Drei sind besser als zwei
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Der alte Röhrenfernseher warf sein fahles Licht auf Mark, der zusammengekauert in dem großen Ohrensessel Platz genommen hatte. Seine Pupillen wanderten zu seinem Leidwesen nur allzu aufmerksam über die höchst mittelmäßig rappenden Schauspieler, die ein Internetvergleichsportal bewarben. Manchmal wünschte sich Mark, zumindest einen Tyler Durden in sich zu haben, wenn er schon der Knecht seiner verstimmten inneren Uhr sein musste. Langsam griff er zu dem Wasserglas, das auf seinem hölzernen Couchtisch stand. Das kalte Nass tat gut, wenngleich ein heißer Kakao oder ein Glas Milch ihm wohl eher einen Dienst erwiesen hätten. Naja, was solls. Mark wollte gerade zu dem dritten großen Schluck ansetzen, als er das Glas abrupt wieder zurück auf seine Unterlage beförderte und seine Sitzposition aufrichtete. „Wir unterbrechen das aktuelle Programm für eine Sondermeldung“. Eine nicht sehr erfreut dreinschauende Nachrichtensprecherin blickte durch die Mattscheibe. „Soeben hat uns die schockierende Nachricht erreicht, dass lokale Einsatzkräfte den leblosen Körper von Hillary Clinton in ihrem Washingtoner Apartment gefunden haben. Zu den genauen Todesursachen wurden noch keine Angabe gemacht“. Es war einer dieser Momente, in denen Mark doch etwas froh war, nicht schon im Land der Träume zu weilen, auch wenn er es wohl nicht offen zugegeben hätte. Schließlich war ein Mensch ums Leben gekommen, und zwar nicht irgendwer. „Allerdings wurde von offizieller Stelle bereits der Verdacht auf ein Tötungsdelikt geäußert“, fuhr die Fox-News-Schönheit fort. „Bei uns im Studio sind mittlerweile exklusive Aufnahmen einer anliegenden Überwachungskamera eingetroffen. Es konnte dieser Mann als Hauptverdächtiger ausgemacht werden.“ Auf den Schirm trat das leicht verschwommene Bild eines relativ jungen Mannes, bekleidet mit einer markanten roten Baseballmütze. Mark zuckte zusammen.
2:26
Davids Schritte hämmerten eine rhythmische Melodie auf den Washingtoner Asphalt, Synchron mit seinem keuchenden Atem. Sein Plan hatte keine Hindernisse dieser Art beinhaltet. Und schon gar keinen hell erleuchteten Gemeinschaftsraum. Doch davon ließ er sich sicher nicht beirren. Nun, eigentlich war es tragisch, dass einige seiner Gesinnungsgenossen ihre Nächte regelmäßig unter den Brücken des Potomac Rivers verbrachten, aber von Zeit zu Zeit eben doch auch praktisch. Die größte Chance auf ein erfreuliches Aufeinandertreffen rechnete er sich für das westliche Ende der Arlington Memorial aus, die Brücke, über die seine Chicago-Bulls-Mütze in diesem Moment wippte.
2:13
Die normalerweise knapp zweistündige Autofahrt von Richmond nach Washington war ob der ruhigen Nachtstunden in einem Bruchteil der Zeit vorübergegangen, lediglich das innerstädtische Straßengewirr hatte Mark Kopfschmerzen bereitet. Es würde wohl noch ein Weilchen dauern, bis er sich an die Großstadt gewöhnte. In seinem Fahrersitz hatte er sich gefragt, wer überhaupt schon von der monumentalen Nachricht wissen konnte. Die Schichtarbeiter, die wohl einen Großteil der noch nicht seelenruhig schlafenden ausmachten, wohl eher nicht. Er bezweifelte, dass viele Informationen an so einen Arbeitsplatz drangen. Blieben eigentlich nur die von Natur aus schlaflosen, wie er. Doch all das war jetzt eigentlich nicht sonderlich wichtig, denn nun stand er vor dem Verbindungsgebäude, die selbsternannten Nordamerika-Zentrale, dem einzigen Ort, an dem er seinen Kindheitsfreund vermuten konnte, und drückte die Türklingel seit gefühlten fünf Minuten durch. David Bohr war eigentlich immer ein recht umgänglicher Zeitgenosse gewesen. Bis er eines Tages plötzlich das Licht erblickt hatte, wie er es selbst nannte. Und jetzt sah man ihn als Hauptverdächtigen im Mordfall der nächsten Präsidentschaftskandidatin der Demokraten.
