[Voting] 2. Autorenwettbewerb

##Thema „Gemeinschaft“

Hier könnt ihr alle Einsendungen bewerten. Viel Spaß beim Lesen der Geschichten!

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Ingo’s Trio

„1; 2; 3; 3,20; 3,40; 3,50; 3,55. Und nochmal 1, 2, 3, 5 und 7 Cent.“ 3 Euro und 62 Cent betrug also sein gesamtes Barvermögen, dass er in den letzten 30 Minuten in seinem Zimmer zusammengekratzt hat. „Das wird wohl gerade für eine kleine Packung Zigaretten reichen“, murmelte Pascal vor sich hin. Eigentlich mochte er das Rauchen gar nicht so sehr. Weder schmeckte es wirklich gut, noch roch es sehr angenehm aber es erleichterte ihm den Rauch seiner Mitbewohner zu ertragen und es gab ihm tatsächlich etwas das er sonst vermisste: Einige ruhige Minuten mit ein wenig Ablenkung. Insbesondere musste er so gezwungenermaßen ab und zu aufstehen, wenn er sonst den ganzen Tag am PC saß. Zum Arbeiten und Spielen. Wenn er so daran dachte, fiel ihm plötzlich ein, dass er heute unbedingt noch ein paar T10 Rifts machen und einiges an seinem Gear verbessern musste. Er hatte sich mit seinen Leuten aus dem Teamspeak für heute Nachmittag verabredet. Zu viert wollten sie wieder versuchen einige Achievements bei Diablo III zu unlocken. Er lächelte vor sich hin als er schnell seine trockene Wäsche ins Regal räumte und sich fertigmachte, um die Zigaretten zu kaufen. Pan alias MonsterioX der Hexendoktor war sein bester Kumpel aus der Truppe, wobei die beiden anderen – nExIaNdEr und Wardrobe – auch coole Typen waren. Bei ihnen fühlte er sich immer frei, so dachte er bei sich und wollte sich gerade seine Jacke überstreifen, als es aus dem Wohnzimmer rief: „Kannst du kurz kommen, bitte?“ Marco, ein kleiner untersetzter aber kräftiger junger Mann erschien im Türrahmen und sah Pascal fordernd an. „Eigentlich wollte ich gerade los, um…“ stammelte Pascal doch Marco unterbrach ihn und meinte kurz angebunden: „Es dauert nicht lang, ist aber wichtig“. Mit schwerem Herzen nickte Pascal zustimmend und hing seine Jacke langsam wieder an den Haken. Während Marco wieder in das Wohnzimmer verschwand, ließ Pascal seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Von der Eingangstür aus, befand sich zu seiner linken sein Zimmer mit Balkon, zu seiner rechten das Zimmer ihres Mitbewohners Tobias. Dahinter folgte das Wohnzimmer mit dem Zugang zur Küche. Nach circa acht Metern machte der Flur einen Knick nach links. Auf der rechten Seite befand sich Marcos Zimmer, dem Knick folgend nach links kamen eine separate Toilette, sowie ein großes einladendes Bad mit Wanne und Dusche. Wie oft hatten sie doch zu dritt dort ihren Abend verbracht – Tobias saß in der Wanne, Marco auf dem Boden davor und Pascal auf dem Klo, während sie gebannt auf einem Laptop sämtliche Filme von Bud Spencer & Terence Hill verfolgten. Jeder natürlich mit mindestens zwei Bier bewaffnet. Er schmunzelte bei dem Gedanken, wurde jedoch schnell zurückgeholt als er wieder eindringlich seinen Namen aus der Stube hörte. „Pascal, jetzt komm endlich“, rief Marco nun mit deutlicher Ungeduld. Jetzt rutschte ihm endgültig das Herz in die Hose. Er begann langsam schlurfend sich auf das Wohnzimmer zu seiner rechten zuzubewegen. Er erblickte als erstes die Fernsehecke im vorderen Bereich mit der Ledercouch die bereits einige Löcher aufwies und wenn sie menschlich wäre, wahrscheinlich nur noch wippend in der Dusche hocken würde aufgrund der Dinge die sie sah. Aber dort war alles ordentlich. Es konnte sich also nicht um Unordnung handeln. Marcos Tonfall und die darauffolgende Stille waren kein Indiz für eine freundliche Unterhaltung. Pascal schritt langsam weiter, vorbei am Raum trennenden Regal und schaute nach rechts, in die offene