Sternengrab
Der Berg war schon von weitem zu sehen, erhob sich mitten auf einer endlosen Grasebene. Seine glatten Hänge streckten sich in den Himmel, makellos, bis zum Gipfel, dessen Felsen wie weggesprengt zu allen Seiten aufklafften. Ein gefräßiger Schlund voll scharfer Zähne. Und doch war der Berg in seiner Schönheit ohne Gleichen. Denn obwohl es keinen Pfad den Berg hinauf gab, gab es unzählige hinein. Ein Labyrinth aus verschlungenen Gängen, Kavernen und riesigen Sälen durchzog das steinerne Monument. Durch einen großen Riss, dem Portal, führte ein gewundener Gang in die berühmteste Höhle des Berges – den Kristallgarten. Nach einer Allee von Stalagnaten, die so weit in die Höhe reichten, dass kein Licht ihr Ende erhellen konnte, öffnete sich der Berg zu einem farbenprächtigen, leuchtenden Kaleidoskop. Jeder Winkel war über und über mit Kristallen bedeckt, deren inneres Leuchten von unzähligen Facetten reflektiert und gebrochen wurde. Unter der Höhlendecke spann sich ein glänzender Vorhang aus feinen Fäden, übersäht von winzigen Tropfen. Doch was einst prächtig und voller Energie war, schien nun langsam zu vergehen. Nur noch am Eingang leuchteten die Kristalle mit voller Kraft. Je tiefer man in den Garten ging, desto matter wurden sie. Wo nur noch ein dumpfes Schimmern die Finsternis durchbrach lagen die Wände brach und zerbrochene Splitter am Boden. Schon lange wagte sich nur noch der Bergführer Kraahm tiefer als bis zum vorderen Kristallgarten, zu groß war die Gefahr nicht mehr zurück zu kehren, denn was den Garten befallen hatte, nahm seinen Ursprung tief im Inneren des Berges und suchte sich unerbittlich den Weg nach draußen.
Das Erste was Mariel hörte war ein tiefes Grollen. Wie der Donnerschall eines weit entfernten Gewitters, das rasend schnell näherkam und dröhnend in ihren Ohren klang. Dann kam das Knacken. Das Reiben und Schaben. Angst erfüllte sie, als sie alles zurücklassend aus der Hütte rannte. Sie drehte sich nicht um, als der Boden zu beben begann, nicht als sie das Splittern und Krachen vernahm. Rannte auch noch weiter, als die Wolke aus Staub und Dreck sie erreichte, in ihren Augen brannte und in ihren Lungen kratzte. Erst als die Erde wieder ruhig lag blieb sie stehen, fiel nach vorne und wand sich hustend auf dem Boden. Es dauerte, bis sich der Staub gelegt hatte und sie die Zerstörung um sich wahrnahm. Eine große Spalte zerschnitt den Boden nur wenige Meter hinter ihr. Schlängelte sich zurück zum Berg und immer schmaler werdend seine Flanke hinauf. Neben dem Riss waren Felsen hinab gestützt und hatten alles am Fuß des Berges begraben. Taumelnd schleppte sich Mariel zu dem, was einmal ihr Heim gewesen war und ihre Tränen wuschen den Staub von den Felsen.
Als sie erwachte war es dunkel. Mit steifen Gliedern setzte sie sich zwischen den Trümmern auf. Langsam kamen Erinnerung und Schmerz zurück. Alles was sie hatte war zerstört. Mutlos starrte sie in die Finsternis. Ins schwarze Nichts, das sich endlos um sie herum ersteckte und nur an einer Stelle von einem schwachen Leuchten durchbrochen wurde. Verwirrt wanderte ihr Blick zurück. Woher kam das Licht? Tastend suchte sie einen Weg über die Felsen bis sie vor einem schmalen Loch an der Bergseite stand. Vom Felssturz freigelegt und grade groß genug um sie hindurch zu lassen. Nach einem kurzen Gang, den sie nur kriechend passieren konnte, öffnete sich vor Mariel ein Raum. Obwohl sie nur einmal im Berg gewesen war, erkannte sie die Andersartigkeit dieses Ortes sofort. Es war keine natürliche Höhle. Keines dieser von Naturgewalt und Magie geschaffenen Wunder, sondern von Hand in den Stein geschlagen, eine große grade Wand auf der sich etwas abzeichnete. Schwaches Licht kam von mehreren Kristallfackeln, die in eisernen Wandhalterungen steckten und schon zum Teil erloschen waren. Ehrfürchtig griff Mariel eine der Fackeln, die unter ihrer Berührung heller leuchtete. Was konnte es anderes sein, als ein altes Relikt aus der Zeit der Magierinnen? Überall im Berg fanden sich ihr Spuren. Neugierig hielt sie die Fackel höher und ihr Atmen stockte. Die Wand war voller Zeichnungen, die eine erschreckende Geschichte erzählten.
