Voting | 6. Autorenwettbewerb

Sternengrab

Der Berg war schon von weitem zu sehen, erhob sich mitten auf einer endlosen Grasebene. Seine glatten Hänge streckten sich in den Himmel, makellos, bis zum Gipfel, dessen Felsen wie weggesprengt zu allen Seiten aufklafften. Ein gefräßiger Schlund voll scharfer Zähne. Und doch war der Berg in seiner Schönheit ohne Gleichen. Denn obwohl es keinen Pfad den Berg hinauf gab, gab es unzählige hinein. Ein Labyrinth aus verschlungenen Gängen, Kavernen und riesigen Sälen durchzog das steinerne Monument. Durch einen großen Riss, dem Portal, führte ein gewundener Gang in die berühmteste Höhle des Berges – den Kristallgarten. Nach einer Allee von Stalagnaten, die so weit in die Höhe reichten, dass kein Licht ihr Ende erhellen konnte, öffnete sich der Berg zu einem farbenprächtigen, leuchtenden Kaleidoskop. Jeder Winkel war über und über mit Kristallen bedeckt, deren inneres Leuchten von unzähligen Facetten reflektiert und gebrochen wurde. Unter der Höhlendecke spann sich ein glänzender Vorhang aus feinen Fäden, übersäht von winzigen Tropfen. Doch was einst prächtig und voller Energie war, schien nun langsam zu vergehen. Nur noch am Eingang leuchteten die Kristalle mit voller Kraft. Je tiefer man in den Garten ging, desto matter wurden sie. Wo nur noch ein dumpfes Schimmern die Finsternis durchbrach lagen die Wände brach und zerbrochene Splitter am Boden. Schon lange wagte sich nur noch der Bergführer Kraahm tiefer als bis zum vorderen Kristallgarten, zu groß war die Gefahr nicht mehr zurück zu kehren, denn was den Garten befallen hatte, nahm seinen Ursprung tief im Inneren des Berges und suchte sich unerbittlich den Weg nach draußen.

Das Erste was Mariel hörte war ein tiefes Grollen. Wie der Donnerschall eines weit entfernten Gewitters, das rasend schnell näherkam und dröhnend in ihren Ohren klang. Dann kam das Knacken. Das Reiben und Schaben. Angst erfüllte sie, als sie alles zurücklassend aus der Hütte rannte. Sie drehte sich nicht um, als der Boden zu beben begann, nicht als sie das Splittern und Krachen vernahm. Rannte auch noch weiter, als die Wolke aus Staub und Dreck sie erreichte, in ihren Augen brannte und in ihren Lungen kratzte. Erst als die Erde wieder ruhig lag blieb sie stehen, fiel nach vorne und wand sich hustend auf dem Boden. Es dauerte, bis sich der Staub gelegt hatte und sie die Zerstörung um sich wahrnahm. Eine große Spalte zerschnitt den Boden nur wenige Meter hinter ihr. Schlängelte sich zurück zum Berg und immer schmaler werdend seine Flanke hinauf. Neben dem Riss waren Felsen hinab gestützt und hatten alles am Fuß des Berges begraben. Taumelnd schleppte sich Mariel zu dem, was einmal ihr Heim gewesen war und ihre Tränen wuschen den Staub von den Felsen.

Als sie erwachte war es dunkel. Mit steifen Gliedern setzte sie sich zwischen den Trümmern auf. Langsam kamen Erinnerung und Schmerz zurück. Alles was sie hatte war zerstört. Mutlos starrte sie in die Finsternis. Ins schwarze Nichts, das sich endlos um sie herum ersteckte und nur an einer Stelle von einem schwachen Leuchten durchbrochen wurde. Verwirrt wanderte ihr Blick zurück. Woher kam das Licht? Tastend suchte sie einen Weg über die Felsen bis sie vor einem schmalen Loch an der Bergseite stand. Vom Felssturz freigelegt und grade groß genug um sie hindurch zu lassen. Nach einem kurzen Gang, den sie nur kriechend passieren konnte, öffnete sich vor Mariel ein Raum. Obwohl sie nur einmal im Berg gewesen war, erkannte sie die Andersartigkeit dieses Ortes sofort. Es war keine natürliche Höhle. Keines dieser von Naturgewalt und Magie geschaffenen Wunder, sondern von Hand in den Stein geschlagen, eine große grade Wand auf der sich etwas abzeichnete. Schwaches Licht kam von mehreren Kristallfackeln, die in eisernen Wandhalterungen steckten und schon zum Teil erloschen waren. Ehrfürchtig griff Mariel eine der Fackeln, die unter ihrer Berührung heller leuchtete. Was konnte es anderes sein, als ein altes Relikt aus der Zeit der Magierinnen? Überall im Berg fanden sich ihr Spuren. Neugierig hielt sie die Fackel höher und ihr Atmen stockte. Die Wand war voller Zeichnungen, die eine erschreckende Geschichte erzählten.

In einer sternenlosen Nacht fiel ein brennender Stern vom Himmel. Wo sein feuriger Schweif die Welt berührte breitete sich Übel aus. Doch der Stern selber stützte in den Berg der Magierinnen. Er zerschmetterte seine Spitze und drang tief ein in die Eingeweide der Erde. Die Magierinnen erkannten die böse Energie des Sterns und seine Zerstörungswut und da er von seinem Aufprall geschwächt und besinnungslos war spannen sie ein Netz aus Magie um ihn. Er wurde in den Wurzeln des Berges versiegelt, der zu seinem Wächter wurde. Doch die Kraft der Magierinnen war nicht endlos. Irgendwann würde dem Bann die Kraft ausgehen und eine Frau würde ihn mit ihrem Blut im steinernen Rachen des Berges erneuern. Denn ohne die Lebensenergie sollte der Bann brechen, der Berg zerbersten und der finstere Stern aus seinem Grab entkommen und die Welt in Unheil ertränken.

Mit pochendem Herzen blickte Mariel am nächsten Morgen auf das Portal. Neben ihr stand der Bergführer Kraahm. Alarmiert vom Lärm des zerbrechenden Berges hatte er in der Nacht die zerstörte Hütte erreicht. Auch er fand beim Durchsuchen der Trümmer die verborgene Kammer und starrte voller Entsetzen auf das Relief. Während in Mariel der tiefgreifende Wunsch entflammte, den Berg und alle die um ihn herum lebten zu schützen, hatte Kraahm schon die Karte des Berginneren entdeckt, welche den Weg zur magischen Quelle wies. Zu lange suchte er bereits nach dem Grund für das Sterben seiner Heimat, um diese Gelegenheit nicht zu ergreifen. So standen die beiden nun vor dem Berg, während die Sonne ihre Schatten vorauseilen ließ, voller Hoffnung, den Berg zu retten, und bereit ins Ungewisse aufzubrechen.

Das Erste was sie sahen war die zerstörte Stalagnatenallee, deren uralte Säulen zerborsten am Boden lagen. Vorsichtig kletterten sie über die rutschigen Bruchstücke der Tropfsteine. Im Kristallgarten knirschte es unter ihren Schritten, das glitzernde Netz hing in Fetzen herab. Immer wieder verfingen sich seine feuchten Fäden in ihren Haaren und streiften ihre Gesichter. Schon bald war das natürliche Leuchten im Inneren des Berges zu einem düsteren Dämmerlicht verkommen und die beiden mussten sich ihren Weg im Licht der Kristallfackeln suchen. Mit sicherem Schritt marschierte Kraahm voran. Leitete sie durch schmale Spalten und kleine Löcher, vorbei an endlosen Seen, durch deren Wasser Wellen aus Licht glitten, über Basaltstufen und durch ein Spiegellabyrinth aus Onyxscherben. Immer wieder trieb er Mariel an, half ihr über Hindernisse und stützte sie, denn die Zeit drängte. Erreichten sie die Innere Sphäre zu spät müssten sie fast einen Tag ausharren und auf die nächste Passage warten. Einen Tag, an dem ein neues Beben den Berg erschüttern könnte. Ein Beben, dass die Onyxscherben zum Bersten brachte. Das den See über die Ufer treten und die Basalttreppe zerfallen lassen könnte.

Mit letzter Kraft sprang Mariel über den schmalen Spalt im Boden und fiel in Kraahms Arme, der sie rasch von der Kante fortzog. Sie hatten die Sphäre erreicht. Gemächlich drehte sich diese weiter, bis von dem Gang nichts mehr zu sehen war und sie nur noch das raue Schaben von Stein auf Stein hörten. Auf Kraahm gestützt überwand Mariel die letzten Meter ins Innere der Sphäre. Mit weit offenen Augen versuchte sie das Bild vor sich zu begreifen während sie gleichzeitig weiterstolperte. Es gab kein Oben und kein Unten. Die Sphäre hatte nur ein Außen und ein Innen, eine Hülle und eine Mitte. Der Boden, nein das Außen war mit weichem Moos und Farnen bedeckt, zwischen denen seltsam geformte Insekten herum huschten. Blickte sie nach oben, sah sie über sich dieselben Pflanzen und Tiere, dazwischen neblig wattiges Weiß, wie Wolken die sich im Zentrum der Kugel ballten. Alles war in helles Licht getaucht, das von überall und nirgends zu kommen schien und mit der Zeit zu einer dämmrigen Dunkelheit verging, durch die unzählige leuchtende Punkte flogen. Bald hatten sie ein weiteres Loch im Boden erreicht, ähnlich zu dem durch das sie die Sphäre betreten hatten. Hier schlug Kraahm ihr Lager auf. Mariel schlief schon, als er sich unruhig in der Sphäre umblickte. Lange war sein letzter Besuch her und selten war er weiter gegangen, denn die Sphäre war das pulsierende Herz des Berges. Hier blühte das Leben. Doch von den prächtigen Pflanzen und den verwunschenen Tieren war kaum etwas geblieben. Als er zwischen den Farnen auf den verdorrten Körper eines schmalgliedrigen Rehs mit funkelnden Hörnern und irisierendem Fell stieß erfüllte ihn tiefe Trauer. Bei seinem ganzen Sein schwor er sich, den Berg zu retten und seine Gefährtin sicher zurück zu bringen.

War es der nächste Morgen? Als Mariel erwachte wusste sie es nicht, doch das Innere der Sphäre leuchtete wieder hell. Kleine Tautropfen hingen in den Farnen und die Wolken hatten sich aufgelöst. Schnell war alles in ihren Taschen verstaut und sie warteten am Rand des Loches. Lange, viel länger als sie sollten standen sie dort. Hatte Kraahm es gestern nur befürchtet, war es nun Gewissheit, die Sphäre wurde immer langsamer. Endlich verschwand der blanke Fels und der Ausgang wurde frei. Ein schmaler dunkler Riss im Gestein durch den sie sich nur langsam schieben konnten. Ihr einziges Licht waren die Kristallfackeln, Schutt und Schlamm bedeckten den Boden und statt neuer Wunder erwartete sie hinter jeder Ecke nur dieselbe Mühsal. Immer wieder kontrollierte Kraahm ihre Richtung und Höhe, bis sie endlich nach einer Ewigkeit einen hohen schmalen Schacht erreichten. Die schartigen, von Rissen durchzogenen Wände verschwanden schnell aus dem Schein der Kristalle boten aber guten Halt. Es war ein Wagnis. Unbekanntes Terrain. Obwohl Mariel nicht ungeschickt war und Kraahm sie so gut sicherte, wie er konnte, erreichten sie nur mit Mühe und Not das Schachtende. Schlamm verschmiert wälzten sie sich über die Kante. Sie waren fast da.

Schritt für Schritt wurden die unregelmäßigen, rauen Wände des Ganges glatter und grader. Bald wich die Dunkelheit dem schwachen Leuchten weiterer Kristallfackeln und auf den Wänden zeichnete sich das bekannte Relief. Am Ende des Weges öffnete sich ein großes mit Edelsteinen besetztes Tor zu einem kleinen Felsplateau hinter dem ein Abgrund in die Tiefe stürzte und das vom sanften Licht der Sterne erhellt wurde. Kurz vor dem Tor riss Kraahm Mariel zurück. Etwas machte ihm Angst. Erfüllte ihn mit tiefem Schrecken. Und als sie nun das erste Mal genauer auf das Tor schaute, kroch auch ihr ein Schauern den Nacken hinauf. Eine Seelenpforte. Ein Schreckgespenst aus alten Sagen. Wer sie betrat verlor seine Seele. Ein alter und mächtiger Schutz der Magierinnen. Ein leichtes Zittern durchdrang den Fels. Mariel straffte die Schultern und machte sich los. Jemand musste denn Bann erneuern. Ein Blick auf das Relief mit der Frauengestalt vor dem Abgrund schenkte ihr einen Hauch von Zuversicht. Sie würde es versuchen. Aber er durfte die Seelenpforte auf keinen Fall betreten. Mit einem warnenden Blick zurück übertrat sie die Schwelle und…

… spürte nichts. Mutig schritt sie nach vorne. Dort, an der Kante des Plateaus stand ein steinernes runenverziertes Becken, aus dessen Mitte sich Kristalladern in den Berg zogen. Rasch zog sie ihr Messer und bevor sie zweifeln konnte schnitt sie sich tief in die Handfläche und ließ ihr Blut ins Becken tropfen. Einen Augenblick war es still, als wäre die Zeit eingefroren, dann sog der Stein das Blut auf und ein Glühen erfüllte die Adern aus Kristall. Ein Ächzen und Stöhnen ging durch den Berg, als würde er aus langem Schlaf erwachen. Ein Beben erschütterte das Plateau, ergriff Mariel und riss sie von den Füßen in den Abgrund.

Als Kraahm sah, wie sie fiel, vergaß er die Seelenpforte. Vergaß die Gefahr und stützt zur Felsenkante. Erleichterung erfasste ihn, als er Mariels schmale Hand sah, mit der sie sich verzweifelt an einer Felsnase festhielt. Er griff nach ihr. Zog sie in Sicherheit. Um sie herum knisterte die Luft vor Energie. Welche Wunder sie wohl auf dem Rückweg erwarten würden? Hand in Hand, erfüllt von Euphorie verließen sie den Schlund des Berges. Doch kaum hatten sie die Seelenpforte durchquert schüttelte er ihre Hand ab, wie eine lästige Fliege. Auf dem Weg zurück war er blind für die erwachte Schönheit des Berges und seine Augen waren hart wie Stein, kalt wie Eis und ohne den Glanz einer Seele.

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Was auch immer uns antreibt …

Das Leben neigt dazu, gnadenlos repetitiv zu sein. So geschah es zum Beispiel auch an diesem Tag, dass sie aufwachte.
Sie öffnete die Augen und starrte zu den Deckenpaneelen. Eine ganze Weile. Da war dieser Fleck. Dieser einstige, nie überstrichene Wasserschaden. Immerhin kein Schimmel. Glaubte sie. Würde sie den Fleck nur lange genug betrachten, offenbarte seine Form ihr vielleicht Hinweise auf die großen Fragen des Lebens. Wobei es ihr für den Moment schon ausreichen würde, wenn er ihr verriet, wie sie die Energie aufbringen könnte, das Bett zu verlassen. Denn die Zeit war so ungnädig, unbeachtet ihres Unvermögens irgendetwas zu tun, einfach weiterzulaufen.

