Die Legende von Horst, dem Sonnenfänger
In einer kleinen Stadt am Rande eines großen Meeres wohnte einmal ein junger Mann, dem sagte man nach, dass er ein Träumer und Tunichtgut sei, da er den lieben langen Tag damit verbrachte, in der Gegend zu stromern und kleine Heldentaten zu verbringen. Er rettete Vogelküken, die aus dem Nest gefallen waren, barg verlorene Schmuckstücke aus dem Wasser, trug der alten Mutter des Schmieds die Einkäufe, spielte mit den Kindern der Witwe Nietenthal und ging jeden Abend auf den verlassenen langen Bootssteg hinaus, um zu angeln. Er wohnte ganz allein in einem bescheidenen Haus am Marktplatz, und niemand wusste um seine Eltern; er war ganz einfach immer schon da gewesen.
Eines Tages kam eine sonderbar gekleidete Frau in die Stadt. Sie hatte einen Schleier vor dem Gesicht und war in bunt schillernde Gewänder gekleidet, die jeden Flecken ihrer Haut verbargen. Sie kehrte in der Bar zum Kolossalen Wal ein, bestellte eine Flasche Wein und trank sie in einem Zug leer. Dann verlangte sie ein großes Bier. Die Leute in der Bar sahen ihr staunend zu und schließlich wagte der Schmied es, sie anzusprechen: »Wer seid ihr, gnädige Frau, und was verschlägt euch in unsere Stadt?«
Sie sah ihn mit glasigen Augen an. »Mein Name ist Sophia, und ich bin die Überlebende eines schrecklichen Schiffsunglücks. Seit Wochen schon wandere ich am Strand entlang, von einem Ort zum nächsten, und suche zu vergessen, doch die Piraten holen mich stets ein.«
»Piraten?«, raunten die Leute erschrocken.
»Ein Schiffsunglück?«, fragte der Kellner Joppe. »Ich habe von keinem Unglück gehört!«
Sophia nahm einen großen Schluck Bier und winkte dem Wirt nach einem neuen. »Es geschah vor vielen Wochen, vielleicht gar vor einem halben Jahr. Ich bin die Tochter eines Kapitäns, der mit einer Ladung erlesener Stoffe unterwegs war. Des Nachts wurden wir von einer blutrünstigen Bande Piraten überfallen, und alle Männer wurden getötet. Nur mir gelang es, in einem Beiboot ans Ufer zu flüchten. Doch ich bin, so scheint es, vom Pech verfolgt, denn die Piraten ziehen ebenfalls von Ort zu Ort und plündern und morden, wohin sie auch kommen! Ach, ich bin es so leid!«
»Warum geht ihr nicht ins Landesinnere?«, fragte ein Mann aus der Menge.
Sophia schüttelte betrübt den Kopf. »Das geht doch nicht! Ich muss weitergehen und die Städter und Dörfler warnen! In nur einem Tag werden die Piraten auch zu euch kommen!«
Da schwiegen die Leute in der Bar. Aber nur wenige Stunden später hatte sich die Schreckensnachricht überall verbreitet und die Kinder klammerten sich weinend an ihre Mütter, während die Männer zu den Waffen griffen. Die Angst war groß, denn die Piraten seien besonders grausam und viele noch dazu.
Natürlich hörte auch der junge Horst von der Geschichte. Er trat aus seiner Wohnung, wo er gerade einen Fisch gebraten hatte, auf den Markt und mischte sich unter das wild debattierende Volk. Die einen sagten, man solle die Stadt schleunigst verlassen und ins Landesinnere flüchten, andere wollten die Schiffe bemannen und ins offene Meer davon segeln, wieder andere riefen, man dürfe die Heimat nicht kampflos aufgeben. Der Bürgermeister, auf einem wackligen Podest stehend, bat vergebens um Ruhe. Als Horst ihn ansprach und seine Meinung kundtun wollte, fuhr der Bürgermeister ihn barsch an: »Du halt deinen Mund, Taugenichts! All deine geretteten Vögel helfen uns jetzt nichts, denn in nur einem Tag müssen wir eine Entscheidung treffen können!«
Horst dachte einen Moment lang darüber nach, dann lachte er plötzlich und sagte: »Nichts leichter als das! Ich werde euch einen Tag schenken!« Unter den staunenden Blicken derjenigen, welche diese Ankündigung vernommen hatten, marschierte er vom Markt und aus der Stadt, mit nichts als den Kleidern an seinem Leib.