Endlich öffnete sich die Tür. Ein offensichtlich schlaftrunkener Mann, dessen grau meliertes Haar auf mittleres Alter schließen ließ, begrüßte ihn: “Was in Gottes Namen wollen Sie um diese Zeit…“ „Ich suche David Bohr. Da er sich offenbar in Nordamerika, präzise gesagt hier in Washington aufhält, habe ich allen Grund zur Annahme, dass…“ „Schön, schön, kommen Sie schon rein und suchen sie nach ihrem David, wenn Sie mir dann meinen Schlaf lassen.“ Unverzüglich trat Mark über die Schwelle. Das war ziemlich leicht gegangen für so einen paranoiden Haufen. Aber um zwei Uhr morgens leistet wohl kaum jemand großen Widerstand. „Er weilt also in ihrer Einrichtung?“ „Jaja, könnte man so sagen. Er ist letzte Woche von Frankfurt angekommen.“ „Wo ist sein Zimmer?“ „Gleich da drüben, die erste Tür“. Mark blickte in einen leicht heruntergekommenen, kleinen Gemeinschaftsraum, von dem ein einziger Gang links abging, in welchen der Mann mit seinem Finger zeigt. Mark ging schnurstracks auf die erste Tür zu und öffnete sie. „Leer.“ „Wo ist der denn hin um diese Zeit?“, fragte sich der namenlose Mann. „Keine Ahnung. Verdammt!“ Mark machte auf dem Absatz kehrt und verschwand durch die Tür.
9:43
Obwohl der überproportionierte Kaffeebecher von Starbucks wie üblich seine Wirkung entfaltete, machte sich trotzdem langsam Müdigkeit in Marks Körper breit. Stundenlang hatte er die halbe Stadt nach seinem alten Kumpan abgesucht, vergebens. Ein vernunftgetriebener Mensch wäre natürlich auf direktem Wege zur Polizei marschiert und hätte erklärt, den Typen von den Überwachungsaufnahmen zu kennen. Aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Es war keine wirkliche innere Verbindung zu David, keineswegs, die existierte schon seit Jahren nicht mehr zwischen Ihnen. Aber trotzdem… Die Sache schien so unwirklich zu sein.
Da er langsam an die Grenzen jener Zeitspanne kam, in welcher man sich in einem Lokal aufhalten konnte, ohne zu konsumieren und dabei nicht unhöflich wirkte, erhob sich Mark schließlich und trat auf die Straße. Rechts von der Starbucks-Filiale befand sich ein kleiner Elektronikladen, der mit seinen mächtigen Fernsehgeräten Marks Aufmerksamkeit auf sich zog. Er erkannte die Sprecherin aus der Nacht. „… wird Donald Trump sein Statement abgeben. Der Kandidat wird um die Mittagsstunden vor dem Kapitol erwartet, wo er Stellung beziehen wird“.
13:08
Als Teil einer Menschenmenge fühlte man sich immer so vereint, fast schon geborgen fand Mark, auch wenn er mit den anderen Schaulustigen wohl nur ausgesprochen wenig gemeinsam hatte und der vulgär übergewichtige Mann vor ihm, der seinem Wunsch, Amerika wieder toll zu machen, zwischen seinen lächerlich fetten und verschwitzen Schulterblättern Ausdruck verleihen musste, keinen schönen Anblick abgab. Irgendwie war es wie bei einem schlimmen Unfall: Man wollte beim besten Willen nicht hinsehen, musste aber doch irgendwie.
Gerade als Mark seinen angewiderten Blick vom Slogan auf dem Shirt des Wal-Mannes lösen konnte, watschelte ein hellblonder Haarschopf auf die Bühne und nahm seine Position hinter dem Rednerpult ein: „Leute. Was heute Nachte geschehen ist, war schrecklich. Eine tat von furchtbaren, furchtbaren Leuten. Aber ich habe es euch ja gesagt. Wir haben ein Problem!“ Die Menge jubelte frenetisch, wie auf Kommando. Trump setzte zum nächsten Satz an, als er mit geöffnetem Mund und erhobenem Zeigefinger innehielt. Er senkte die Hand wieder, schloss den Mund. Ein dünnes Rinnsal von tiefrotem Blut ergoss sich aus seinem Ohr. Er kippte nach hinten um.