Schiebetür der Küche. Die Spüle war sauber, es stand kein Geschirr herum, die Arbeitsplatte war abgewischt. Auch die Küche schien dieses Mal nicht der Grund für Ihre Unterhaltung. Langsam blickte Pascal nun nach links. Dort saßen Marco und Tobias direkt nebeneinander an Ihrem großen Wohnzimmertisch und sahen ihn erwartungsvoll aber bestimmt an. Was für krasse Pokerabende ihr ‚Ingo‘ schon erlebt hatte. Wer hatte den Tisch eigentlich Ingo getauft? Und kam er wirklich aus Schweden? Pascal lenkte sich kurz ab, doch nun wendete sich auch Tobias, der größte und schlankeste der WG, an ihn. Freundlich hob er seine Hand und wies auf den Stuhl ihm gegenüber: „Setz dich doch bitte“. Pascal setzte seine fröhliche Miene auf und versuchte die Stimmung zu lockern. „Möchte noch jemand was trinken? Marco, du, eine Sprite vielleicht? Oder Tobias, du, einen Saft bzw. lieber ein Bier?“ Dabei hängte er noch ein leichtes künstliches lachen an, dass Pascal selbst noch nicht einmal überzeugen konnte. Doch beide schüttelten mit ernster Miene den Kopf. Immer noch dem Versuch erlegen, sich selbst in eine bessere Stimmung zu heben, ging Pascal fröhlich, ja beinahe hüpfend in die Küche und goss sich ein Glas Sprite ein. „Na dann hole ich eben nur mir etwas zum Kehle befeuchten“, meinte er scherzend. Doch so sehr er sich auch mühte, die angespannte Stimmung im Raum lag so schwer in der Luft, dass kein Clowns Arsenal der Welt diese trüben Wolken hätte vertreiben können. Sich dessen bewusst, näherte sich Pascal wieder langsam dem Tisch. Er merkte wie das flaue Gefühl in seinem Magen immer stärker wurde. Wie seine Hand, die das Glas hielt, deutlicher zu zittern begann und Marco und Tobias auf der anderen Seite die ganze Szenerie einfach nur stumm hinnahmen. Als warteten sie bei einer Theatervorstellung auf das Ende, um mit den Protagonisten über das Stück zu sprechen. Schließlich schaffte er es sich ebenfalls an den Tisch zu setzen. Tobias begann langsam und bestimmt aber freundlich zu sprechen, während Marco abwechselnd auf den Tisch und auf Pascal starrte. Pascal schluckte und hielt sich seine leicht feuchten Hände, um nicht zu sehr zu zittern. „Pascal“, begann Tobias. „Du weißt, dass wir deine Freunde sind. Wir kennen uns jetzt seit fast sieben Jahren, haben viele lustige und süffige Abende gehabt, waren immer wieder einen draufmachen und wohnen nun seit über einem Jahr auch zusammen in dieser Bude. Sicherlich haben wir auch mal unsere Differenzen und es ist nicht immer leicht die unterschiedlichen Grade an Ordnung unter einen Hut zu bringen. Dennoch haben wir uns eigentlich immer vertraut und uns gegenseitig unterstützt“. „Wie kannst du nur!“, wurde Tobias jetzt von Marco jäh unterbrochen. „So unser Vertrauen missbrauchen. Alles aufs Spiel setzen?“ In Pascals Kopf raste es. „Haben sie bemerkt, dass ich immer mal was von ihren Vorräten genommen habe? Haben sie gemerkt, dass ich regelmäßig und heimlich ihre Zigaretten rauche? Hat Marco doch bemerkt, dass ihm seit einer Woche ein 50€-Schein fehlt?“ Eine Mischung aus Furcht, Wut und Trotz machten sich in seinem Kopf breit. „Die Hausverwaltung hat mich angerufen“, sprach Marco weiter. „Sie erzählte mir, dass du seit drei Monaten keine Miete mehr bezahlt hast. Seit DREI MONATEN!“ Marco fixierte Pascal mit seinem Blick, dem jetzt der Mund leicht offen stand. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war der festen Überzeugung, er hätte alles geklärt und konnte es vor ihnen verheimlichen. Wie ein zusammenbrechendes Kartenhaus, fiel Pascal in sich zusammen, während Marco immer weiter wetterte und sich in Rage redete. Er konnte nicht mehr. Weder etwas dazu sagen, noch überhaupt mit der Situation umgehen. Sein Kopf schwamm.