Er ging an den Strand, zu dem verlassenen Bootssteg und setzte sich dort an die Kante, ließ die Füße ins Wasser baumeln und rief: »Herr Fisch, Herr Fisch! Lass dich sehen, denn ich muss dich etwas fragen!«
Und tatsächlich kam sodann eine Forelle zum Vorschein. Diese Forelle hatte Horst einmal geangelt und er war sehr erstaunt gewesen, als der Fisch plötzlich zu ihm sprach und ihn bat, zurück ins Wasser zu dürfen, wo er sich gerade um die Gunst eines Weibchens bemühte. Seitdem waren der Fisch und Horst Freunde geworden und es stellte sich heraus, dass die Forelle so klug war, dass sie sogar die Sprache der Menschen hatte erlernen können.
Jetzt fragte Horst den Fisch: »Sage mir, wie kann ich den Menschen der Stadt einen Tag schenken, damit sie Zeit gewinnen, sich auf den Angriff der Piraten vorzubereiten?«
»Dazu müsstest du die Sonne fangen«, antwortete der Fisch, »denn solange sie am Himmel steht, wird es nicht Nacht.«
Das leuchtete ein. Horst bedankte sich artig und ging von dem Bootssteg in den Wald hinein. Dabei überlegte er hin und her, wie er es anstellen könnte, die Sonne zu fangen. Gewiss würde sie sehr ungehalten reagieren, denn schließlich hatte es noch niemand gewagt, sie in ihrem Lauf um die Welt zu stören. Es galt, Feingefühl zu beweisen. Vielleicht, mit einem starken Seil … doch nein, die Sonne sei sehr heiß, kein Seil wäre stark genug, ihr zu wiederstehen. Er schüttelte den Kopf.
»Horst, was überlegst du?«, fragte ein Specht, dessen Junges Horst vor einiger Zeit ins Nest zurückgesetzt hatte.
»Ich muss ja die Sonne fangen, damit ich den Menschen meiner Stadt einen Tag schenken kann!«, antwortete Horst, nicht im Mindesten überrascht, von einem Vogel angesprochen zu werden.
»Die Sonne fangen!«, lachte der Specht. »Du Narr! Niemand kann diesen riesigen Feuerball fangen!«
»Und ich werde es dennoch tun!«, rief Horst und rannte in die Tiefen des Waldes hinein, bis er auf einen Hügel gelangte, auf dem sich eine Lichtung auftat, wohin der Sonnenschein ungehindert fiel. Hier blieb er stehen und sah sich um, ob er nicht ein besonders starkes Geschoss fände, mit dem er die Sonne festnageln könnte. Aber ringsherum war nur leicht entzündliches Holz und Gras. Verzweifelt streckte er die Arme in die Luft und schrie: »Sonne! Sonne! Sprich mit mir!«
Eine Weile war es ganz still, nur der sanfte Wind wehte vom Meer und ließ die Blätter der Bäume rascheln. Dann traf ein Strahl aus Licht Horsts Gesicht und er hörte die glockenklare Stimme: »Wer bist du, kleiner Mensch, der du es wagst, mich in meinem Lauf zu stören?«
»Der Sonnenbezwinger!«, antwortete er kühn. »Ich bin gekommen, dich aufzuhalten.«
»Mich?« Sie lachte lauthals. »Das ist ein lustiges Unterfangen. Wie hast du dir das gedacht, junger Mann?«
Weil ihm nichts anderes einfiel, entgegnete er: »Mit meinen bloßen Händen werde ich dich festhalten, Sonne, so lange es mir beliebt!«
»Du Narr! Ich werde dich verbrennen!«
Horst ließ die Arme sinken. Ihm war ein Gedanke gekommen, doch dazu musste sie ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zuwenden. »Du hast recht, liebe Sonne. Vergib mir«, sagte er kleinlaut und die Sonne lachte ein letztes Mal, ehe sie sich tatsächlich von ihm abwandte.
»Vöglein, Vöglein aus dem Walde«, flüsterte Horst. »Kommt herbei, ihr müsst mir helfen, wie ich euren Jungen geholfen habe.«
Ein Rauschen ging durch die Bäume, als viele kleine und große Flügel gleichzeitig schlugen. Als erstes erschienen die Spechte, deren Wortführer jener höhnische Specht war, der Horst vorhin erst verspottet hatte. Dann kamen die Sperlinge, eine ganze Familie. Anschließend die erhabenen Habichte, drei an der Zahl, deren Nest einmal vom Sturm von der hohen Klippe gepustet worden war. Zuletzt kam eine alte kurzsichtige Eule, die Horst seit einiger Zeit mit Mäusen versorgte. Nachdem sie alle Platz genommen hatten, erklärte Horst ihnen seinen Plan.