13:12
Er rückte sich die Mütze zurecht. David war nun doch etwas stolz auf sich. Zwei von Drei.
14:28
Mark stürmte entsetzt durch den Raum, auf den Mann aus der Nacht zu. „Wo, verdammte Scheiße, ist David?!“ „Keine Ahnung, er war nie hier!“ Langsam kämpfte Mark mit sich, um die Augen nicht zufallen zu lassen, trotz der Aufregung. „Kacke verdammte! Wo könnte er sein?“ „Ich weiß nicht… er wollte heute ins Diplomatenviertel, unsere Sache voranbringen hat er gesagt… Du weißt schon, es muss endlich was geschehen, wir können doch nicht ewig in den ungeordneten Überbleibseln der Nazidiktatur leben, verwaltet von einer GmbH, als Kolonie der Entente. Und da sich weder die Bundesregierung, noch die Russen kooperativ geben, müssen wir…“ Mark schaltete innerlich auf Stand-By. Diese „Reichsbürger“ mit ihren Verschwörungstheorien gingen ihm immer mehr auf den Keks. Hier hatte er keine Hilfe zu erwarten.
18:02
Mark war zu einem Schluss gekommen. Er musste endlich aufhören, David hinterherzulaufen. Stattdessen musste er ihm voraus sein. Dazu hatte er sich in seinen Ohrensessel zurückgezogen und versucht, Schlüsse aus seinem Wissen zu ziehen. David war also in „offizieller Sache“ nach Washington gekommen, anscheinend um zu verhandeln, oder wohl eher um mit seinen Spinnereien einem Haufen mehr oder weniger wichtigen Leuten mächtig auf die Nerven zu gehen. Und hatte dann anscheinend beschlossen, das Problem direkt an der Wurzel zu packen und die Urheber gleich aus der Welt zu schaffen. Oder er hatte es von langer Hand geplant, was doch wahrscheinlicher war: David war immer extrem minutiös vorgegangen, ob es um die Pläne für den Nachmittag oder um die Zubereitung einer Fünf-Minuten-Terrine ging. Einen Doppelmord überließ man da nicht dem Zufall. Dieser Gedanke riss Mark aus seinem Halbschlaf. Der lange Tag würde noch länger werden.
20:20
So dumm die amerikanischen Waffengesetze für Außenstehende auch waren, so praktisch konnten sie von Zeit zu Zeit sein. Sie ermöglichten es David beispielsweise, Seelenruhig mit seiner Glock im Hosenbund auf das Weiße Haus zuzuspazieren. Er sah chic aus in seinem Anzug. Genauso wie Mark, der sich soeben selbst eine Walther zugelegt hatte. Nur wussten die beiden noch nichts voneinander.
20:30
Wenn die Gerüchte stimmten, würde der Präsident selbst noch heute Nacht das Weiße Haus verlassen um sich an einem geheimen Aufenthaltsort zu verbarrikadieren. Sicher ist sicher. Und Mark hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in der Zwischenzeit im Regierungsviertel seine Augen nach David offen zu halten. Aufmerksam, sofern das seine fast lähmende Müdigkeit zuließ, stromerte er durch die Gassen, im Zick-Zack auf eines der berühmtesten Gebäude der Welt zu. Die Waffe fühlte sich extrem ungewohnt an, vermittelte aber doch auch ein wenig Sicherheit. Er würde sie womöglich brauchen.
21:04
Die Küche, in der David stand, war weiträumig und wirkte klinisch steril, und obwohl sie vom Hauptgebäude ausgegliedert und nur durch einen unterirdischen Tunnel daran angebunden war, waren die Sicherheitsvorkehrungen zum Eintritt rigoros. Doch Juanita hatte schon seit seinem ersten Amerikaaufenthalt Augen für ihn gehabt.
22:01
Michael, ein eindrucksvoller Afroamerikaner von adonischen Ausmaßen und NBA-würdiger Körpergröße, setzte sich mit prall gefülltem Tablet neben seine Kollegen, die schon eine Minute vor ihm in die Mensa gekommen waren. Dass Taco-Day war schien der einzige Lichtblick an einem ansonsten extrem entbehrungsreichen und auslaugenden Tag zu sein. Bereits am Morgen hatten die Kinder gequengelt, warum Papa wieder den ganzen Tag arbeiten musste, danach die ganze Aufregung über die „Vorfälle“, wie man di Morde intern respektvoll nannte, und nun eine im letzten Moment eingeschobene Spätschicht. Ohne auf die anderen Agenten zu achten, die eh lieber schwiegen, stopfte er sich das erste Teil in den Mund und kaute genüsslich darauf herum.