Lächelnd hielt Pascal seine Flasche Bier in der Hand, während alle drei auf dem Balkon standen und rauchten. „Mach dir mal keine Sorgen Pascal“, meinte Tobias. „Wir haben die Miete bereits für dich übernommen und werden auch die nächsten zwei Monate erstmal bezahlen. Marco verdient doch eh viel zu viel - jetzt da er einen neuen Job hat!“ Dabei lachte er und stieß mit Marco an, der ebenfalls lachte. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Euch nichts gesagt habe. Ich gelobe Besserung und nehme die Strafe – Abwasch für 2 Monate dankend an!“ Er grinste und nahm einen ordentlichen Schluck. Auf dem PC-Monitor in seinem Zimmer erschienen einige Fragezeichen im Teamspeak-Chat die für diesen Abend unbeantwortet bleiben sollten.

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Die Hunde von Berikur

Es begab sich, dass der Schausteller Stemeon nach seinen vielen Reisen auch die Stadt Berikur betrat. Sie war recht klein und doch über die Maßen prunkvoll. Umrandet von hoher Palisade war die Stadt geschmückt mit bunten Leinen und eine jede Frau trug kostbaren Schmuck am Leib. Ihren Reichtum verdankten die Bewohner den angrenzenden Wäldern mit ihren starken Hölzern.

Vom Bild der Stadt beeindruckt, beschloss daher Stemeon, sich mit seiner Familie in Berikur niederzulassen. Doch da kein Haus mehr frei war und sich auch nirgends Platz zeigte, ein neues zu errichten, wurde Stemeon fortgeschickt. So baute er eine kleine Hütte außerhalb der Stadt, wo die streunenden Hunde hausten.

Dort kam es, dass Stemeons Sohn, der kleine Frem, die dürren Hunde an sich band. Anstatt sie zu schlagen, gab er ihnen zu Essen, dass sie von Tag zu Tag kräftiger wurden. Wohin er ging, folgten sie ihm treu. Die Beriker lachten stets über den seltsamen Knaben mit seinen tierischen Freunden.

Mit den Jahren wuchs der junge Frem zu einem tüchtigen Mannling heran. Er arbeitete bei Trethoras, der mit seinen Ochsen Holz aus dem Wald zog. Frem lief mit seinen Hunden nebenher und zog die dünneren Äste zum Befeuern. So ward der Spott der Beriker nur größer.

Der stärkste von Trethoras’ Ochsen war auch der schönste, denn er war von Era gesegnet. Doch war er alt, so dass er vor Frems Hütte zum Liegen kam. Da holte Frem all seine Taler und gab sie Trethoras, dass er bis zum Ende des Jahres keine Not zu fürchten hatte. Dieser war dankbar. War es doch viel Geld für einen toten Ochsen, dessen Fleisch zu zäh war, als dass man es hätte essen können. Frem nahm Sehnen und Horn des Tieres und fertigte mit starkem Holz einen prächtigen Bogen. Das Fleisch gab er den Hunden, die mit jedem Bissen von Stärke und Schönheit des verendeten Tieres zehrten.

Zur gleichen Zeit geschah es nun, dass die Beriker aus großer Entfernung das laute Gebrüll des gierigen Monsters Guléta vernahmen. Dies war ein riesiges Eberwesen von Chaos erfüllt, das sich an Reichtum labt und Gold und Silber frisst. Dabei war es so geschwind, dass es alles im Weg stehende zerstörte und keine Waffe es treffen konnte. Die Stadt geriet in großen Aufruhr, denn man schätzte, dass nicht mehr als die Dauer von einer Nacht das schreckliche Biest von Berikur trennte.