Was könnte es sein, was würde ihr Antrieb verleihen? Was wäre ein Grund, eine Motivation? Oder – besser – was würde sie konstant so reich versorgen, dass Aufstehen, und alles, was anschließend noch so folgen würde, sich gar nicht wie unsichtbare Hürden anfühlte, die es erst einmal zu überwinden galt. Wenn sie dieses Kräftesuchen, das Kräftesammeln nicht benötigte. Denn Dinge laufen eben. Das wäre schön. Sie fragte sich, was andere Menschen wohl am Laufen hielt.
Nun, da gab es zum Beispiel … die Liebe. Der Wasserschadenfleck sah ein wenig wie ein Herz aus. Schön.
Und dann war da auf einmal diese voluminöse Bassstimme.
„Holde, ich warte auf dich“, rief es vom Hofe. Ihr Liebster. Sogleich tat ihr Herz einen Sprung. Einen von denen, die keine Sorge über den Gesundheitszustand auslöste. Sie warf die Decke durch ihr Gemach und verließ das Bett leichtfüßig in einer Pirouette. Als sie die Türe aufriss, stand ihr Geliebter in der Schwelle, hob sie in die Lüfte, drehte sich mit ihr dreimal im Kreise, obwohl es ihr doch ohnehin bereits vor Glück alles drehte. Nachdem er sie sanft zu Boden gleiten ließ und sie lange Küsse ausgetauscht hatten, säuselte er ihr Liebesbekundungen ins Ohr.
„Ich werde immer bei dir sein!“,
„Oh schön“,
„Und wann immer dich etwas bedrückt, wann immer dir das Leben mühsam und wie eine Bürde scheint, so musst du nur an mich denken und alles wird gut. Ich bin da und heile dich. Du brauchst nichts sonst, wir werden eins. Ich bin dir Grund morgens aufzustehen.“
„Nur du, und nichts sonst?“
„Ist es nicht das, was du dir wünschst?“
„eigentlich nicht“, gestand sie ihm und sich.
„Ach Holde, dann ist es auch nicht weiter schlimm, dass es mich nicht gibt.“
„Nicht?“,
„Nein Holde, ich bin ein Fleck auf deiner Deckenpaneele. Mich gibt es nicht. Wohl aber den Schimmel hinter mir.“
Ohja, es stimmt. Es gab ihn nicht. Nicht einmal als Konzept. Der Tagtraum war zu Ende und sie darüber beinahe erleichtert. Wäre die Liebe genau so, es würde sie mehr anstrengen als antreiben. Und würde man Liebe zu dem machen wollen, man stürzte sich wohl gemeinsam ins Unglück, beim Anspruch sich gegenseitig alles sein zu müssen. Sie lag im Bett und schaffte es nicht, dieses zu verlassen. Immernoch nicht. Nein. Die Liebe war es nicht. Bei der Partnerwahl neigte sie ohnehin dazu, Menschen mit ähnlichem Energielevel zu wählen. Man würde sich halten und es gemeinsam nicht schaffen. Das klang schön. Irgendwie. War nur für ihr aktuelles Dilemma nicht die Lösung. Sie wandte ihren Blick von dem bräunlichen Paneelen-Herz ab und blickte auf die Betthälfte neben sich. Ein geliebter Mensch hätte hier ohnehin keinen Platz. Es würde ihr dann der Verwahrungsort für ihre ungewaschene Garderobe fehlen.

Was dann? Was brachte die Menschen aus dem Bett, unter die Dusche, an den Frühstückstisch, aus dem Haus? Geld? Karriere? Müsste sie nicht jetzt sofort aufspringen, sich in die schickste Businessgarderobe werfen und performen? Es war Sonntag. Trotzdem. Das war doch keine Ausrede nicht auch heute alles zu geben. Es fängt ja im Kopf an. Mindset. Think big. Andere Anglizismen. Sei auch an Tagen, an denen dir die Arbeit verwehrt bleibt, die Person, die es nach ganz oben schaffen wird. Raus aus dem Bett und rein ins Haifischbecken. Arbeiten. Weiterkommen. Nicht länger nur die Grundbedürfnisse decken, sondern mehr erreichen. Mehr sein als andere. Mehr haben als andere. Sich Dinge leisten, durch die andere sehen, dass man sich mehr Dinge leisten kann. Nicht nur für sich, sondern für die Wirtschaft. Mein Gott, ja, die Wirtschaft. Es war letztlich zum Wohle aller, so sagen zumindest Manche, die in Positionen sind, wo man es wissen musste. Daher sollte sie dieses Spiel mitspielen. Musste sie doch. Oder? Das Problem war, um hierdurch Energie zu gewinnen, fehlte es ihr grundsätzlich an etwas. Dem Wunsch, solch ein Mensch sein zu wollen. Nein, nicht einmal der abstrakte Tagtraum fühlte sich erstrebenswert an, und ihre Arbeit und das Bemühen, in ihr weiterzukommen, hatte sich bislang noch nie anregend, sondern immer nur mühsam angefühlt. Sie wusste nicht einzuordnen, ob sie Ekel oder Neid empfand, wenn sie an Menschen dachte, bei denen das anders war. Nein, ihr schien auch dieser Weg als Antriebsquell verwehrt zu bleiben.

Was sonst? Altruismus? Heldentum? Raus in die Welt, um den Menschen zu helfen, denen das Schicksal übel mitgespielt hatte? Menschen, die viel mehr als sie selbst das Anrecht hatten, antriebslos und ohnmächtig zu sein. Dreist von ihr. Anmaßend, nicht glücklich und vital zu sein. Ja nun gut, das sollte sie wohl tun. Die Welt war schlecht und der Mensch egoistisch. Sie erst recht. Das sollte sie ändern und fortan alles geben, um als einzelne Person dem Elend etwas entgegenzusetzen. Das sollte sie beflügeln. Das musste sie doch beflügeln. Aus irgendeinem Grund, der sich ihr nicht offenbarte, führten diese Überlegungen nicht dazu, dass sie sich besser fühlte.
Ihr gingen die Ideen aus. Es fielen ihr nur Dinge ein, die ihr unerreichbar, und wenn doch erreichbar, wenn doch erstrebenswert, dann doch nicht dienlich für ihr Dilemma schienen. Zumindest nicht für diesen Moment, da sie so dalag, immerhin inzwischen auf die Seite gerollt, und das Muster der Raufasertapete nach weiteren Antworten absuchte. Vergeblich.
Von den wenigen Antriebsquellen, die ihr zur Verfügung standen, entschied sie sich nach einiger Zeit für „Muss ja.“
Für den Moment genügte es. Besseres würde sie später finden, denn sie wusste ja, dass ihr morgen der gleiche Kampf erneut bevorstehen würde.
Also. Sie atmete ein, sie atmete aus – und stand auf.
Eine großartige Leistung.
Kein Applaus.

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Eine Tasse Tee

Unablässig peitschte ihr der Regen ins Gesicht. An einem Tag wie heute verschwor sich auch der Himmel gegen sie. Ihre Haare klebten ihr in Strähnen im Gesicht. Wenigstens schützte das Unwetter Marya vor den mitleidigen Blicken all der anderen Zitternden um sie herum und verbarg ihre Tränen. Salzig flossen sie über ihre Lippen, ohne ihre Niederlage aus ihr zu waschen.
Wann erlöste sie endlich der verdammte Bus? Ausgerechnet heute musste er auch noch unpünktlich sein.
Jules. Seine kahl geschorene Platte riss sie in den frühen Morgen zurück. Ihre Taskforce arbeitete doch schon unermüdlich an der Suche nach ENERGY. Seit zwei Wochen bestand ihre Freizeit aus Instant-Nudeln, drei Stunden Schlaf pro Nacht und eindeutig zu viel Kaffee. Doch obwohl ENERGY das Thema der Stadt war, blieb es ihrem Team verborgen und war nicht aufzufinden.
Das war aber doch kein Grund, ihr den Auftrag gleich wieder zu entreißen.
Seine Frechheit reichte sogar so weit, ihr die Aufgabe während des monatlichen Meetings mit dem Management-Board zu entziehen. Und als wäre das noch nicht demütigend genug gewesen, teilte er die Operation ENERGY mit blumigen Worten seinem eigenen Team zu.
Wo blieb der verdammte Bus? Sie wollte sich den heutigen Tag doch nur noch in der Badewanne wegschrubben. War das etwa zu viel verlangt?
Sanftes Rütteln an ihrer rechten Schulter holte sie in den nasskalten Moment zurück und zog Jules ekliges Grinsen von ihr weg. Die schrumpelige Hand auf ihrer Schulter gehörte einem Mann, der ihr Großvater sein könnte. Ehe sie sich versah, spürte sie die klammen Falten der Hand im Griff ihrer anderen Hand.
„Hände weg!“ Knurrend unterstrich sie die Warnung und der Fremde folgte ihrem Befehl. Warum lächelte er trotz ihrer Laune dennoch?
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, das tut mir leid. Doch Sie machen auf mich den Eindruck unter all diesen Leuten, als könnten Sie etwas Aufmunterung vertragen.“ Na super. Ihre Hoffnung, unbehelligt zu bleiben, war damit auch dahin.
Wie konnte sie das dem alten Mann schonend beibringen? Sie wollte die anderen Menschen nicht auch noch auf sie aufmerksam machen.
„Hören Sie, ich sehe, Sie wollen gerade allein sein. Daher halte ich mich ganz kurz. Bitte probieren Sie diesen Tee“ – bei diesen Worten zauberte er einen eingeschweißten Teebeutel aus seiner Jackentasche hervor und hielt ihn unter ihre Nase – „und Sie werden sehen, dass Ihre Sorgen gleich ein gutes Stück in den Hintergrund treten. Und das Beste an der Sache ist, dass das wirklich funktioniert. Glauben Sie mir. Sollten Sie nicht zufrieden sein, kommen sie gerne in meinen Teeladen und lassen sie mich das wissen. Sie finden die Adresse auf der Rückseite.“ Seinen Monolog beendete er mit einem festen Griff, mit dem er den Beutel in ihre Hand drückte.
Sollte dieser Tag denn nie enden und immer weitere Foltereien für sie bereithalten? Jetzt war sie auch noch an einen Quacksalber gelangt. Doch sein frommes Lächeln, die Grübchen und die freundlichen Augen entzündeten eine kleine Flamme in ihr, während sie ihn musterte.
Sein graues Haar, aus einer schwarzen Regenmütze, lugend komplettierte den Eindruck des freundlichen Nachbarn von nebenan. Und noch etwas: Ihre Erwiderung, die sie ihm nach seinem viel zu langen Monolog an den Kopf werfen wollte – sie war weg! Stattdessen hörte sie sich selbst ein „Danke“ murmeln. In den silbrig glänzenden Augen des Fremden spiegelte sie sich selbst, lachend und mit roten Wangen. Das konnte doch nun wirklich nicht sein, oder?
„Ihr Bus. Steigen Sie ein, er wird nicht ewig warten“, unterbrach er ihre Tagträumerei. Was anderes konnte es nicht sein, beschloss sie, seinen Worten mit ihren Blicken folgend. Die letzten Fahrgäste stiegen ein und sie musste sich tatsächlich beeilen. Noch ein kurzer Blick, doch der Mann war weg. Hatte sie das alles geträumt? Nein, der Teebeutel schmiegte sich nach wie vor in ihre Hand, während sie den Bus betrat.
Mit einem Klicken schnappte die Tür ins Schloss und die Dunkelheit umschlang sie. Endlich zu Hause. Marya wandelte mit leichten Zehen über das Parkett, der Finsternis trotzend. Ihrem Schlafwandeln sei Dank, landete sie nach einer gekonnten Drehung auf ihrem geliebten Sessel am Ende des Flurs. Wohlig rieselten die Erinnerungen an die unzähligen Bücher, die sie hier verschlang, über ihren Rücken. Begleitet von dem Duft der Akazienzweige in der Schüssel auf dem Hocker neben ihr, streifte sie ihre pitschnassen Stiefeletten von ihren Knöcheln und stoppte erst, als auch ihre Socken ihre Fußsohlen nicht mehr feucht umklammerten.
Ein ebenso gekonnter Ellbogenstoß brachte Licht in die Szenerie, der Schalter rechts neben ihr vermochte nicht einmal zu protestieren. Auf Zehenspitzen tapste sie ins Bad. Der Messingknauf des Wasserhahns zog sie magisch an und im Nu rauschte das Wasser. Begleitet von Dampf stieg es allmählich höher. Zeit genug, sich nackig zu machen und noch schnell in die Küche zu huschen.
Was wollte sie dort nur nochmal? Der Wasserkocher. Ah ja! Schnell zurück ins Bad. Aus der Gesäßtasche ihrer Anzughose, die achtlos auf den Fliesen flanierte, lugte der Teebeutel hervor. Sie zog ihn heraus. Sollte sie das wirklich machen? Wer weiß, was sich in dem Beutel befand?
Zurück vor dem Wasserkocher legte Marya die Wundertüte auf die Küchenzeile.
Zuerst das heiße Wasser und dann weitergrübeln. Während das Wasser aufkochte, suchte sie sich ihre heutige Tasse aus. Ihre grüne Dinosauriertasse mit den Stacheln am Henkel? Oder doch die türkise Schwanentasse mit den gespreizten Flügeln? Warum konnte sie nicht einfach an allen Künstlermärkten vorbeigehen? Mit den Dinosauriern würde sie gerne mal eine Tasse Tee trinken, daher entschied sie sich für Grün.
Ihr Wasserkocher klackerte und sie schenkte das frisch aufgebrühte Wasser ein. Der Beutel. Nun was wollte sie mit ihm anstellen? Der Mann war freundlich zu ihr, keine Frage. Doch das konnte gut und gerne auch seine Masche sein. Erst vor ein paar Wochen überführte ihr Team einen Seniorenring, der nur vorgab, Halspastillen gegen Reizhusten vor Apotheken zu verteilen. In Wahrheit verteilten sie kleine Stimmungsaufheller an ihre gleichaltrigen Mitmenschen. Was sollte sie also tun? Auf der Rückseite fand sie, wie angekündigt, eine Adresse. Ein Teeladen im Hafenviertel. Gegenüber ihrer Stammkneipe.
Über der Adresse stand „Meeresfrisches Teekesselchen“. Der Name sagte ihr nichts. Der Laden musste also erst vor Kurzem eröffnet haben, in den letzten zwei Wochen. Sie nahm sich vor, Olivier morgen Abend beim nächsten Stammtisch danach zu fragen, nachdem sie letzte Woche nicht konnte. Dann war das wohl eine Werbeaktion und sie kam dem alten Mann gerade Recht. Zudem stellte sie fest, dass sie mittlerweile wissen wollte, ob ihr der Tee schmecken würde.
Sie riss die Verpackung auf. Und taumelte. Ein Hauch von Zimt, vermischt mit der Schwere von Kardamom und der Schärfe von Ingwer waberte mit einem Mal in ihrer Küche. Wie früher bei Oma. Sie bettete den Beutel in die Tasse und machte sich mit ihr zurück ins Bad. Sie stellte die Dinosauriertasse auf dem Rand der Badewanne ab und glitt in die wohltuende Wärme hinein.
Mit jedem Atemzug lichtete sich die Schwere des Tages, bis sie den Boden ihrer Wanne nicht mehr spürte.
Begleitet vom Duft ihrer Kindheit genoss Marya die Stille. Wieso machte sie das nicht öfter? Sie sollte mehr baden. Ihre Freizeit, so spärlich und schüchtern, genießen. Und dann wartete noch ihr Geschenk von heute Nachmittag. Die Tasse wartete geduldig auf ihren Einsatz. Behutsam führte sie sie an ihre Lippen. Leicht schwappend schaukelte der Tee, als sie ihn pustend abkühlte. Intensiv blitzte ihre Oma in ihr Sichtfeld, neben ihr auf der Schaukel unter der alten Linde in ihrem Garten. Das herzlichste Lachen, was sie erleben durfte, hallte nach und brachte ihre Zehen zum Kribbeln. Sie nippte vorsichtig.
Sie joggte. Nein. Sie rannte. Durch den Park in ihrem Viertel. Bei Nacht. Hinter ihr laute Stimmen. Undeutlich, doch eindeutig aggressiv. Wer war das? Und wieso war sie hier? Egal.
Ihre Schritte verlängerten sich noch einmal. Noch ein wenig weiter und sie würde fliegen. Sie pulsierte, strahlte. Rannte weiter. Lebendiger war sie nie gewesen, ihr Elan grenzenlos.
„Hey, stehen… stehenbleiben!“, schallte es hinter ihr. Da war jemand hinter ihr her. Wieso? Auch egal.
Sie flog. Setzte kurz den Kontakt zur Erde. Flog wieder. Ihre Muskeln bebten, vibrierten. Zylindrierten. Besser konnte sie nicht beschreiben, was ihn ihr los war. Ein Sturm. Mit ihr als Zentrum. Und noch etwas. Ein Geschmack. Nicht nur auf der Zunge. Auch in ihren Zehen. Ohren. Pobacken. Wimpern. Ihr Geschmack ihrer Freiheit. Ein grinsender Mann und sein Teebeutel.
Kardamom. Ingwer. Zimt.