23:00
Wer aufmerksam war, und Mark war das, und wusste, wonach man schauen musste, und das tat er, dann erkannte man, dass etwas in Gang gesetzt wurde. Eine gut geölte Maschinerie wurde angeworfen, die keine Fehler zuließ. Und im Normalfall auch keine machte. Zuerst schlossen sich alle Jalousien der weißen Außenfassade, dann gingen, eines nach dem anderen, getimet wie ein Schauspiel, alle Lichtquellen im Außenbereich aus. Ein Garagentor öffnete sich, hervor glitten mehrere gepanzerte Geländewagen, die die Eskorte der Limousinen bilden würden.
23.30
Pünktlich nahmen die unzähligen Wachleute ihre Posten ein, wobei sie den gesamten Gebäudekomplex gleichermaßen abdeckten. Lediglich im Umkreis der SUV’s war eine kleine Ansammlung auszumachen. Jetzt galt es nur noch zu warten. Mark drückte sich tiefer in das Gestrüpp, das ihm Sichtschutz bot.
23.51
Marks Augen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment bersten. Wie gern hätte er sich einfach nur hingelegt, seine schweren Lider zufallen lassen und sich der Traumwelt hingegeben, von ihm aus auch gleich hier in einem Busch vor dem Weißen Haus. Doch das konnte er sich jetzt nicht leisten. Ein weiteres Mal öffnete sich das große Garagentor, diesmal kamen drei identische, tiefschwarze Stretch-Limousinen zum Vorschein. In einer davon saß in diesem Moment der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Langsam rollten die Wagen an, während sich die Geländewagen vorne und hinten einreihten. Der Straßenzug nahm Gestalt an.
23:55
Doch gerade, als der vorderste Truck beschleunigte, schien der dritte komplett aus der Reihe zu tanzen. Das Auto zog rapide nach rechts, direkt auf die Blumenbeete zu, und wirkte dabei fast wie führerlos. Nur Sekundenbruchteile Später ereilte die anderen Karossen ein ähnliches Schicksal. Sie alle rollten vor sich hin, runter von der schmalen Straße und rein ins Gebüsch oder verursachten Auffahrunfälle untereinander. Das gesamte bizarre Spektakel nahm nur wenige Sekunden in Anspruch, dann herrschte allumfassende Ruhe. Mark suchte die Umgebung nach den Wachmännern ab. Wo waren sie? Da entdeckte er einen bulligen Körper, der zusammengesackt an der Hauswand lehnte, links davon ein weiterer bewegungsunfähiger Agent. Weiter hinten taumelte eine Gestalt umher, bis auch sie zusammenbrach. Nur ein einziger Sicherheitsbeamter schien noch auf den Beinen zu sein. Er näherte sich einer der Limousinen. Er war ungewöhnlich schmächtig für das Mitglied einer Spezialeinheit.
23:58
Mark schnellte empor und setzte zu einem atemberaubenden Sprint an. Er schoss über die feuchten Grünflächen, hin zum schief abgestellten Wagen, in den David soeben eingestiegen war. Er riss die Hintertür auf und schleuderte sich ins Innere.
23:59
Sein Blick wanderte nach oben, gefolgt von seiner gezückten Walther. Er erblickte in etwa das, was er erwartet hatte: David saß auf der Rückbank, direkt neben ihm Barack Obama, dem eine Handfeuerwaffe unsanft gegen die Schläfe gedrückt wurde. „Mark?“ David schien ehrlich überrascht. „Was machst du denn hier? Willst du mich etwa aufhalten?“ Seine Stimme wechselte zu einem eindeutig amüsierten Unterton. „Nun, dafür wirst du mich schon töten müssen!“ Er grinste Mark ins Gesicht. Dieser richtete seine Pistole in die Richtung von Davids Kopf. Mit seinen tonnenschweren Augen fixierte er einen Punkt direkt zwischen jenen des Doppelmörders. Er bewegte den rechten Zeigefinger langsam auf den Abzug, spannte seinen gesamten Körper an, bevor er ein letztes Mal blinzelte und
24:00
Mark schlief ein.
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