Zum Schutze der Stadt befahl Frem seinen Hunden sodann, jeden Schmuck aus der Stadt zu bringen und auf einen Holzkarren zu laden. Als die Tiere ihre Arbeit erledigt hatten, hörte man erneut das laute Heulen des Monsters. Frem nahm seinen Bogen, band die Hunde vor den Karren und ließ sich in großem Kreis um die Stadt ziehen. Vom Gold angezogen, lief Guléta dem Karren hinterher, ohne ihm näher kommen zu können. Die Beriker bemerkten das Treiben. Ihr Spott über Frem wich und sie begannen ihn anzufeuern.

So kreisten Frem mit seinen Hunden drei Tage und drei Nächte um Berikur. Der Karren war dabei so schwer, dass ein tiefer Graben entstand, doch die Hunde wurden nicht langsamer. Einzig der Eber schien zu müden. Da nahm Frem einen Pfeil und schoss dem Biest in den Kopf. Guléta kam zum Erliegen und Edelsteine quollen aus dem Bauch des Monsters. Also kamen die Beriker um ihre Retter zu feiern, doch die Hunde sanken erschöpft zu Boden und taten ihren letzten Atemzug. Da weinten sie bitterlich, sodass sich der Graben mit salzigem Wasser füllte und ein mächtiger Wall entstand. Aus großer Dankbarkeit gebaren alle Schwangeren im selben Jahr Hundewelpen, auf dass fortan der Reichtum für Mensch und Tier aufgeteilt werde. Es sollte kein friedliebendes Geschöpf mehr fortgeschickt werden und Berikur wuchs bis zu Frems Tode bis an den Wallgraben heran.

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Einmal Heiligkreuz und zurück

DING DONG DING DONG DING DONG. Die Kirchenglocke weckte Leonie aus ihrem wohlverdienten Tiefschlaf. Sie schaute auf die Uhr: 6:00 Uhr morgens. Es war ihre erste Nacht in der neuen Wohnung und nach dem ganzen Umzugsstress und der Eingewöhnung war sie am Vortag erst um 2 Uhr ins Bett gekommen. Eigentlich wollte sie an diesem Samstag in Ruhe ausschlafen, doch damit war es nun vorbei. Wieso hatte sie auch das Pech, direk neben einem alten Kloster wohnen zu müssen? Naja, dachte sie, in diesem Dorf wohnt quasi jeder neben dem Kloster. Das Dorf wurde ja auch nur wegen des Klosters gegründet, hatte sie gelesen, irgendwann im 18. Jahrhundert musste das gewesen sein. Sie hatte weder jemals geplant nach Heiligkreuz zu ziehen, weder hatte sie von diesem Ort jemals gehört. Bis vor 3 Wochen.
Leonie stammte eigentlich aus Berlin, entschied sich aber nach dem Abitur nicht dort zu bleiben, sondern zum Studium an einen kleineren und weniger hektischen Ort zu gehen. Kempten im Allgäu sollte es sein, da war sie schon einmal mit ihren Eltern im Urlaub - 60000 Einwohner, schöne Lage, freundliche Menschen. Theorethisch. Nur leider gestaltete sich die Wohnungssuche schwieriger als gedacht…
Und nun war sie in Heiligkreuz. Einem 500-Seelen Dorf etwas außerhalb der eigentlichen Stadt. Zur Untermiete bei einer 90-jährigen Frau, die ihren Großmutter-Komplex an ihr ausleben wollte. Na super!
Mittlerweile hatte die Glocke aufgehört zu läuten. Aber das jeden morgen ertragen zu müssen, daran würde sie sich auf lange Sicht gewöhnen müssen. Verbieten sollte man sowas! Aber sag das mal den erzkatholischen Bayern.
Leonie war nie besonders religiös gewesen. Ihre Eltern hatten sie sehr fair und offen erzogen und so hatte Leonie auch noch nie eine Kirche, Synagoge oder Moschee von innen gesehen. Schade eigentlich.