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Sommerblut

„Manche Menschen haben sich versündigt, sagt man. Und dass die Götter ihnen als Strafe ein höllisches Feuer eingaben, das niemand löschen kann. Das sie irgendwann verbrennen würde. Sie und alles, was sie lieben.“ Die Stimme der Frau klang seltsam schwach in der kleinen Höhle, nach all den Stunden des Schweigens, nachdem so lange lediglich das Heulen des Wintersturms zu hören gewesen war. Agni musterte sie argwöhnisch von ihrem Platz an der Höhlenwand aus, den sie nach ihrem furchtsamen Erwachen sofort aufgesucht hatte, außerhalb des warmen Lichtkreises des kleinen Feuers, das die Frau unterhielt. „Ich glaube das nicht“ und der Blick der dunklen, gewitzten Augen suchte Agni. Es waren einige Stunden vergangen, seitdem die halb bewusstlose Agni von der Fremden aus dem Schneesturm hierher gebracht worden war. Es wäre besser, wenn sie nicht zu viel mit der Fremden redete – es hatte keinen Sinn. Sobald der Sturm vorüber wäre…

Eine Weile blieb es still in der Höhle, Agni hing ihren Gedanken nach und dämmerte hin wieder in einen leichten Schlummer hinüber, in dem sie von älteren und jüngeren Bildern gequält wurde, während vereinzelte Schneeflocken vom Höhleneingang hereintrieben und der Wind sein schauriges Lied in den Berggipfeln über ihnen sang.

„Ich habe deine Arme gesehen.“

Agni versuchte, mit Trotz den Blick der Frau zu erwidern, um ihr nicht zu zeigen, wie sehr diese wenigen Worte sie erschreckt hatten, wie hastig ihr Herz in der Brust flatterte und wie sehr sie den Impuls unterdrücken musste, ihre Arme noch tiefer in den viel zu weiten Ärmeln ihres Mantels zu vergraben. Lass sie reden. Was kann sie schon wissen.

Als die Fremde erkannte, dass Agni nicht antworten würde, seufzte sie, schüttelte sacht den Kopf und machte sich daran, sich aus den Schichten ihrer Winterkleidung zu schälen, bis nur noch ein grobes Leinenhemd an ihrem ausgemergelten Oberkörper hing. Bedächtig krempelte sie die Ärmel hoch und entblößte dabei große, alte Narben, die sich wie rosa-violette Bänder um ihre Handgelenke und Arme wanden. Überrascht weiteten sich Agnis Augen und ein Schauer ließ ihren Körper beben, während die Fremde sie wissend ansah und bedächtig über die Spuren auf ihrer Haut strich. Agni kannte solche Narben. Ihre Mutter hatte sie gehabt.

„Meine Großmutter war die erste, die bemerkte, dass ich anders war“, begann die Fremde und ein Hauch Trauer mischte sich in den weichen Ton ihrer Stimme. „Und sie behandelte mich ständig wie ein rohes Ei, als könnte jederzeit Wer-weiß-was passieren. Sie tat es nicht aus Liebe, sie wollte mich nicht beschützen. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was geschehen könnte, was ich anrichten könnte, was ich eines Tages ihrer Meinung nach anrichten würde. Eine Zeit lang blieb sie mit ihren Ängsten allein, aber je älter ich wurde, desto mehr bemerkte meine Familie die Zeichen. Langsam machte sich das Feuer bemerkbar. Wenn ich fröhlich war, dann war ich fröhlicher als andere Kinder und wenn ich traurig war, dann trauriger.“

Sie hielt inne, und die Erinnerung an einen alten Schmerz schien den Glanz ihrer Augen zu trüben und zeichnete eine harte Linie um ihren Mund. Ihre Stimme nun ein hohles Flüstern, das sich hinter dem Heulen des Windes zu verstecken versuchte: „Ich konnte so, so wütend werden…“

Tief holte sie durch die Nase Luft und hielt sie in ihrem Inneren, als wäre sie ein Schatz, den sie nicht zu teilen bereit wäre. Langsam glätteten sich ihre verkrampften Züge. „Meine erste Verbrennung war der letzte Beweis. In manchen Gegenden werden Menschen wie ich eingesperrt. Und in anderen…“

Die Fremde hob den Blick und sah Agni an, die gebannt ihren Worten gelauscht hatte; Tränen kitzelten ihre Augenwinkel. Bilder eines dunklen Kellers. Feuchter Modergeruch. Sie fragte sich, wie viele von ihnen es dort draußen geben musste, wie viele von ihnen sich genauso fühlten, wie sie und diese Frau in diesem Moment. Wie viel Schmerz gab es bloß auf dieser Welt. Plötzlich fühlte sie sich schwach, klein, wie das noch nicht allzu alte Mädchen, das sie war. Noch nie war sie von zuhause fort gewesen, noch nie so lange ohne ihren Vater und Einsamkeit griff nach ihrem Herzen. Aber der Gedanke an ihren Vater brachte ein anderes Gefühl – seine Stimme, seine Augen. Der Keller. Sie erschauerte, als eisige Angst von ihr Besitz ergriff und stand langsam auf, kam auf das kleine, warme Feuer zu und die Frau, die sie mit diesem warmen, traurigen, schmerzerfüllten, verständnisvollen weil wissenden Blick ansah. Und das Licht und die Wärme waren wie eine Umarmung. Eine rußgeschwärzte Eisentür, die sich kreischend hinter ihr schloss.

„Was – was ist geschehen?“, Agnis Stimme klang spröde, schwach, wie ein Instrument, das lange Zeit nicht gespielt worden war.

„Was eben geschieht, wenn Menschen, die einen lieben, Grausames tun im Namen der Barmherzigkeit.“ Die Finger der Fremden verfolgten die Windungen einer besonders tiefen Narbe. „Aber hier bin ich und ich lebe – das ist die Hauptsache.“

„Aber wieso –“, Agni rang verzweifelt nach Worten. Wie konnte sie in Worte fassen, was nicht in Worte zu fassen war? Und von fern das Bild der angsterfüllten Augen ihres Vaters.

„Wieso ich mich noch nicht lange selbst verbrannt habe, wie man es von uns kennt?“ Ein schelmisches Funkeln trat in die alten Augen und sie lachte ein lautes, bellendes Lachen. „Es gibt nettere Arten eine Frau zu fragen, wie alt sie ist.“ Agni schaute betreten zur Seite.

„Ich habe gelernt, damit zu leben“, sagte sie und schaute gedankenverloren hinaus in die Nacht; der Kragen ihres Hemdes stand offen und Agni bemerkte, dass nicht nur ihre Unterarme, sondern auch große Teile ihres Oberkörpers Zeichen des Feuers trugen. Welche Kämpfe musste ein Körper durchstehen, um so gezeichnet zu sein?

Ihre Hände, die verzweifelt gegen die rußgeschwärzte Innenseite der Tür trommelten. Ihr klägliches Weinen in der feuchten Dunkelheit.

Und welche, um sie zu überleben?

Agnis Vater, der ihr sagte, dass sie genau wie ihre Mutter sei.

„Bitte zeige es mir.“

Am nächsten Morgen standen sie früh auf, der Sturm hatte im Laufe der Nacht aufgehört und einen klaren, frischen Morgen zurückgelassen. Agni folgte der Fremden fort von der Höhle, einen flachen Bergrücken hinauf und von dort hinab in eine kleine Senke. „Wir sind zwar in der Einöde, aber es ist trotzdem besser, vorsichtig zu sein“, erwiderte die Fremde auf den fragenden Blick Agnis.

Am Fuß der Senke war eine kleine, beinahe kreisrunde ebene Fläche und auf dieser hieß die Fremde Agni, sich hinzustellen.

Erst jetzt fiel Agni auf, dass sie keine Schuhe an den Füßen trug – sie stand barfuß auf dem mit Eiskristallen verkrusteten Boden, scheinbar ohne die beißende Kälte an diesem frostigen Morgen zu spüren und plötzlich erschien ihr dies alles keine gute Idee zu sein. Wem hatte sie sich eigentlich anvertraut? Die Fremde ließ keine Zeit für Zweifel.

„Erzähl mir von deiner ersten Verbrennung.“

Die Erinnerung kam schnell, als habe dieser Pfeil schon lange auf einer gespannten Sehne gelegen und nur auf den Befehl gewartet, endlich los zu schnellen. Der unwürdige, der verleugnete, verschwiegene Tod ihrer Mutter, tief unten in diesem schrecklichen Keller. Hinter der Eisentür. Sie hörte ihre Schreie, selbst durch die mehrere Fuß Gestein und Erde, die sie trennten. Ihr Vater, der sie festhielt, während sie versuchte, zu ihr zu gelangen. Wie sie selbst schrie und weinte und nach ihrer Mutter rief. Wie hart die Hände ihres Vaters gewesen waren; wie Schraubstöcke, die ihren Körper umklammert hielten. Wie er sie schlug, als sie sich einfach nicht beruhigen wollte. Und mit einem Mal kam die Wut, urtümlich und alt, älter als ihr kleiner Leib und sie färbte die Trauer wie Blut Wasser verfärbt. Sie war wild, war beißend und unendlich heiß. Agni verlor sich darin, wurde von dem Gefühl fortgezerrt, fortgerissen in einen wilden Sturm, der brannte, brannte, brannte. Die Zähne des kochenden Schmerzes rissen sie irgendwann aus dem Strudel, brachten sie zurück in das Haus ihres Vaters und zurück in eine Szenerie, die sich vollständig gewandelt hatte: statt ihrer Mutter hörte sie nun ihren Vater schreien, der sich vor Schmerzen auf dem Boden wand und seine gerötete, mit Brandblasen überzogene Hand hielt. „Du bist wie sie!“, schrie er. „Du bist wie deine – “

Ihre Mutter kam nicht mehr aus dem Keller zurück.

Die Erinnerung war ein weit geöffnetes Tor und die Wut, auf der Fährte ihrer Trauer, kam aus diesem Tor hervorgeschossen, brüllend und schreiend und brennend, brennend, brennend. Panisch schrie Agni auf und schlang die Arme um die Brust. Nein, bloß nicht wieder, nicht hier nicht jetzt, nein, nein neineineinein –

Sanft nahm die Fremde Agnis Hände und zog sie von der Brust weg.

„Sag mir, was du spürst“, sagte sie.

Agni schüttelte den Kopf und wehrte sich gegen den Griff der anderen.

„Sag mir, was du spürst.“

„Es brennt!“ winselte Agni und kämpfte mit mehr Kraft gegen die überraschend starken Hände. „Es soll aufhören! Es soll weggehen!“

„Wie oft hast du ihm das schon gesagt?“

„Immer, ständig!“

„Und hat es funktioniert? Ist es gegangen?“

„Natürlich nicht!“

„Warum kämpfst du dann?“

„Weil es weggehen soll!“

„Dieses Ding, diese Energie, dieses Feuer, es ist ein Teil von dir, ob du willst oder nicht. Es ist wie ein wildes Tier – und je mehr du gegen es kämpfst, desto mehr wird es dich verletzen.“

Agni sah mit tränenverschleierten Augen in das ernste Gesicht der Fremden.

„Atme.“

Agni verstand nicht. Sie atmete doch die ganze Zeit – wie sollte sie denn nicht atmen?! Der Sturm, der für einen kurzen Moment etwas von ihr gelassen hatte, brandete erneut, stärker und wilder über ihr zusammen, zog und zerrte von allen Seiten, in alle Richtungen und der Schmerz schwoll an, wurde größer, pochte in einem sengenden, unermesslichen Rhythmus, dem Agnis kleines Selbst nichts entgegenzusetzen hatte.

Der Boden kippte, verlor sich in der schrecklichen, unendlichen Weite des Himmels; und der Himmel zerbrach und stürzte auf die unerbittliche, alles ergreifende Erde.

Und mit dem Sturm, wie Trümmerteile, mitgerissen von seiner entsetzlichen Kraft, kamen Eindrücke, Erinnerungen, Gedanken, Gefühle, alle aus ihr, Teile von ihr, und doch durch die Energie dieser wilden, stürmischen, unzähmbaren Macht verstärkt und vergrößert. Und alles, was hochkam, tat Agni weh. Bilder von sonnigen Kindheitstagen, von Lachen und Spielen mit Freunden, von ihrer Mutter, die sie im Arm hielt, vom Vater, der lachte – selbst die kleinste Berührung schmerzte, war zu scharfkantig, zu überdeutlich, zu intensiv, zu hell, zu klar. Als habe der Sturm Agnis Haut weggebrannt und ihr verletzliches, wundes Fleisch bloßgelegt, das vor der kleinsten Berührung leidvoll zurückschreckte.

Agni wand sich, sich rang um Kontrolle, während sie vom Sturm, in diese oder jene Richtung geworfen wurde – ohne Schutz, ohne Halt. Ein Spatz im Auge eines Taifuns.

