Voraussetzungen so, daß er sich verständlich machen kann? Verdient das, was er sagt, hier geäußert zu werden? Mit einem Wort:
Was macht er da eigentlich?