In einer sternenlosen Nacht fiel ein brennender Stern vom Himmel. Wo sein feuriger Schweif die Welt berührte breitete sich Übel aus. Doch der Stern selber stützte in den Berg der Magierinnen. Er zerschmetterte seine Spitze und drang tief ein in die Eingeweide der Erde. Die Magierinnen erkannten die böse Energie des Sterns und seine Zerstörungswut und da er von seinem Aufprall geschwächt und besinnungslos war spannen sie ein Netz aus Magie um ihn. Er wurde in den Wurzeln des Berges versiegelt, der zu seinem Wächter wurde. Doch die Kraft der Magierinnen war nicht endlos. Irgendwann würde dem Bann die Kraft ausgehen und eine Frau würde ihn mit ihrem Blut im steinernen Rachen des Berges erneuern. Denn ohne die Lebensenergie sollte der Bann brechen, der Berg zerbersten und der finstere Stern aus seinem Grab entkommen und die Welt in Unheil ertränken.
Mit pochendem Herzen blickte Mariel am nächsten Morgen auf das Portal. Neben ihr stand der Bergführer Kraahm. Alarmiert vom Lärm des zerbrechenden Berges hatte er in der Nacht die zerstörte Hütte erreicht. Auch er fand beim Durchsuchen der Trümmer die verborgene Kammer und starrte voller Entsetzen auf das Relief. Während in Mariel der tiefgreifende Wunsch entflammte, den Berg und alle die um ihn herum lebten zu schützen, hatte Kraahm schon die Karte des Berginneren entdeckt, welche den Weg zur magischen Quelle wies. Zu lange suchte er bereits nach dem Grund für das Sterben seiner Heimat, um diese Gelegenheit nicht zu ergreifen. So standen die beiden nun vor dem Berg, während die Sonne ihre Schatten vorauseilen ließ, voller Hoffnung, den Berg zu retten, und bereit ins Ungewisse aufzubrechen.
Das Erste was sie sahen war die zerstörte Stalagnatenallee, deren uralte Säulen zerborsten am Boden lagen. Vorsichtig kletterten sie über die rutschigen Bruchstücke der Tropfsteine. Im Kristallgarten knirschte es unter ihren Schritten, das glitzernde Netz hing in Fetzen herab. Immer wieder verfingen sich seine feuchten Fäden in ihren Haaren und streiften ihre Gesichter. Schon bald war das natürliche Leuchten im Inneren des Berges zu einem düsteren Dämmerlicht verkommen und die beiden mussten sich ihren Weg im Licht der Kristallfackeln suchen. Mit sicherem Schritt marschierte Kraahm voran. Leitete sie durch schmale Spalten und kleine Löcher, vorbei an endlosen Seen, durch deren Wasser Wellen aus Licht glitten, über Basaltstufen und durch ein Spiegellabyrinth aus Onyxscherben. Immer wieder trieb er Mariel an, half ihr über Hindernisse und stützte sie, denn die Zeit drängte. Erreichten sie die Innere Sphäre zu spät müssten sie fast einen Tag ausharren und auf die nächste Passage warten. Einen Tag, an dem ein neues Beben den Berg erschüttern könnte. Ein Beben, dass die Onyxscherben zum Bersten brachte. Das den See über die Ufer treten und die Basalttreppe zerfallen lassen könnte.
Mit letzter Kraft sprang Mariel über den schmalen Spalt im Boden und fiel in Kraahms Arme, der sie rasch von der Kante fortzog. Sie hatten die Sphäre erreicht. Gemächlich drehte sich diese weiter, bis von dem Gang nichts mehr zu sehen war und sie nur noch das raue Schaben von Stein auf Stein hörten. Auf Kraahm gestützt überwand Mariel die letzten Meter ins Innere der Sphäre. Mit weit offenen Augen versuchte sie das Bild vor sich zu begreifen während sie gleichzeitig weiterstolperte. Es gab kein Oben und kein Unten. Die Sphäre hatte nur ein Außen und ein Innen, eine Hülle und eine Mitte. Der Boden, nein das Außen war mit weichem Moos und Farnen bedeckt, zwischen denen seltsam geformte Insekten herum huschten. Blickte sie nach oben, sah sie über sich dieselben Pflanzen und Tiere, dazwischen neblig wattiges Weiß, wie Wolken die sich im Zentrum der Kugel ballten. Alles war in helles Licht getaucht, das von überall und nirgends zu kommen schien und mit der Zeit zu einer dämmrigen Dunkelheit verging, durch die unzählige leuchtende Punkte flogen. Bald hatten sie ein weiteres Loch im Boden erreicht, ähnlich zu dem durch das sie die Sphäre betreten hatten. Hier schlug Kraahm ihr Lager auf. Mariel schlief schon, als er sich unruhig in der Sphäre umblickte. Lange war sein letzter Besuch her und selten war er weiter gegangen, denn die Sphäre war das pulsierende Herz des Berges. Hier blühte das Leben. Doch von den prächtigen Pflanzen und den verwunschenen Tieren war kaum etwas geblieben. Als er zwischen den Farnen auf den verdorrten Körper eines schmalgliedrigen Rehs mit funkelnden Hörnern und irisierendem Fell stieß erfüllte ihn tiefe Trauer. Bei seinem ganzen Sein schwor er sich, den Berg zu retten und seine Gefährtin sicher zurück zu bringen.