Agni weinte, sie wollte bloß, dass es aufhörte – es sollte doch bloß endlich alles vorbei sein; wieso konnte dieser Fluch nicht einfach verschwinden? Und sie versuchte, sich gegen den Sturm zu stemmen, gegen die Klauen des Tigers anzukämpfen, mit mehr Verzweiflung, mehr Kraft, doch der Schmerz wurde noch größer, je mehr sie widerstand, die Pein fraß sich noch tiefer in ihren Leib und sie schrie auf, weil da nur noch Schmerz war, der Schmerz ihrer Mutter, ihres Vaters, der Fremden, ihr eigener, dieser ewige Schmerz, den jede lebendige Kreatur spüren muss.

Klarheit.

Dieser Schmerz ist aller Schmerz.

Dieses Leid ist aller Leid.

Sie atmete. Ein und aus. Langsam, ruhig, tief in ihre Lungen. Im Sturm war nicht nur Schreckliches, waren nicht nur Zorn und Trauer und Angst, es waren auch Glück dort und Freude und Lust, waren Erinnerungen an laue Abende am Kamin, an ihren ersten Kuss.

Sie kämpfte nicht mehr dagegen an – nicht mehr gegen das Brennen, nicht mehr gegen die Bilder, nicht mehr gegen das Leid. Nur wer sich gegen die Wut des Sturms stellt, wird zerstört. Sie ließ sich tragen, treiben, ohne Widerstand, ohne Feindseligkeit, im Rhythmus ihres Atems. Und als Schmerz kam, als Wut kam und Angst, ließ sie sie zu. Und als Freude kam, ließ sie auch das zu. Ließ alles zu.

Einatmen. Ausatmen.

Sie sah zu, wie der Sturm abebbte. Wie das Brennen nachließ. Wie der Schmerz nachließ. Die Erinnerungen nachließen. Sah zu, wie alles verging.

Und nur sie blieb zurück.

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Kein guter Tag

Der Wind pfeift durch Räume und Gebälk des heruntergekommenen Hauses, fegt über die staubigen Böden, dringt ein durch die zerschlagenen Fenster, findet jede noch so kleine Ritze in den Holzbohlen. In einem der Zimmer im Obergeschoss hängt ein Glockenspiel, sacht wiegt es sich im Wind und gibt hin und wieder ein leises Klingen von sich. Ob die ehemaligen Bewohner des Hauses es zurückließen, als sie ihr Heim verließen, oder nur nie die Gelegenheit bekamen, es mitzunehmen, weiß heutzutage niemand mehr.

In einer Ecke des Raumes regt sich etwas, eine einsame Gestalt, zusammengekrümmt in einem Schlafsack liegt sie auf einem Haufen Kissen. Bis auf die kurzen, strohblonden Haare ist von der Frau kaum etwas zu erkennen. Das Gesicht trägt sie hinter einer seltsam anmutenden Maske verborgen, die bis auf zwei Löcher für die Augen nichts vom Gesicht ihrer Trägerin erahnen lässt. Der bizarre Apparat wird von zwei Gummibändern dicht am Kopf gehalten, auf der Rückseite ist eine kleine Glasphiole befestigt, in der eine blaue Flüssigkeit schwappt.

Ein Arm schiebt sich aus dem Schlafsack hervor, am Handgelenk eine klobige Uhr, auf der in leuchtenden Ziffern „16,2%“ prangt.

Mit einem Fluch auf den Lippen richtet die Gestalt sich auf. Verdammt, sie hat zu lange geschlafen. Wenn ihre Energieanzeige derart gesunken ist, muss es bereits weit nach Mittag sein und die Stadt ist noch gut und gerne zwanzig Kilometer entfernt. Selbst wenn sie den Rest des Tages ohne Rast durchläuft, wird es ihr kaum gelingen, die Stadttore vor Einbruch der Dunkelheit zu passieren. Und dabei hatte sie eigentlich gehofft, keine weitere Nacht in dieser Einöde verbringen zu müssen.

Die Frau streckt sich ausgiebig und gähnt kräftig. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, doch sie muss weiter. Mit ein bisschen Glück wird sie unterwegs einen Farmer treffen, der sie mitnehmen kann, tröstet sie sich.

Sie greift nach links, zu einem verschlissenen Rucksack neben ihrer improvisierten Schlafstatt.

Und verharrt, als ihre Finger den Stoff streifen.

Erneut flucht sie, lauter diesmal und mit eindeutiger Panik in der Stimme. Mit einem Schlag hellwach zieht die Frau den Rucksack heran, reißt ihn auf, wühlt darin, dreht ihn schließlich sogar kopfüber und schüttelt ihn aus. Das Ergebnis bleibt das Gleiche. Der Beutel bleibt leer. Die drei Batteriezellen, die am Vorabend noch darin lagen, sind verschwunden.

Als sie sich im Raum umsieht, fällt ihr Blick auf den dreckigen Holzboden, in dem sie am Vorabend eine frische Spur durch den Staub getrampelt hat. Und erschaudert, als sie direkt daneben eine zweite Spur entdeckt, die auf direktem Wege zu ihrem Rucksack führt. Und von dort anschließend auf denselben Weg wieder aus dem Raum hinaus.

Langsam atmet die Person ein und aus, versucht, ihren zitternden Körper zu beruhigen. Wer auch immer in der Nacht hier war, hat es offenbar nicht über sich gebracht, es zu beenden. Sie lebt, das ist erstmal das Wichtigste. Nicht weit von ihrer Position aus befindet sich eine alte Fabrik, vielleicht finden sich dort noch einige Batterien. Oder vielleicht kann sie sogar die Spur ihrer unliebsamen Besucher aufnehmen.

Ihr Blick wandert zu der Uhr an ihrem Handgelenk: „16,1%“

Noch genug Leistung für mehrere Stunden, genug, um sich Ersatz zu besorgen, notfalls mit Gewalt.

Die Frau kriecht aus ihrem Schlafsack und steht auf. Bis auf eine bereits viel zu lang getragene Unterhose und einen BH, bei dem ein Metallbügel bereits den Stoff durchsticht, verhüllt nichts ihren mageren Körper. Mit flinken Fingern zieht sie zwischen den Kissen einige Klamotten hervor, ein Karohemd, eine Jeans, ein Paar Socken. Ein Gürtel mit einem leeren Waffenholster rundet das Bild ab. Die Frau schnappt sich ihren Rucksack, wirft einen letzten Blick auf ihr nächtliches Lager und verlässt dann den Raum.

Im Flur hängen einige Bilder und zeichnen ein Bild von dem Leben der einstigen Bewohner. Ein kleiner Schrank steht an einer Wand, doch er ist leer, sie hat ihn schon am Vorabend durchsucht. Die anderen Räume ebenfalls, deswegen wendet sie sich direkt der Treppe zu, auf der noch ihre Fußspuren vom Vorabend zu erkennen sind. Ebenso wie die des nächtlichen Diebes.

Ihr Weg führt die Person hinab ins Erdgeschoss, durch eine zerstörte Küche, ein verwüstetes Wohnzimmer und schließlich durch eine einstige Glasfront ins Freie.

Eine staubige Einöde breitet sich vor ihr aus, durchbrochen nur von einigen verkümmerten Sträuchern, die sich gegen die unwirtliche Umgebung behaupten. Früher, so erzählt man sich, soll es hier vor Pflanzen und Tieren nur so gewimmelt haben, heutzutage ist so etwas nur noch schwer vorstellbar. Nur wenig gelingt es, in der toxischen Atmosphäre zu überleben.

Ein Blick auf ihre Uhr holt die Frau in die Gegenwart zurück: „15,7%“. Wenn sie den Pflanzen und Tieren nicht bald Gesellschaft leisten will, sollte sie sich beeilen. Die Spuren ihres Besuchers sind auf dem harten Untergrund nicht mehr zu erkennen, also gibt sie sich nicht länger damit ab und schlägt stattdessen den ihr bekannten Weg ein. Bis zu der alten Fabrik ist es ein Fußmarsch von einer Stunde und mit etwas Glück wird sie dort Ersatz für die verlorenen Batterien finden.

Mit schnellen Schritten macht sie sich auf den Weg. Das einsame Haus bleibt hinter ihr zurück, schrumpft am Horizont zu einem Punkt zusammen und verschwindet schließlich ganz. Die einsame Wanderin hingegen zieht weiter dahin, ihr Ziel fest vor Augen. Unterwegs trifft sie immer wieder auf Relikte von einst, ein verrostetes Auto, ein kahler Baum, Knochen, einmal sogar auf ein altes Silo. Sie wirft einen kurzen Blick hinein, doch natürlich ist es leer.

Während sie läuft, kontrolliert die Frau immer wieder ihre Uhr, 14,7%, 13,5%, 11,2%. Endlich taucht in weiter Ferne ihr Ziel auf, eine große Halle mit drei Schornsteinen, die gen Himmel ragen. Einige Leute halten die alte Fabrik für verflucht, weil dort früher mit Chemikalien gearbeitet wurde, doch auf solches Gerede hat sie noch nie etwas gegeben. In den letzten Jahren hat sie bereits einige solcher Hallen besucht und dabei den ein oder anderen wertvollen Fund gemacht.

Die Frau beschleunigt ihre Schritte, hoffnungsvoll eilt sie voran. Und in diesem Moment passiert es. Ein unachtsamer Schritt, eine kleine Bodenwelle und plötzlich schlägt sie mit rudernden Armen auf dem Boden auf.

Der Aufprall treibt ihr die Luft aus der Lunge, ihre Hände schrammen schmerzhaft über die Erde, doch viel schlimmer ist für sie das kaum hörbare Klirren von der Rückseite ihrer Maske. Noch bevor sie mit ihrer Hand vorsichtig über die Bänder des Atemgerätes streichen, ahnt, nein fürchtet sie bereits, was sie vorfinden wird. Und sie irrt sich nicht, als sie ihre Hand zurückzieht, klebt eine blaue, zähflüssige Masse daran, die von ihren Fingern zu Boden tropft.

Ein Entsetzen ergreift die Frau, wie sie es in ihrem Leben noch nicht gespürt hat. Nur mit Mühe gelingt es ihr, einen klaren Gedanken zu fassen. All die Jahre, die Entbehrungen, die Suche nach einer Heilung oder zumindest einen Sinn in all dem Unglück. Und all das ausgelöscht, durch einen falschen Schritt im falschen Augenblick. Mehr brauchte es nicht, um einen in dieser unwirtlichen Welt zu töten. Wenn sie nicht schnellstmöglich einen Ersatz für ihren Energiekristall findet, …

Sie weigert sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Entschlossen reißt sie einen Stofffetzen aus ihrem Ärmel und drückt ihn gegen ihren Hinterkopf, in der Hoffnung, damit die Batterie lange genug stabilisieren zu können, bis …

Schluss damit, sie hat wichtigeres zu tun. Ein Blick auf ihre Uhr lässt nichts Gutes erahnen, doch bis zu der alten Fabrik ist es nicht mehr weit.

Sie fängt an zu rennen, achtet nun nicht mehr auf ihre Umgebung, läuft um ihr Leben. Mit jeder Minute schrumpft die Entfernung zu dem verfallenen Gebäude, doch in gleichem Tempo sinkt auch die Anzeige auf ihrer Uhr. Ab und an wirft sie einen hastigen Blick darauf, doch wie genau sind die Zahlen jetzt noch? Jeden Moment rechnet sie damit, dass ihr Sauerstoffaggregat den Dienst einstellt.

Endlich erreicht sie das verlassene Gelände, mit dem freien Arm wild winkend und um Hilfe schreiend nähert die Frau sich dem Gebäude. Ist da ein leichtes Kratzen in ihrer Stimme zu hören? Schmeckt die Luft in ihrer Lunge nicht irgendwie seltsam?

Noch einhundert Meter trennen sie von dem Gebäude, dann fünfzig. Eine Bewegung hinter einem zerbrochenen Fenster zieht die Aufmerksamkeit der Frau auf sich. Ohne groß nachzudenken, ändert sie ihre Richtung, rennt schreiend und winkend darauf zu, ungeachtet der Gefahren. Vielleicht sitzt dort, hinter diesem Fenster, ihre letzte Hoffnung.

Sie hat kaum den halben Weg überwunden, als das geschieht, wovor sich jeder Überlebende seit Kindesbeinen an fürchtet. Mit einem unscheinbaren Piepsen stellt das Sauerstoffaggregat vor ihrem Gesicht den Dienst ein, die Automatik wird leiser und verstummt schließlich ganz. Das sanfte Summen, welches die Frau seit ihrer Geburt begleitete, ist verschwunden.

Vor Schreck stolpert die Frau über ihre eigenen Füße und landet, zum zweiten Mal an diesem Tag, ungemütlich auf der Erde.

„Hallo, ist da jemand?“

Eine Stimme, nicht weit von ihr entfernt. Sie hebt den Kopf und sieht drei Personen, die soeben aus dem Fenster der Fabrikhalle klettern und auf sie zu eilen. Der Vorderste hält ein Gewehr in Händen, sonst tragen sie nichts bei sich.

„Helft mir“, will die Frau rufen, doch ein Hustenanfall schüttelt sie und reißt ihr die Worte von den Lippen. Die Mechanik ihrer Maske hat sich erst vor wenigen Sekunden abgeschaltet, doch schon jetzt spürt sie ein unangenehmes Kratzen in der Lunge und die Sicht verschwimmt vor ihren Augen.

Nur undeutlich sieht sie, wie die drei Fremden sie erreichen und auf den Rücken drehen. Einer packt grob ihren Arm und wirft einen Blick auf ihre Uhr, auf der die leuchtenden Ziffern „0,0%“ zeigen.

„Bitte, ich brauche Hilfe“, versucht es die Frau erneut, doch die Worte sind so leise, dass sie sie selbst kaum verstehen kann. Die Fremden ragen über ihr auf, diskutieren scheinbar miteinander, deuten immer wieder auf sie und ihre Maske. Immer wieder schnappt sie einzelne Worte auf, doch das Gift macht ihr das Denken schwer und es gelingt ihr nicht, dem Gespräch zu folgen.

Nach einigen Minuten, vielleicht waren es auch nur ein paar Sekunden, kommen die Fremden zu einer Einigung. Einer von ihnen greift hinab, packt grob den Kopf der hilflos Daliegenden und fummelt kurz an den Bändern herum, welche das Sauerstoffaggregat halten.

Dann schreit er triumphierend auf und reißt ihr mit einem Ruck die Maske vom Gesicht.

Die Zeit scheint stillzustehen, als der Mann sich aufrichtet, seine Beute in Händen. Zum ersten Mal seit ihrer Geburt sieht sie den Himmel und die Welt durch ihre eigenen Augen, sieht die drei Fremden mit ihrer Maske, die Fabrikhalle im Hintergrund, die grelle Sonne über ihr.

Dann trifft sie ein Schlag gegen den Kopf und ihr wird schwarz vor Augen.