Sodann erhoben sich die Vögel und verschwanden in alle Richtungen. Die Sperlinge eilten zum Meer, um dort die Möwen um Hilfe zu bitten. Die Spechte mobilisierten die Finken und Nachtigallen. Die Habichte erhoben sich als Kundschafter in die höchsten Lüfte. Sie stießen laute Rufe aus, wann immer sie die Objekte der Begierde sahen, dann machten sich die kleinen Vögel auf den Weg, um sie zusammenzutreiben.
Unterdessen war auch die alte Eule nicht untätig. Sie flog von Ast zu Ast und sprach mit den dort lebenden Spinnen, die sich schon lange nicht mehr vor der kurzsichtigen Jägerin fürchteten. Und weil Horst noch nie einer Spinne etwas zuleide getan hatte, machten sie sich auf zu der Lichtung.
Als die Vögel zurückkamen, brachten sie große graue Wolken mit sich, die sie zu einem gewaltigen Haufen türmten. Sogleich machten sich die Spinnen ans Werk. Sie hüllten Horst in die Wolken und vernähten sie mit ihren klebrigen Fäden. So dicht war die schillernde Rüstung, dass kein Sonnenstrahl sie durchdringen konnte, denn die Wassertropfen reflektierten das Licht. Dazu fertigten die Spinnen einen Helm und Handschuhe. Es war ein eifriges Arbeiten, und die Nachtigallen hatten sich an den Rand der Lichtung gesetzt und sangen fröhliche Lieder.
Endlich war alles fertig. Horst bat den Habicht um einen letzten Gefallen und dieser, der den Schmerz des Verlustes der Heimat kannte, nahm einen Strick in seine Klauen, den Horst sich um den Bauch band, und brachte den jungen Mann hinauf zur Sonne.
Diese staunte nicht schlecht, als sie die bunt schillernde Rüstung sah, deren Reflektionen unter Horst einen Regenbogen bildeten, auf dem der Habicht ihn absetzte. Sofort stürmte er vor, die Arme weit ausgestreckt und rief: »Nun, Sonne, werde ich dich aufhalten und meiner Stadt einen Tag schenken, der nicht zu Ende geht, ehe sie nicht bereit sind!« Und so groß waren sein Mut und seine Kraft in diesem Moment, dass die Sonne erstaunt stehenblieb und ihn gewähren ließ.
Auf dem Marktplatz in der Stadt sahen die Menschen erstaunt, was sich am Himmel abspielte. Der Bürgermeister reagierte und rief den Leuten zu, sie sollten die Waffen herausholen und sich bereit machen, die Stadt zu verteidigen. So geschah es und etliche Stunden später, als der Mond sich schon wunderte, wo die Sonne wohl bliebe, riefen die Menschen hinauf: »Horst, du kannst nun herunterkommen, denn wir sind bereit!«
»Siehst du, liebe Sonne«, sagte Horst leichthin, »nun habe ich dich doch gefangen. Doch sei unbesorgt, es wird nicht wieder vorkommen. Schau nur, meine Rüstung ist schon ganz dünn geworden.« Er trat zurück und der Habicht kam, ihn zurück auf die Erde zu setzen. Die Sonne setzte ihren Lauf fort und als der junge Mann zurück in die Stadt kam, dunkelte es. Man empfing ihn jubelnd, aber er winkte ab und sagte nur, man solle recht gut kämpfen, denn darin sei er schlecht.
Am nächsten Tag kamen die Piraten, wie Sophia es vorhergesagt hatte. Sie hatten eine schwarze Flagge am Mast und waren mit Knochen und Zähnen geschmückt. Ihr blutrünstiges Grinsen hätte viele gestandene Männer erschrocken, wären sie nicht darauf vorbereitet gewesen. Die Städter erwarteten die Unholde in ihren Häusern und stürmten plötzlich auf die Straßen, kaum dass sich die Piraten verteilt hatten. Nach weniger als einer Stunde waren die Schurken besiegt und gebunden.
Horst, der Sonnenbezwinger, wurde fürderhin von der Stadt zum Ehrenbürger ernannt und niemand machte sich mehr über ihn lustig, wenn er der alten Mutter des Schmieds die Einkäufe trug oder Vogelküken in die Nester zurücksetzte. Er war deswegen nicht hochmütig, sondern spielte weiter mit den Kindern der Witwe Nietenthal, fing jeden Abend ein paar Fische und lebte bescheiden in seinem Häuschen am Markt in der Stadt am Meer.
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