War es der nächste Morgen? Als Mariel erwachte wusste sie es nicht, doch das Innere der Sphäre leuchtete wieder hell. Kleine Tautropfen hingen in den Farnen und die Wolken hatten sich aufgelöst. Schnell war alles in ihren Taschen verstaut und sie warteten am Rand des Loches. Lange, viel länger als sie sollten standen sie dort. Hatte Kraahm es gestern nur befürchtet, war es nun Gewissheit, die Sphäre wurde immer langsamer. Endlich verschwand der blanke Fels und der Ausgang wurde frei. Ein schmaler dunkler Riss im Gestein durch den sie sich nur langsam schieben konnten. Ihr einziges Licht waren die Kristallfackeln, Schutt und Schlamm bedeckten den Boden und statt neuer Wunder erwartete sie hinter jeder Ecke nur dieselbe Mühsal. Immer wieder kontrollierte Kraahm ihre Richtung und Höhe, bis sie endlich nach einer Ewigkeit einen hohen schmalen Schacht erreichten. Die schartigen, von Rissen durchzogenen Wände verschwanden schnell aus dem Schein der Kristalle boten aber guten Halt. Es war ein Wagnis. Unbekanntes Terrain. Obwohl Mariel nicht ungeschickt war und Kraahm sie so gut sicherte, wie er konnte, erreichten sie nur mit Mühe und Not das Schachtende. Schlamm verschmiert wälzten sie sich über die Kante. Sie waren fast da.
Schritt für Schritt wurden die unregelmäßigen, rauen Wände des Ganges glatter und grader. Bald wich die Dunkelheit dem schwachen Leuchten weiterer Kristallfackeln und auf den Wänden zeichnete sich das bekannte Relief. Am Ende des Weges öffnete sich ein großes mit Edelsteinen besetztes Tor zu einem kleinen Felsplateau hinter dem ein Abgrund in die Tiefe stürzte und das vom sanften Licht der Sterne erhellt wurde. Kurz vor dem Tor riss Kraahm Mariel zurück. Etwas machte ihm Angst. Erfüllte ihn mit tiefem Schrecken. Und als sie nun das erste Mal genauer auf das Tor schaute, kroch auch ihr ein Schauern den Nacken hinauf. Eine Seelenpforte. Ein Schreckgespenst aus alten Sagen. Wer sie betrat verlor seine Seele. Ein alter und mächtiger Schutz der Magierinnen. Ein leichtes Zittern durchdrang den Fels. Mariel straffte die Schultern und machte sich los. Jemand musste denn Bann erneuern. Ein Blick auf das Relief mit der Frauengestalt vor dem Abgrund schenkte ihr einen Hauch von Zuversicht. Sie würde es versuchen. Aber er durfte die Seelenpforte auf keinen Fall betreten. Mit einem warnenden Blick zurück übertrat sie die Schwelle und…
… spürte nichts. Mutig schritt sie nach vorne. Dort, an der Kante des Plateaus stand ein steinernes runenverziertes Becken, aus dessen Mitte sich Kristalladern in den Berg zogen. Rasch zog sie ihr Messer und bevor sie zweifeln konnte schnitt sie sich tief in die Handfläche und ließ ihr Blut ins Becken tropfen. Einen Augenblick war es still, als wäre die Zeit eingefroren, dann sog der Stein das Blut auf und ein Glühen erfüllte die Adern aus Kristall. Ein Ächzen und Stöhnen ging durch den Berg, als würde er aus langem Schlaf erwachen. Ein Beben erschütterte das Plateau, ergriff Mariel und riss sie von den Füßen in den Abgrund.
Als Kraahm sah, wie sie fiel, vergaß er die Seelenpforte. Vergaß die Gefahr und stützt zur Felsenkante. Erleichterung erfasste ihn, als er Mariels schmale Hand sah, mit der sie sich verzweifelt an einer Felsnase festhielt. Er griff nach ihr. Zog sie in Sicherheit. Um sie herum knisterte die Luft vor Energie. Welche Wunder sie wohl auf dem Rückweg erwarten würden? Hand in Hand, erfüllt von Euphorie verließen sie den Schlund des Berges. Doch kaum hatten sie die Seelenpforte durchquert schüttelte er ihre Hand ab, wie eine lästige Fliege. Auf dem Weg zurück war er blind für die erwachte Schönheit des Berges und seine Augen waren hart wie Stein, kalt wie Eis und ohne den Glanz einer Seele.
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