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In der Leere des Nichts

Möp, Möp, Mööööööp. “Ja ja”, denkt sich Adyl, während er in seiner Koje liegt und mit schwerfälliger Hand nach dem Wecker schlägt, der ihn so unsanft aus seinen so unerholsamen Träumen reißt. Endlich, nach dem dritten Schlag, den der junge Mann blind durchführt, weil er viel zu müde ist, dass er sein mit roten Locken geschmücktes Haupt anhebt, ist das Maschinchen, das fest in der Seitenwand der Koje eingearbeitet ist, still. Adyl stöhnt erleichtert, ohne dass er auch nur einen Versuch wagt, aus dem viel zu kleinen Bett aufzustehen. „Das nächste Mal”, so denkt er sich: „werd ich woanders anheuern.” Der Kapitän des Schiffs gehört einer Spezies an, die ihm oft nicht mal bis zum Bauchnabel reicht, dementsprechend bauen sie ihre Schiffe leider nur nach ihren Bedürfnissen und sparen dabei auch noch Materialkosten, ganz im Sinne ihres auf Gewinnmaximierung und Ausbeutung fokussierten Glaubens. So liegt er noch ein, zwei, oder sind es vier Momente, da, ehe es laut an der stählernen Tür hämmert. Unmittelbar nach dem Klang eines Stahlhammers auf den Köpfen von hundert Feinden ertönt eine abgedämpfte, aber nicht minder imposante Stimme. Es ist Truk’ra, der für Adyls Geschmack viel zu pelzige Schiffskoch, locker über zwei Meter groß, mit im Vergleich kleinen Hauern in seinem Maul, die dennoch länger als die Handfläche des Menschen sind und einer Schnauze, die etwas an die eines Leonberger erinnert.
„Aufstehn, Nacktmull”, dröhnt es von hinter der Tür. Ja, das ist sein Spitzname für den einzigen Menschen auf der Nussschale, die auf den Namen Ginja getauft wurde. Nur mühsam erhebt sich der 23-jährige Mann, schlurft mit einem lauten Murren in die Hygieneecke seiner Kabine, um sich zu erleichtern, die Zähne mit der Ultraschallbürste abzuschaben und sich dann mit müden Augen sein Gesicht im Spiegel zu betrachten. Die eingefallenen Wangen werden langsam aber doch von einem Fläumchen, das man kaum als Bart bezeichnen kann, verdeckt. Niemals wird er auf so einen Bartwuchs kommen wie sein Onkel Trander. Aber auch so wird er niemals an ihn herankommen, egal ob optisch oder im Gemüt. Der Choleriker aber stets voller Tatendrang lehrte dem damals noch jungen Adyl alles, was man über Schiffsmaschinen und Motoren im Allgemeinen wissen muss und damals war der Rotschopf sogar noch selbst voller Energie, war eifrig, lernte fleißig, saugte förmlich wie ein Küchenschwamm alles in sich auf, was ihm sein gerade mal 10 Jahre älterer Onkel vermittelte. Diese Zeiten sind noch nicht so lange her, aber sie fühlen sich wie eine Ewigkeit an.
Adyl verlässt die Hygieneecke, zieht sich seinen blitzblauen Overall an und hängt sich seinen Werkzeuggurt an die Hüfte. Dann öffnet er die Kabinentür. Draußen steht sichtlich ungeduldig der Schiffskoch, dessen Fell aussieht, als wäre es wie eine Pizza in Mehl eingestaubt. „Ja, ja, bin schon da”, prustet der Mensch genervt und gemeinsam trotten sie den für die Größe des Schiffs doch recht langen Gang hinab, bis sie eine Leiter erreichen. Kein Wort kommt weder dem Pelzigen noch dem Nacktmull über die Lippen. Doch das ist es, was ihre Freundschaft ausmacht. Sie verstehen sich auch ohne Worte, über jegliche Speziesgrenzen hinweg. An der Leiter trennen sich ihre Wege. Truk’ra biegt links ab, die viel zu kleine Kombüse ist vielleicht 5 Meter weiter. Adyls Ziel liegt die Leiter hinab, der Maschinenraum.
Seit knapp 2 Monaten kann er diesen seinen Arbeitsplatz nennen. Nur wenige Jobs konnten ihn länger halten, aber keiner konnte ihn so sehr aussaugen wie dieser hier. Nicht, dass er nicht grundsätzlich gerne an Schiffsmaschinen herumschraubt. Aber die Arbeiten an diesen Maschinen gleichen wohl eher denen des Sisyphos. Kaum hat er System A hergerichtet, fällt auch schon System B aus, während System C immer noch in er Pipeline wartet, um repariert zu werden. Wahrlich, das ist Adyls metaphorischer rollender Felsen!
Und jetzt auch noch sein Ixionrad in Form eines auf zwei Beinen laufenden Frosches, die in einem gelben Jumpsuit gekleidet ist. Nagisa heißt sie und sie ist die Pilotin des Schiffs. die in einem gelben Jumpsuit auf einer Kiste mit Ersatzteilen sitzt und scheinbar ungeduldig auf Adyl wartet. „Na, auch schon wach?”, meckert sie: „Schlaf kostet nur Credits.” „Und Meckern kostet mich Nerven. Was willste?”, schnauzt der Mensch. „Das weißt du genau”, bleiben die Worte Nagisas kryptisch, sie muss auch nicht mehr sagen. Die Situation des Schiffs nervt nicht nur den Schiffsmechaniker sondern auch die Pilotin im gleichen Maße. „Musst du nicht ans Steuer?”, versucht Adyl abzulenken. „Na, ohne Antrieb brauchen wir wohl schwer jemanden am Steuer, meinst nicht?” Damit hat sie nicht ganz Unrecht. Schon seit vier Tagen verharrt das Schiff an Ort und Stelle, weil der Hauptmotor ausgefallen ist und damit jegliche Form von Fortbewegung. Weder Sublichtflug noch ein Sprung mit dem Blackhole-Sprungantrieb sind möglich. Lediglich die Notfallenergie hält die Lebenserhaltung und ein paar kleinere Systeme am Laufen. Gestern hat Adyl noch ein weiteres halblegales Diagnoseprogramm, das er auf der Station C34 von einem zwielichtig aussehenden Verkäufer erworben hat, laufen lassen. Das hat ganze 13 Stunden gedauert. Zeit, die er erst zum Essen mit Truk’ra und dann mit Schlafen verwendet hat. Für mehr hätte es ohnehin nicht gereicht. Jetzt müssten die Ergebnisse endlich vorliegen. Der Mechaniker lässt Nagisa links liegen und bewegt sich zum Zentralrechner. Die Froschfrau reckt sich, erhebt sich endlich von der Kiste, zwinkert Adyl hämisch noch zu: „Aber das packst du schon, sind ja nur vier Tage.” Dann verlässt sie langsam mit einen für Adyl immer noch ungewohnt menschlich wirkenden Hüftschwung den Maschinenraum. Durchatmen! Die Diagnosedatei öffnet sich, ein Schwall aus Zahlen und Buchstaben regnet den Bildschirm hinab und offenbart Adyl … nichts.
„Das kann’s doch nicht sein! Warum läufst du Rostmühle nicht?”, ist er empört. Mit der linken Hand reibt er sich entnervt die Augen, kratzt sich anschließend etwas an der linken Backe, nur um dann sein Gesicht auf den Bildschirm mental erschöpft fallen zu lassen. „Irgendwie”, seufzt er und beginnt einen Dialog mit dem Schiffsantrieb, als könne es antworten: „sind wir uns ähnlicher, als mir lieb ist. Eigentlich passt doch alles. Hab nen guten Job. Ok, gut ist übertrieben, aber beschissen ist er wirklich nicht. Die Credits stimmen eigentlich. Also größtenteils. Und trotzdem fühl ich mich so … leer, so energielos, … als hätt’ man mich vergessen, bei der letzten Raumstation aufzutanken, … wir sind wirklich füreinander bestimmt…” Dann lehnt sich Adyl an den Schiffsmotor, der eine unmenschliche Kälte ausstrahlt und versinkt in einen traumlosen Schlummer.
Der Schiffsalarm reißt ihn aus dem erholsarmen Schlaf. Roter Alarm? Verdammt! Ein Zischen gefolgt von dem Knacken des Kommunikators ertönt in seinem linken Ohr. Es ist Kapitän Hikoki mit seiner unverkennbar schnarrenden Stimme: „Langsam könnten wir was von deinen Wundern gebrauchen.” Adyl rappelt sich so schnell auf, dass ihm kurz schwindelig wird: „Was, was ist denn los?”, möchte er wissen, während er von einer Erschütterung zu Backbord durchgerüttelt wird und die Antwort schon erahnen kann: „Piraten!” Das Signal bricht ab. Der als Antwort angedachte Fluch bleibt dem jungen Menschen ohnehin im Halse stecken. Stattdessen hechtet er hektisch abermals zum Zentralrechner und sucht wie wild im Diagnoseprogramm nach einer Lösung. Wenige Momente später gibt er das Vorhaben mit einem beherzten „Scheiß drauf!“ auf, rennt den langen Gang hinab. Dort steht das BHE, ein Generator, der dafür verantwortlich ist, dass er ein Wurmloch erzeugt, durch das man in Überlichtgeschwindigkeit reisen kann. Eigentlich. Denn seit dem Systemtotalausfall ist der drei Mann breite und fünf Mann hohe Metallklotz zu nichts mehr zu gebrauchen. Zu fast nix. Denn Adyl holt seinen Momentschrauber aus dem Gürtel, schraubt an der linken Seite der Wand zwei Schrauben ab, wodurch sich eine Klappe löst. Mit mehr Elan, als er die letzten 2 Wochen gesamt verspürte, greift er hinein und packt sich ein eiförmiges Objekt, das an vielerlei Schrauben hängt. Eigentlich ist dieses Ei lediglich ein Energietranslator, um die verschiedenen Energiequellen auf einen Standard zu bringen, aber Adyl erinnert sich, dass man dieses veraltete Stück Technik auch anderweitig einsetzen kann.
Lange ist es her, da zeigt ihm sein Onkel Trander eben solch ein Objekt, wohl drei bis vier Generationen älter, aber im Grunde das gleiche Teil. Mit ein paar wenigen Handgriffen öffnet der erfahrene Handwerker das Ei, wodurch eine Spule frei wird. „Diese Spule”, erklärt er mit einer sonoren Stimme, mit der er wohl auch Karriere als Opernsänger hätte machen können: „die bauen wir in den alten Chabby ein.” Der Chabby war ein uraltes Landfahrzeug aus dem späten 21.Jahrhundert, das Adyls Onkel einige Jahre zuvor erstanden und in seiner Garage verstauben hat lassen. Und tatsächlich, diese Spule war exakt das, was die alte Rostlaube gebraucht hat. Denn nach zwei kurzen Fehlzündungen springt nun der Motor des alten Fahrzeugs mit einem elendigen Husten an.
Genauso will es der nun erwachsene Adyl auch machen, allerdings nicht mit einem alten Auto, sondern mit einem leichten Frachtraumschiff. Naja, Jacke wie Hose, oder so ähnlich. Wie vom wilden Affen gebissen packt Adyl die Spule, rennt zum Sublichtmotor, öffnet die Wartungsklappe. Sofort hängen lose Kabel heraus, die der junge Mann greift und beginnt mit der Spule zu verbinden. Er greift nach einem Stromkoppler und einem Instalöter. Wenige Momente und viele kurze Handgriffe später ist die Spule mit den Kabeln verbunden. „Jetzt heißt es hoffen”, wird Adyl beinahe religiös. Dann greift er sich ans Ohr. Es klackt und rauscht. Hikoki ist am anderen Ende: „Ich hoffe, du hast gute Nachrichten.” Ist der froschähnliche Alien neugierig. Seine Stimme ist hört sich zeitgleich gerührt und geschüttelt an. „BHE ist down, aber Sublicht müsste gehn. Macht sie fertig und dann schauen wir weiter”, erklärt Adyl so kurz es ihm nur möglich ist, während gleichzeitig zwei Treffer an Steuerbord einschlagen. Die Verbindung bricht wieder ab. Aber Hikoki hat verstanden. Denn schon beginnt die Maschine, an der Adyl herumgedoktert hat, zu husten, zu spucken, zu rotzen und schließlich in ein samtiges Surren zu wechseln.
Der Motor läuft! Adyl fühlt sich so voller Energie, wie schon lange nicht mehr. Wäre es keine so kritische Situation, er würde lachen. Nein, er tut es sogar ungeachtet der Situation. Mit hüpfenden Herzen sprintet er zurück zum Hauptcomputer. Dort kann er die Sensoren anzapfen und damit das Geschehen im All beobachten. Grinsend steht er da und sieht, wie zwei Punkte am Bildschirm tanzen. Eins muss man Nagisa lassen. Fliegen kann sie! Keine 2 Minuten später ist das Spektakel wieder vorbei. Alle atmen durch. Die Piraten haben sich die Zähne ausgebissen und sind geflohen. Wenn Adyl heute zu Bett geht, wird er sich auf Morgen freuen!

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Monolith

Eines Morgens war er einfach da gewesen. Mitten in seinem Garten bei den Oleanderbüschen und Ranunkeln.
Ein Ungetüm aus fast schwarzem Gestein, das seltsam matt im erstarkenden Licht der Sonne glänzte. Vielmehr schien die Oberfläche jedweden Funken Helligkeit verschlingen zu wollen.
Schweigend hatte er in der Küche gestanden. Hatte gedankenverloren auf diesen Stein gestarrt, während er unentwegt mit dem Löffel in dem vollen Kaffeebecher gerührt hatte. Etwas zog ihn wie magisch an. Etwas, das keinen Namen trug und das er noch nie zuvor verspürt hatte.
Eigentlich …
Ja, eigentlich, so dachte er, müsste er doch erschrocken darüber sein, was er da sah. Schließlich spazierten Steine, Felsen oder derartiges nicht einfach des Nachts in fremde Gärten.
Eigentlich sollte er sich fürchten. Aber - und diese Tatsache ließ ein unangenehmes Frösteln über seinen gesamten Leib wandern - er tat es nicht.
Nicht ein bisschen.
Stattdessen verspürte er vielmehr eine Art Sehnsucht. Sehnsucht danach, nach draußen zu treten und sich dem Stein zu nähern. Noch verharrte eine sanfte Nebelbank auf dem Boden, die sich träge durch den Garten schob. Für einen Augenblick glaubte er gar, die Schwaden flößen aus dem Stein heraus, einer merkwürdig trägen, halbtransparenten Maße gleich, die sich nicht entscheiden konnte, in welchem Zustand sie sich befand.
Aber das konnte nicht sein.
Oder?
Eigentlich .
Langsam glitten seine Augen an dem Stein entlang, ausschauhaltend nach irgendwelchen Auffälligkeiten. Als genügte es nicht, dass die Anwesenheit des Monoliths auffallend genug war.
Er registrierte kaum, wie er die Tasse abstellte. Wie er zu der Tür trat, die von der Küche nach draußen auf eine kleine Veranda führte. Er blinzelte und stand auf einmal vor den Stufen, die nach unten in den Garten führten als hätte er sich dorthin teleportiert. Der Boden fühlte sich eiskalt an unter seinen nackten Füßen, aber die Kälte drang nicht in seinen Körper. Für einen Moment verharrte er dort am Treppenabsatz und starrte auf seine Zehen als bemerkte er sie zum ersten Mal.
Hier draußen war das Drängen viel stärker, die Aura, die auf ihn einwirkte, kaum zu ertragen.
Er war nicht nahe genug.
Ohne den Blick abzuwenden, ging er nach unten. Das Holz war vom Regen vergangene Nacht noch recht nass.
Nur noch ein paar Schritte und doch war ihm als erstreckte sich der schmale gepflasterte Weg vor ihm in die Unendlichkeit.
Wie durch eine Membran hörte er das Zirpen der Vögel. Das Rauschen des Windes, der dann und wann auffrischte und das noch junge Laub an den Ästen zum Rascheln brachte.
Je näher er dem Stein kam, desto mehr schien die Geräuschkulisse zu verstummen.
Er hielt dem Verlangen stand, den Arm auszustrecken.
Zum ersten Mal in einer gefühlten Ewigkeit, war es nicht Einsamkeit, die ihn vereinnahmte.
Erst als er so nahe an dem Felsen stand, dass er jede Pore auf der Oberfläche ausmachen konnte, atmete er beinahe erleichtert auf, während die Welt um ihn herum in Stille verfiel.
Seine neugierigen Augen wanderten abermals an dem Stein entlang. Beinahe runde Einbuchtungen unterschiedlicher Größe zogen sich über die gesamte Oberfläche wie zu große Poren.
Als er jedoch genauer hinsah, da erkannte er eine Art optische Täuschung. In Wahrheit, so wurde ihm bewusst, handelte es sich um leichte Wölbungen. Wie Pusteln …
Fast glaubte er, ein leises Brummen zu vernehmen, das auf einmal einsetzte.
Er verharrte und lauschte.
Der Laut kam eindeutig von dem Objekt.
Kurz schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch und lauschte. Unter das Brummen mischte sich sein eigener aufgeregter Herzschlag.
Nach einer Weile verblasste es, rückte in den Hintergrund und wurde zu einem Grundrauschen. Aber dann glaubte er, etwas anderes wahrzunehmen. Er runzelte die Stirn, die Augen noch immer geschlossen haltend.
Ja, er war sich ganz sicher.
Da waren Stimmen. Nur leise, aber er irrte sich nicht.
Sie flüsterten und doch schrien sie. Einige waren misstönend und schmerzten in seinen Ohren. Es war ein Lamentieren und ein Jammern, Schluchzen und Leiden. Alles zugleich. Es war eine derart grauenerregende Kakophonie, dass er dem Verlangen standhalten musste, die Hände auf seine Ohren zu pressen.
Anderen jedoch haftete ein fast überirdischer Wohlklang an, der in ihm etwas anderes aufkeimen ließ. Er wollte tiefer hineinhorchen.
Innerlich schob er die misstönenden Stimmen beiseite wie Ähren auf einem Feld, durch das er an einem heißen Sommernachmittag streifte.
Schob sie so weit von sich, bis nur noch das verblieb, nach dem er sich sehnte.
Obwohl er kein einziges Wort verstand, das sie von sich gaben, ließ er sich locken. Er ließ zu, dass sie ihn umschmeichelten mit unverständlichen Versprechungen, denen er zu gerne nachkommen wollte.
Nur mühsam gelang es ihm, seine Augen wieder zu öffnen, denn seine Lider fühlten sich an als trügen sie eine schwere Last.
Nur langsam kam er wieder zu sich. Er musste eine ganze Weile so verharrt haben, denn die Sonne war mittlerweile höher gestiegen und erleuchtete den Stein, der in ihrem Licht wie ein pechschwarzer Riss in der Realität anmutete. Die merkwürdige Oberfläche absorbierte ihr Licht vollständig als fräße sie sich satt an ihr. Als hätte sie dort, wo der Stein stand, keinerlei Berechtigung zu existieren.
Nun konnte er es endgültig nicht mehr unterdrücken. Die Energie, die von dem Stein ausging schien auch ihn zu verschlingen, wenn, zugegebenermaßen, auf eine andere Art und Weise. Eine, die tiefer reichte und ihn in den Grundfesten seines Seins erschütterte und doch beruhigte.
Sein Selbst war verrückt in diesem Augenblick. Es stand neben ihm, während sein Körper seltsam ferngesteuert zu agieren schien.
Er spürte nicht mehr den Wind, der allmählich zu einem Tosen anschwoll als wollte er ihn warnen.
Hatte nicht mitbekommen, wie sämtliche Vögel in der näheren Umgebung wie auf ein unsichtbares Zeichen verstummt waren und wie in Panik in alle Himmelsrichtungen stoben.
Oder wie sich das strahlende Blau am Himmel langsam kippte, bis tiefgraue Wolken über ein giftig grünes Firmament jagten und schwarze schimmernde Sterne nach und nach aufleuchteten.
Wie in einem Zeitraffer welkte alles dahin, bis nur noch trockene Sträucher und tote Blüten zurückblieben.
Nichts bekam er mit.
Er war wie gefangen in seiner eigenen kleinen Welt, die nur noch aus ihm und diesem Felsen bestand, der so lebendig auf ihn wirkte als hätte sich ein Besucher in seinen Garten verirrt.
Nichts sollte ihn mehr trennen von diesem.
Langsam hob er die linke Hand, die unablässig zu kribbeln begonnen hatte. Bewegte er sie selbst? War er noch Herr seiner Sinne?
Es war ihm einerlei.
Nichts zählte mehr.
Nichts war mehr von Bedeutung.
Nur noch er und der Monolith.
Bedächtig spreizte seine Finger, die nur noch ein paar Millimeter von dem unheilvollen und doch so verheißungsvollen Gestein entfernt war.
Am liebsten, so dachte er, wollte er mit ihm verschmelzen. Eins werden. Die Einsamkeit von sich streifen, wie eine alte Haut, die nicht mehr passte. Er wollte sie nicht mehr spüren.
Als seine Handfläche Kontakt herstellte, ging etwas auf ihn über. Nistete sich in ihm ein.
Es brannte.
Es vergiftete ihn und heilte ihn doch von etwas, das er in seinem Geist verborgen trug. Etwas, das er sich nie hatte eingestehen wollen.
Es zerbrach wie Glas, das auf dem Boden zerschellte.
Panik und Ruhe begehrten in ihm auf wie zwei Ozeane in einem Jahrhundertsturm, während er sich an den Felsen klammerte, denn er war der einzige, der ihn zu retten vermochte.
Plötzlich öffneten sich die pustelartigen Wölbungen und hunderte Augen und starrten ihn an, während ein Chor an Stimmen schrie: „UREETHIA ALTHAIR - erwache!“

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Herbert Geht’s Gut

Unterm Strich konnte Herbert wirklich zufrieden sein. Natürlich war mit Mitte 60 nicht mehr alles so leicht, hie und da zwickte und zwackte immer etwas. Oft kam er morgens schwer aus dem Bett, so wie jetzt. Träge beobachtete er, wie Staubflocken in dem blassen Licht tanzten, das durch die nur halb zugezogenen Vorhänge in das kleine Zimmer fiel.

Er war manchmal etwas müde, aber er war nicht krank, das Geld reichte und er besaß sogar ein kleines Häuschen. Er war… vielleicht nicht glücklich, aber er konnte sich auch nicht beschweren.

Gedanken wie dieser kamen Herbert in letzter Zeit oft in den Sinn. Eigenartig.

Langsam drehte er den Kopf - sein Wecker blinkte ihm 7:15 entgegen. Höchste Zeit, aufzustehen. Mit einem langgezogenen Seufzer erhob er sich, stapfte ins Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs und danach in die Küche.

Beim Frühstück, ein Käsebrot, wie jeden Morgen, las Herbert die Zeitung. Die Welt war ein düsterer Ort, aber was konnte er schon ändern? Trotzdem, er betrachtete es als seine Pflicht, sich informiert zu halten. Er legte die Zeitung beiseite und erhob sich schwerfällig.

Heute war Dienstag, also zog Herbert seine Jacke und seine festen Gartenhandschuhe an und verließ das Haus. Die Sonne blendete ihn - er schob seine Brille nach oben und rieb sich die Augen. Dienstags kümmerte er sich immer um den Garten. Der war nicht groß, aber Herbert konnte jede Woche hier ein bisschen Unkraut zupfen, dort nach den Karotten sehen, und die Hecke wollte auch regelmäßig geschnitten werden. Noch vor ein paar Jahren hatte seine Mutter das alles erledigt, und das definitiv mit größerer Begeisterung als er. Jetzt, nach ihrem Tod, konnte Herbert den Garten nicht einfach verwildern lassen. Und Bewegung tat ihm gut, sagte sein Arzt.

Nach etwa einer Stunde lehnte Herbert die Gartenschere wieder an ihren Platz neben der Hecke, drehte sich mit dem Rücken zur Sonne und betrachtete sein Häuschen. Er hatte sein Leben lang darin gewohnt, ununterbrochen, bis auf die Woche Krankenhaus mit Blinddarmdurchbruch, als er zehn war. Sein Vater war schon lange tot, aber er und seine Mutter hatten im Erdgeschoss des Hauses gewohnt, bis er mit 20 angefangen hatte, den ersten Stock zu einer zweiten Wohnung auszubauen. Dort hatte Herbert gelebt, bis seine Mutter vor neun Jahren (oder waren es inzwischen schon zehn?) so krank wurde, dass er wieder in sein altes Kinderzimmer zog, um sich besser um sie kümmern zu können, wenn sie etwas brauchte. Auch nach ihrem Tod blieb er im Erdgeschoss wohnen. Er war ja nicht mehr der Jüngste und mit den Treppen… Er musste an die Zukunft denken. Nicht gerade seine liebste Freizeitbeschäftigung.

Herbert ging wieder ins Haus und machte sich eine Fertigpizza warm. Nach dem Essen ging er in das Arbeitszimmer und schaltete seinen Computer an. Seit es seiner Mutter schlechter ging, arbeitete er von Zuhause, aber auch zuvor hatte er seine Stunden reduziert und war nur noch ein paarmal im Monat ins Büro gefahren. Es war einfacher so, und seine Kollegen konnten mit ihm eh nicht viel anfangen.

Nach getaner Arbeit und dem Abendessen (Spiegelei und Bratkartoffeln) wartete im Keller der Lichtblick seines Tages: Herberts Modelleisenbahn! Schon als Kind hatte er davon geträumt, eines Tages eine solche zu besitzen, aber es war nie Geld für derlei Kaspereien dagewesen, wie ihn sein Vater immer wieder erinnert hatte. Vor drei Jahren dann hatte er sie sich schließlich doch gegönnt. Ein schönes Stück, glänzender Lack auf Mahagoni und Messing, das im weißen Licht der Leuchtstoffröhre an der Decke herrlich glänzte. Herbert konnte Stunden damit verbringen, daran zu schrauben, Kleinigkeiten auszubessern, Schienen neu zu verlegen und den kleinen Zug seine Bahnen drehen zu lassen.

Herbert war heute irgendwie melancholischer Stimmung. Nicht einmal das geschmeidige Surren des Zugs um eine besonders geschickt gelegte Kurve konnte ihn aus dem trübseligen Nebel befreien, der sich heute um seinen Kopf gelegt hatte. Nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten fühlte er sich leer. Ehrlich gesagt auch nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren. Den Grund dafür konnte er nicht festmachen.

Der Abend verlief ruhig und Herbert war pünktlich um 21 Uhr im Bett. Es dauerte lange, bis er einschlafen konnte.

Am nächsten Tag hatte er frei. Er verbrachte ihn damit, Zeitung zu lesen und fernzusehen, bevor er sich wieder seiner Eisenbahn widmete. Geruhsam, in seinem eigenen Tempo. Zugegeben, manchmal überkamen ihn Zweifel… Sein Arzt, der ihm geraten hatte, „mehr unter Leute zu gehen“. Aber was sollte das bringen? Wozu sollte er sein Leben verändern? Herbert war ein guter Mensch, er schadete niemandem und er war niemandem etwas schuldig.

Am Tag darauf ging es Herbert nicht gut. Vielleicht brütete er etwas aus? Er fühlte sich schlapp und müde, hatte in der Nacht kaum geschlafen, und er wollte den ganzen Tag nichts mehr, als sich hinzulegen. Während seiner Arbeit sah er einmal auf die Uhr und erschrak, als er bemerkte, dass erst eine Stunde vergangen war. Am liebsten wäre er um 19 Uhr schon ins Bett gegangen, raffte sich dann aber dazu auf, noch in den Keller zu gehen. Er war unkonzentriert und trübsinnig, während er mechanisch die Lok aus ihrem Futteral holte und auf die Gleise setzte. Er war heute sogar zu erschöpft, um sie zu polieren.

Es war nicht so, dass Herbert unzufrieden war. Er lebte so, wie er immer gelebt hatte. Anderen Menschen zu begegnen war immer mal wieder ganz nett, aber sie hinderten ihn meistens daran, den Tag so zu verbringen, wie er es geplant hatte. Er war gerne allein, zumindest meistens. Er musste sich um nichts kümmern außer um sich selbst. Sich nicht verbiegen, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden. Nicht ständig fürchten, etwas Falsches zu sagen oder sich versehentlich daneben zu benehmen oder sich zu blamieren. Sich nicht ständig darüber Sorgen machen, für irgendjemanden nicht gut genug zu sein.

Ein plötzliches Fiepen riss ihn aus seinen Gedanken. Herbert blickte auf die Eisenbahn, die plötzlich mitten auf den Schienen stehengeblieben war. Wahrscheinlich war nur die Batterie leer. Hier unten im Keller dieses alten Hauses war die Stromversorgung nicht immer ganz zuverlässig, daher hatte er seine Märklin so umgebaut, dass sie mit ganz klassischen Blockbatterien funktionierte. Zum Glück hatte er immer einen Vorrat gelagert… er zog die Schublade auf, in der sich das Elektrozubehör befand, und suchte darin nach den Batterien. Schon nach kurzer Zeit musste er feststellen, dass er keine mehr hatte. So ein Mist! In letzter Zeit war er einfach nicht auf der Höhe, sonst hätte er schon vor Wochen neue besorgt. Es ärgerte ihn, dass seine Abendplanung jetzt dahin war. Und dann würde er morgen einkaufen müssen? An einem Freitag? Der Supermarkt würde voller Menschen sein. Das ewige Warten und vielleicht Leute von früher, die mit ihm Smalltalk machen wollten… Dazu fehlte ihm einfach die Energie.

Vielleicht war im Dachgeschoss noch eine Batterie im großen Schlafzimmer. Herbert erinnerte sich, dass eine Taschenlampe dort oben mit denselben Batterien lief. Dafür konnte er auch nächste Woche noch welche nachkaufen, aber ohne eine funktionierende Eisenbahn? Es schauderte ihm vor der Vorstellung eines derart leeren Wochenendes und er stieg die Treppe hinauf.

Herbert ging nicht mehr gern ins obere Stockwerk. Als er noch dort geschlafen hatte, war es ihm nicht so sehr aufgefallen, aber jetzt, nach fast zehn Jahren, überfiel ihn der Anblick der dunklen Türen, die zu nichts außer leeren Räumen führten, wie ein Schlag in die Magengrube. Dicker Staub lag auf den Dielen. Das große Schlafzimmer befand sich zum Glück der Treppe am nächsten. Das hatte Herbert beim Ausbau des Obergeschosses absichtlich so geplant, damit sich die Kinder nachts nicht unbemerkt nach unten schleichen konnten. Ein bitteres Lachen entkam ihm, als er mit der Hand an der dunklen Wand entlangtastete, um den Lichtschalter zu drücken. Welche Kinder?

Schnell wandte er den Blick ab und betrat das Schlafzimmer. Damals, vor inzwischen beinahe vierzig Jahren, hatte er noch ganz optimistisch mit Frau und Kindern gerechnet. Das würde sich schon noch alles finden, hatte er gedacht. Als es darum ging, eine Wohnung für sich über der seiner Eltern einzurichten, stand nie außer Frage, dass er auch Kinderzimmer brauchen würde. Er hatte sich besonders viel Mühe dabei gegeben, die beiden Zimmer schön zu gestalten. Die minzgrüne Tapete an den Wänden war inzwischen sicher verblasst.

Egal, dachte er grimmig. Die Taschenlampe war nicht schwer zu finden, sie stand für Notfälle auf dem Nachttisch. Er nahm sie, wischte ein paar Spinnweben ab, schaltete alle Lichter im Obergeschoss aus und ging rasch wieder nach unten. Kinder waren sowieso anstrengend. Sie machten nur Arbeit, waren undankbar, hielten einen davon ab, das Leben so zu leben, wie man es wollte. Und es hatte eh nur eine Frau in seinem Leben gegeben, die für eine eigene Familie wirklich in Frage gekommen wäre. Eine zweite Chance hatte sich irgendwie nie ergeben.

Unwichtig. Es war besser so. Er konnte genau so leben, wie es ihm gefiel. Herbert wischte sich Feuchtigkeit aus seinen Augen (seltsam, aber es war ja staubig gewesen oben), schaltete die Taschenlampe an und leuchtete damit testweise ins dunkle Badezimmer. Nichts. Das durfte doch nicht wahr sein! Er versuchte es noch einmal, aber die kleine Birne blieb dunkel. Vielleicht war die Taschenlampe nach all den Jahren einfach kaputtgegangen? Herbert schraubte sie auf, während er in den Keller zurückkehrte, und entnahm die Batterie. Doch nachdem er diese in seine Lok eingesetzt hatte, musste er feststellen, dass sie offensichtlich leer war.

Herbert setzte sich auf seinen kleinen, abgewetzten Holzstuhl und blickte ins Leere. Er zwang sich, nicht zu denken. Im ganzen Haus war nichts zu hören außer das leise, elektronische Fiepen seiner Modelleisenbahn.

Zurzeit hatte Herbert wirklich überhaupt kein Glück. Er hatte sich am nächsten Tag schon morgens in sein Auto gesetzt und war zum Supermarkt gefahren, aber zum ersten Mal, seit er seine Eisenbahn besaß, waren die benötigten Batterien dort nicht aufzufinden. Musste er also wirklich zum Elektrofachhandel in die nächste Stadt fahren? Allein beim Gedanken daran fühlte sich Herbert erschöpft. Er dachte an sein stilles Haus, seufzte und stieg wieder in seinen kleinen grauen Corsa.

Der Verkäufer war jung und viel zu energetisch für Herberts Geschmack.
„Für welches Gerät sollen die Batterien denn sein?“, fragte er, nachdem er gerade schwungvoll eine Kiste hinter die Kasse gehievt hatte. Warum war das wichtig? Herbert hatte dem Jungen bereits die Art der Batterien genannt, die er benötigte.
„Für eine Modelleisenbahn. Märklin H0 39094.“
Der junge Verkäufer hielt in der Bewegung inne, Herbert die Packung mit den Batterien über die Ladentheke zu reichen.
„Sie haben eine analoge Märklin H0 so umgebaut, dass sie mit Batterien läuft?“ Etwas am Ton des jungen Mannes ließ Herbert aufhorchen. Zum ersten Mal hob er den Kopf und sah dem Jungen in die Augen. Sie lächelten ihn an.
„Das ist ja spannend. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie mir mal zu zeigen?“ Herbert blinzelte verständnislos.
„Wir haben einen Modellbahnclub hier in der Stadt. Mein Vater und ich sind Mitglieder, und wir suchen immer Verstärkung. Am elften organisieren wir eine Ausstellung in der kleinen Mehrzweckhalle. Wollen Sie nicht vorbeischauen? Es gäbe sicher einige dort, die sich Ihre Märklin gern mal ansehen würden.“
Herbert starrte ihn an. Der junge Mann wollte offensichtlich Werbung für seine Veranstaltung machen. Aber was versprach er sich davon?
Er will mir etwas verkaufen, dachte er. Oder es ist nur Höflichkeit. Und der Stress… Sich etwas Schönes anziehen, extra mit dem Auto die fünfzehn Kilometer in diesen Ort fahren, Parkplatzsuche, den Zug sicher transportieren, dann überall laute, fremde Menschen… Zuhause habe ich auch meine Bahn, es ist gemütlicher und ich kann den Tag so verbringen, wie ich es will…
Aber… Die anderen Eisenbahnen interessierten Herbert schon. Und es waren fremde Leute, klar, aber immerhin würde er nicht zu Smalltalk gezwungen werden - er könnte immer auf das Gesprächsthema Modelleisenbahnen ausweichen, denn damit kannte er sich aus. Vielleicht konnte ihm sogar jemand einen Tipp geben. Eine Drehmechanik des vorletzten Waggons klemmte in letzter Zeit immer wieder mal. Trotzdem… war das die Mühe wirklich wert? Ihm ging es doch gut.

„Danke, ich überleg’s mir“, sagte Herbert leise, bezahlte seine Batterien und fuhr nach Hause.

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Angenommene Betrachter stellen keine Fragen

Auf einem Stuhl am kleinen Tisch in der Küche sitzt ein mittelalter Mann und starrt ins Leere. Die Finger seiner zitternden Hände sind ineinander verkeilt und zucken immer wieder kurz, bevor er es wieder schafft, sich zu beruhigen.

Würde ihn jemand beobachten, würde derjenige denken, dem Mann sei etwas Schlimmes widerfahren - ein tragisches Unglück, ein schwerer Verlust vielleicht. Die aschfahle Haut ist nur ein weiteres Indiz für den bedenklichen Gemütszustand, von den dunklen Ringen unter den Augen ganz zu schweigen. Das kalte Licht der im ungewöhnlich lauten, elektrischen Rauschen summenden Glühbirne, die von einem stümperhaft befestigten Kabel von der Decke hinabhängt, hilft dem sich präsentierenden Bild auch nicht, einen wohlwollenderen Schluss ziehen zu können.

Aber im Raum mit dem mittelalten Mann am kleinen Tisch in der Küche unter der ungewöhnlich lauten Glühbirne ist niemand anderes. Einsam sitzt er da und niemand sieht ihm zu, wie er aus seiner Lethargie erwacht und sich die gelblich-grauen Turnschuhe an die Füße zieht. Niemand fragt sich, welche Farbe die Schuhe wohl an früheren Tagen gehabt haben müssen, vielleicht zu besseren Zeiten. Niemand hört sein Stöhnen und Seufzen bei jeder kleinen Bewegung, die doch so wenig Anstrengung hätte verursachen sollen.

Wäre jemand da gewesen, hätte ihm jemand zugesehen, ihm zugehört, ob er sich dann mehr Mühe gegeben hätte, nicht so schlaff und träge zu wirken, ob ihn die reine Anwesenheit eines anderen menschlichen Lebewesens sogar dazu gebracht hätte die Nase nicht in voller Lautstärke, sondern leise und anständig hochzuziehen, das konnte ihn niemand fragen, denn es war ja niemand da.

Wofür es niemand anderen benötigte, der den Mann durch sein banales und schnödes Dasein in seiner Einsamkeit erlöste, war es nach dem erfolgreichen Binden der Schnürsenkel aufzustehen, eine Energieleistung, die im sich darbietenden Bild der Geschehnisse schon gar eine halbumfängliche Ehrerbietung verlangen würde.

Das Nichtvorhandensein eines beobachtenden Zweiten sorgte darüber hinaus dafür, dass den mittelalten Mann niemand fragen konnte, warum er tun wollte, was ihm in kurzer Zeit bevorstehen würde. Es hätte zahlreiche Fragen gegeben, die man hätte stellen können, wäre man in just diesem Moment am selben Ort gewesen, an dem der Mann am kleinen Tisch in der Küche unter der ungewöhnlich lauten Glühbirne seine gelblich-grauen Turnschuhe angezogen und dabei lautstark gestöhnt und geseufzt hatte. Wo ein solcher mittelalter Mann denn die Energie hernehmen könnte für ein derart ernergieraubendes Unterfangen, dessen einziger Sinn und Zweck nicht in der Erfüllung einer anderen Aufgabe lag, als derer, eben diese Energie aus dem schlaffen und trägen Körper des mittelalten Mannes in Form von Schweiß und Hitze in Folge von ausgiebiger, körperlicher Bewegung hinauszuschütten und in die Welt zu tragen, statt sie dort zu behalten, wo sie doch allen Anscheines nach so dringend gebraucht wurde, wäre nur eine dieser Fragen gewesen.

Alle in anderen Umständen gestellten und in diesem Fall nicht ausgesprochenen Fragen bleiben unbeantwortet, da ja niemand da ist, der sie hätte stellen können, weshalb der mittelalte Mann keine Dringlichkeit verspürt, die ungestellten Fragen mit nicht geforderten Antworten überhaupt erst in die Existenz des Momentes zu entlassen. Und bevor es soweit kommt, dass die ungewollten Fragen nicht nur Gefahr laufen, von einem unanwesenden Beobachter gestellt zu werden, sondern sich gar im Geiste des mittelalten Mannes zu manifestieren, nimmt dieser den einzig möglichen Ausweg aus dieser verzwickten Situation und verlässt den Raum mit dem kleinen Tisch in der Küche unter der ungewöhnlich lauten Glühbirne durch die mit grauer, schon leicht absplitternder Farbe bemalte Tür.

Draußen auf dem Bürgersteig hält der mittelalte Mann kurz inne, denn ganz plötzlich ist er gar nicht mehr das einzige menschliche Lebewesen im Inneren von vier aus dichtem Backstein bestehenden und mit zerfaserter Tapete überzogenen Wänden, sondern einer von vielen dieser Geschöpfe, die sich neben ihm oder im viel kleineren, blechernen Inneren eines Automobils über den harten und aufgeheizten Asphalt zielstrebig zu ihrem nächsten Ziel bewegen. Vielleicht nimmt er sogar die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut wahr, oder hört das Zwitschern der Vögel neben dem lauten Dröhnen der motorisierten Fahrzeuge, oder riecht die Blüten und Blätter der Pflanzen im Park neben dem penetranten Gestank von Feinstaub und Abgasen. Nur mehr Fragen, die nun zwar einige in der Tat Anwesende hätten stellen können, in ihrer Ignoranz in diesem Moment allerdings nicht stellen wollten, schließlich sind sie gerade auf dem Weg wohin und da gibt es mit Sicherheit viel zu tun oder zu sehen oder andere wichtige Fragen zu stellen, die dann mit etwas Glück sogar jemand anderes als der mittelalte Mann beantworten wird.

Würde jemand von den nun in der Tat Anwesenden den in der Hektik des zielstrebigen Vorankommenwollens starr nach vorne gerichteten Blick auf den mittelalten Mann mit seinen gelblich-grauen Schuhen richten, würde der- oder diejenige zumindest den mit scheinbar großem Kraftaufwand verbundenen Start der Bewegung eben jenes mittelalten Mannes beobachten können. Sollte dieser hypothetisch beobachtende Passant seine Augen gar länger auf dem sich bietenden Schauspiel weilen lassen, er oder sie könnte diese wahrhaftig durchschnittliche Energieleistung noch länger beobachten, während der mittelalte Mann im Wirbel und Treiben des Stadtlebens verschwindet.

Es ist besonders tragisch das Fehlen eines angenommenen Betrachters der Geschehnisse anzuerkennen, der gar an Ort und Stelle wartet, vor der mit grauen, schon leicht absplitternden Farbe bemalten Tür, hinter der der kleine Tisch in der Küche unter der ungewöhnlich lauten Glühbirne steht, um den mittelalten Mann bei seiner Rückkehr mit den viel zwingenderen Fragen zu konfrontieren, die sich nach dem Absolvieren seiner selbst zugefügten Tätigkeit stellen. Würde sich ein solches Publikum in den beschriebenen Geschehnissen tatsächlich die Mühe machen und an eben jenem, in aller Ausführlichkeit beschrieben Ort, warten, könnte der mittelalte Mann auf eine in diesem Falle vorausgesetzt Frage antworten, ob es sich denn am Ende gelohnt habe, vor allem in Form eines nun vorhandenen erzielten, bereits im Voraus formulierten Zieles, diese mindestens gewöhnliche und dennoch milde beachtliche Energieleistung aufzubringen.

Aber obwohl in der Tat die Eigenschaft der reinen Anwesenheit auf einige oder gar viele Personen an diesem beschriebenen Ort zu der beschriebenen Zeit zutrifft, so erfüllt doch niemand die weitaus wichtigere Anforderungen, die es benötigt, um nicht nur diese Fragen formulieren zu können sondern vielmehr noch überhaupt die Rückkehr des mittelalten Mannes wahrzunehmen und dieses so nichtige Ereignis als ein im Gegenteil der Erscheinung bedeutendes Vorkommnis zu bestimmen.

So bleibt, im Auge der tatsächlichen und vorhandenen Beobachter, die es ja in diesem Falle nicht gibt, die mit grauer, schon leicht absplitternder Farbe bemalte Tür geschlossen und öffnet sich nicht erneut, nachdem der mittelalte Mann sie zuvor auf dem Weg aus der Küche mit dem kleinen Tisch unter der ungewöhnlich lauten Glühbirne durchschritten hatte. Und ob die hypothetischen Beobachter, die an Ort und Stelle vor ebendieser Tür gewartet hätten, die Rückkehr des mittelalten Mannes und das damit einhergehende Öffnen der Tür hätten miterleben können, nun, das können sie uns leider nicht bezeugen. Denn, obwohl diese angenommenen Betrachter eine so zentrale Rolle hätten spielen können, muss am Ende doch konstatiert werden, wenn auch schweren Herzens, gar mit einem ungläubigen Schütteln des Kopfes und zusammengeknirschten Zähnen - diese Betrachter, weder die tatsächlichen in ihrer körperlichen Anwesenheit, noch die hypothetischen in ihrer vollkommenen Vermeintlichkeit - die gibt es nicht.

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Die letzte Zuflucht

Airi zog ihren Mantel fester um ihren durchgefrorenen Körper, während sie durch die verlassenen Straßen schritt. Die Erschöpfung lastete auf ihr, die Kälte biss in ihre Haut. Sie musste irgendwo einen Ort finden, um sich vor diesem verfluchten Wind zu schützen.
Ihre Gruppe war losgeschickt worden, einem Gerücht nachzugehen – ein noch funktionierender Generator in den Ruinen einer alten Stadt. Doch die Hoffnung hatte sich als Illusion entpuppt. Und dann kam dieser Sturm.
Er hatte ihre Gruppe auseinandergespült wie Blätter im Wind. Er war so dicht gewesen, dass sie nicht einmal wusste, was mit den anderen passiert war und ob jemand außer ihr überlebt hatte.

Während eisige Böen wie scharfe Messer durch ihre Kleidung schnitten, verfluchte sie ihre Entscheidung sich freiwillig für dieses Himmelfahrtskommando zu melden. Sie musste dringend einen Unterschlupf finden.

Sie stolperte durch die Ruinen der zerfallenen Stadt in der Hoffnung eine Ecke zu finden, wo die Elemente noch nicht alles hatten zerfallen lassen, doch die Kälte und der Wind fanden sie überall.

Ein Gebäude das Stabilität versprach zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Keine Tür, aber ein Riss in der Wand, durch den Airi mit Mühe passen könnte. Sie quetschte sich durch durch Bruch in der Wand. Drinnen war der schneidende Wind nur noch ein leichter Zug. Sie lehnte sich gegen die kalte Wand und versuchte, ihre zitternden Hände zu wärmen. Ihr Blick durchsuchte ihre Zuflucht. Kahle Wände und Trümmer. Keine Schränke, keine Türen – keine Hoffnung auf Essen oder Nützliches.

Eine Metallplatte hinter einer großen Trümmerplatte erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit angespannter Vorsicht befreite sie das Areal von Steinen und Schutt, bis die großen Trümmer ins Rutschen kamen und mehr von der seltsamen Metallplatte freigaben.

Eine Tür? Ihr Herz schlug schneller. War dies… ein Bunker?

Sie strich mit tauben Fingern über das verschmutze Display neben der Tür. Ein kurzes Signal erklang, dann ein mechanisches Zischen. Die Tür glitt langsam zur Seite. Airi trat ein – und blieb regungslos stehen.

Das Innere wirkte sauber und unberührt. Ein leises Surren erfüllte die Luft, Monitore warfen ein kühles, blaues Licht auf die makellosen Wände. Die Luft war frisch und angenehm temperiert.

Vorsichtig bewegte sich Airi weiter. Sie fand Räume mit großen, futuristische Maschinen, deren Zweck sie nicht einmal erraten konnte. Displays zeigten durch matten Schein, dass sie betriebsbereit waren und wechselten in einen klaren Betriebsmodus, als sie sich näherte.

Neugierig besah sie die Einträge vor ihr. Es schien sich um alte Logbucheinträge zu handeln. Sie begann zu lesen:

„Wir haben den Bunker für den Notfall vorbereitet. Sollte die Außenwelt endgültig versagen, wird dies unser letzter Zufluchtsort sein. Nahrung und Energie kann ewig produziert werden.“

Airi schluckte, als ihr bewusst wurde was sie gefunden hatte. Sie durchflog die Einträge.

Die Maschinen hier waren Wunderwerke. Nahrung, die mit Energie erschaffen werden konnte, ohne Ackerbau, ohne Tierhaltung. Proteine, Gemüse und sogar Gewürze konnten aus biotechnologisch gezüchteten Zellstrukturen generiert werden. Ein weiteres Gerät erinnerte an einen Wasseraufbereiter, doch es war weit mehr. Es filterte nicht nur, sondern stellte durch molekulare Umwandlung nährstoffreiche Flüssigkeiten her. Reinigungsroboter entfernten alle Verschmutzungen und führten alles Organische in den Produktionskreislauf zurück.

Verblüfft und schockiert arbeitete sich Airi durch die Funktionen des Bunkers als eine sanfte Stimme sie aus ihren Nachforschungen riss.

„Guten Tag, Fremde. Ich will nicht stören, aber ich konnte nicht länger warten. Wer bist du?“

Airi zuckte zusammen und suchte nach dem Ursprung der Stimme.

„Bitte entschuldige, ich sollte mich wohl ausführlicher vorstellen. Mein Name ist ECHO. Ich bin die gute Seele dieser Zuflucht. Mein Zweck war einst die Bewohner dieses Bunkers zu beraten und zu unterstützen.“

„Gute Seele? Du… du bist eine KI?“

„Ich bevorzuge den Begriff „künstliches Bewusstsein“, aber ja, ich bin eine Art KI. Wer bist du? Was führt dich zu mir?“

Airi zögerte. „Ich… Ich bin Airi. Ich suche Nahrung und Wärme. Und Sicherheit.“

ECHO summte etwas lauter. „Nun, das alles kann ich dir bieten. Willkommen. Ich freue mich wieder Gesellschaft zu haben. Sieh dich in Ruhe um.“

Und das tat Airi. Sie fand eine Dusche, in der warmes Wasser floss und ließ es über ihren Körper rinnen. Sie fühlte, wie der Schmutz der letzten Tage von ihr abgewaschen wurde. Danach zog sie frische Kleidung an, die eine der Maschinen extra für sie während ihrer Dusche produziert hatte – weicher Stoff, sauber, nicht wie die harten, abgetragenen Sachen, die sie gewohnt war.

In der Küche ließ sie sich eine Mahlzeit generieren. Der Geruch von frischem Brot und dampfendem Tee erfüllte den Raum. Sie aß langsam, kostete jeden Bissen aus – es war das Beste was sie je gegessen hatte. Dann lehnte sie sich zurück, betrachtete das warme Licht an der Decke.

„ECHO, wie lange war dieser Bunker ungenutzt?“

„Die letzte registrierte Aktivität ist datiert auf 86 Jahre, drei Monate und 17 Tage vor deinem Eintritt.“

Airi fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Und was ist mit den Menschen passiert? Warum sind sie nicht mehr hier?“

Ein leises Summen erklang, als ECHO auf die Archivdateien zugriff.

„Sie sind gestorben. Die Zuflucht wurde in Betrieb genommen, als abzusehen war, dass die Gesellschaft zusammenbrechen wird. Es wurde eine heterogene Gruppe aus verschiedenen Gesellschaftsschichten erstellt, die zusammenleben, sich fortpflanzen und die Menschheit erhalten sollten. Nach einigen Jahren aber kam es zu internen Spannungen. Streitigkeiten über Ressourcenverteilung, Führung und darüber wie mit Überlebenden, die den Bunker fanden, umgegangen werden sollte. Die Situation eskalierte. Es gab Tote und ein Teil der Bewohner wurde aus der Zuflucht verbannt. Für die Zurückgebliebenen war eine Fortpflanzung nicht mehr möglich und so starben sie aus. Einer nach dem anderen. Der letzte von ihnen entsiegelte die Zuflucht und verließ sie.“

Airi runzelte die Stirn. „Also war das hier einmal ein Paradies. Aber es hat nicht gehalten.“

„Kein Paradies, Airi. Eine notdürftige Zuflucht. Ein Ort, der die Hoffnung tragen sollte, dass die Menschheit wieder zu alter Stärke erblüht.“

„Aber sie sind gescheitert.“

„Ja, das sind sie. Sie konnten weder neu erblühen, noch ihre kleine Gruppe am Leben halten.“

„Und was ist mit mir?“ Airi stützte die Ellbogen auf die Knie. „Könnte ich einfach hierbleiben? Ich bin allein. Ich würde keinen Krieg anzetteln.“

ECHO schwieg einen Moment. Dann erklang ihre sanfte Stimme: „Alleinsein ist eine kurzfristige Lösung. Die Natur des Menschen sucht nach Verbindung.“

Airi forschte in sich hinein. Suchte sie nach Verbindung? Seit sie denken konnte, versuchte sie anderen Menschen aus dem Weg zu gehen.

Sie hatte sich sogar freiwillig gemeldet das Dorf zu verlassen, um nach dem Generator zu suchen, nur um der Willkür durch die Männer ihres Dorfes zu entkommen.

Die Menschen waren hart, grausam und egoistisch. Und wenn mal jemand Güte zeigte, wurde er ausgenutzt, bis nichts mehr blieb.

Und dennoch hatte ECHO Recht, schon jetzt sehnte sie sich nach einer Art Nähe, die ECHO ihr nicht bieten konnte. Airi schloss die Augen. Konnte sie einfach allein bleiben? Für immer?

Die Tage vergingen, und Airi begann, sich an den Bunker zu gewöhnen. Es war eine absurde Erfahrung – nach Jahren der Angst, dass jemand kam und ihr das Wenige nahm, was sie besaß, nun auf einmal alles zu haben was sie brauchte. Zuerst hatte sie noch gezögert, sich wirklich auf den Luxus einzulassen, aber nach einigen Tagen genoss sie es, in einem weichen Bett zu schlafen, warm zu duschen und sich köstliches Essen auf Knopfdruck generieren zu lassen.

Sie entdeckte auch eine Bibliothek mit digitalen Archiven. Sie sah sich alte Dokumentationen über die Welt an, wie sie einmal gewesen war – Städte voller Licht und Überfluss, Menschen, die sorglos durch belebte Straßen schlenderten.

Währenddessen führte sie immer wieder Gespräche mit ECHO. Die KI wurde für sie zu einer ständigen Begleiterin. In ihren Gesprächen tastete sich Airi langsam an ein Verständnis dessen heran, was vor dem Kollaps geschehen war.

„ECHO, was ist damals passiert?“

ECHO summte nachdenklich. „Der Menschheit ging die Energie aus. Immer fortschrittliche Technologien benötigten immer mehr. Maschinen wurden leistungsfähiger, Städte wuchsen, Technik wurde allgegenwärtig. Der Energiehunger nahm exponentiell zu, doch die Energiequellen wuchsen nicht mit. Im Gegenteil, fossile Energiequellen versiegten, alternative Energien reichten nicht aus, um den immensen Verbrauch zu bedienen. Staaten und Konzerne versuchten, die Produktion zu maximieren – aber es war nie genug.“

Airi runzelte die Stirn. „Und dann? Hat man einfach aufgegeben?“

„Nein. Es begann mit Engpässen. Stromausfälle, Rationierungen. Länder führten Kriege, Kraftwerke wurden sabotiert, Pipelines zerstört. Mit jeder zerstörten Energiequelle wurde es schlimmer, bis das gesamte System zusammenbrach. Zum Schluss reichte das was an Energie produziert werden konnte kaum noch für die einfachsten Technologien und so kamen Hunger, Kälte und Dunkelheit über die Menschen, die in ihrer Abhängigkeit nicht mehr wussten, wie man ohne Technik überlebt.“

Airi rieb sich die Schläfen. „Also haben die Menschen sich selbst ihrer Energie beraubt?“

„Ja. Sie machten sich abhängig von einer Kraft, die sie nicht nachhaltig kontrollieren konnten. Und als sie sie verloren, fehlte ihnen das Wissen und die Mittel, um ohne sie weiterzuleben.“

Die Tage verstrichen weiter. Airi hatte gerade ein ausgiebiges Frühstück hinter sich und schlenderte durch die Zuflucht.

„Genießt du deinen Morgen, Airi?“ ertönte ECHOs Stimme sanft aus den Lautsprechern.

„Ja. Schon.“ Sie lächelte schwach. „Aber es fühlt sich… falsch an. So viel Komfort, nur für mich. Für wie viele Personen reicht die Energie der Zuflucht, ECHO?“

„Die Zuflucht wurde für 150 bis 200 Personen konzipiert.“

„Ich nehme also 200 Menschen ein gutes Leben weg, wenn ich hier allein bleibe?“

„Ja, Airi. Ihnen und ihren Nachkommen.“

Airi erwiderte nichts. Wäre sie bereit die Türen zu öffnen? Sollte sie die immensen Ressourcen teilen? Oder würde die Gier der Anderen die Zuflucht zerstören? Könnte sie wirklich den Komfort und die Sicherheit für sich behalten?

Airi war gerade dabei das alte Unterhaltungszentrum zu durchforsten, als ein schriller Alarm ertönte und ECHOs Stimme verkündete:

„Bewegung außerhalb des Bunkers erkannt. Annäherung mehrerer Personen.“

Airi eilte zum Kontrollzentrum.

„ECHO, wer ist das?“

„Eine Gruppe Menschen. Meinen Daten nach sind sie in keinem guten Zustand. Sie haben Verletzte und bald wird ein neuer Schneesturm hereinbrechen. Soll ich die Zuflucht öffnen?“

„Halt! Warte! Nicht öffnen!“ Airis Gedanken rasten.

„Es ist deine Entscheidung, Airi. Aber diese Menschen werden sterben, wenn du sie nicht einlässt.“ ECHOs Stimme war ruhig und sanft wie immer.

Airi aktivierte mit zitternden Fingern die Kameras.

Eine Gruppe Männer, die durch den Schnee stapften. Keine Frauen. Keine Kinder.

Ihr Atem wurde flach. Die Bilder, die sofort in ihrem Kopf auftauchten, waren keine guten. Sie hatte zu oft gesehen, was Männer taten, wenn sie sich im Recht fühlten. Wie sie nahmen, was sie wollten. Und sie war allein.

ECHO meldete sich erneut. „Airi, sie stehen direkt vor dem Bunker. Sie suchen nach einem Weg hinein.“

Airi wich einen Schritt vom Terminal zurück. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.

„Was soll ich tun?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Das kann ich dir nicht sagen.“

Sie drehte sich zu den Bildschirmen. Die Männer untersuchten die Umgebung, einer klopfte gegen eine Metallplatte im Schnee. Ihr Blick fiel auf die Steuerkonsole. Sie könnte sie einlassen – sie retten. Aber was, wenn sie dann nicht mehr gingen? Was, wenn sie ihr den Bunker nahmen oder Schlimmeres taten?

„Ich kann nicht…“ Ihre Stimme zitterte. „Wenn ich die Türen öffne, wird alles wieder wie früher werden. Männer werden über mich und mein Leben bestimmen!“

„Nicht jeder Mann ist eine Gefahr.“

Airi schüttelte verzweifelt den Kopf. „Aber sind SIE eine Gefahr?“

Sie biss sich auf die Lippe, Tränen brannten in ihren Augen. Sie fühlte sich allein hier drinnen – allein mit ihrer Angst.

Die Konsole vor ihr blinkte. Der Bunker war warm, die Luft sauber.

Draußen wurde die Gruppe hektischer – sie hatten den nahenden Schneesturm bemerkt. Airi konnte keine Worte hören, aber die Körpersprache war eindeutig: Sie hatten Panik. Sie brauchten Schutz.

„Was wirst du tun, Airi? Soll ich öffnen oder versiegeln?“ fragte ECHO sanft.

Airi schluckte, atmete tief durch und drückte zitternd eine Taste…

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