Nachdem sie aufgestanden war und sich angezogen hatte, ging sie nach draußen um sich beim Bäcker ihr Frühstück zu kaufen. Auf dem Weg durch den verschlafenen Ort begegnete ihr ein altes Ehepaar um die 70. „Guten Morgen!“, sagte sie mit einem aufrichtigen Lächeln, doch die Senioren gingen ohne Gegengruß an ihr vorbei. Alte Menschen sind wohl manchmal etwas mürrisch, dachte sie und setzte ihren Weg fort. Als sie beim Bäcker ankam und eintrat das Gleiche: „Guten Morgen!“, sagte sie wieder und es kam keine Reaktion, sondern nur ein auffordernder Blick. Nachdem sie ihre Brötchen bekommen und bezahlt hatte, verzichtete sie daher auch eine Verabschiedung.
Wieder angekommen, erwartete sie ihre Vermieterin schon sehnsüchtig. „Setz dich! Ich habe schon Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt. Gestern hatten wir ja kaum Zeit uns kennenzulernen, das sollten wir jetzt nachholen. Erzähl mir etwas über dich! Woher kommst du? Was hat dich hierherverschlagen? Was tust du gern?
Überrumpelt setzte Leonie an und erzählte ihr alle relevanten Eckdaten ihres noch jungen Lebens und hoffte, dass die Alte nicht das gleiche tun würde, da sie sonst in 4 Tagen noch hier sitzen würden.
Wunderbar, mein Kind! Ich freue mich ja so, dass du hier wohnst und mir gesellschaft leistest, mein Mann ist ja nun auch schon seit fast 19 Jahren tot, solange lebe ich hier schon alleine.
„Ich freue mich auch sehr.“, erwiderte Leonie, der die ganze Situation ziemlich unangenehm war. Sie zögerte kurz. „Darf ich ihnen eine Frage stellen?
Nur zu, mein liebes Kind.
Als ich gerade draußen war hat mich niemand gegrüßt, ich wurde nur von allen skeptisch betrachtet. Woran liegt das? Ich bin doch erst seit gestern hier.“
Die Alte Frau hob beschwichtigend ihre Hände. „Nimm das nicht persönlich, die Menschen hier sind nur etwas reserviert. Das wird sich schon noch ändern, wenn du dich beim morgigen Sonntagsgottesdienst der Gemeinde vorstellst und alle mal kennenlernst.
„Ich muss zum Gottesdienst gehen? Ich war noch nie bei so etwas.“, Antwortete Leonie wahrheitsgemäß.
Das bisher so freundliche Lächeln der Rentnerin erstarrte augenblicklich. Sie schloss für einen Moment die Augen um sich zu sammeln. „Du warst noch nie bei einer Messe? Willst du damit sagen, du bist keine Christin? Wurdest du überhaupt getauft?
Schon wieder so viele Fragen auf einmal. Leonie war verwundert über die erschrockene Reaktion der alten Frau. „Meine Eltern haben mich über viele verschiedene Religionen aufgeklärt.“, sagte sie. „Keine davon fand ich wirklich plausibel. Manche Menschen, die wie ich denken, bezeichnen sich als Atheisten. Ich will aber nicht in solchen Kategorien denken. Ich glaube einfach nicht an einen Gott.
Beim letzten Wort kreuzigte sich die alte Dame vor der Brust. Sie schien vollkommen desillusioniert. „Lass mich für dich beten, mein armes Heidenkind.
Sie faltete die Hände und schloss die Augen. Leonie ahnte, dass sie ein großes Problem hatte…

Es war Sonntag. Die Gemeinde versammelte sich in der Klosterkirche um die Messe abzuhalten, nur ihr neustes Mitglied fehlte. Leonie saß auf ihrem Bett und dachte nach. Sie hatte ihrer Vermieterin an diesem Morgen mitgeteilt, dass sie nicht am Gottesdienst teilnehmen werde, da es nicht ihrer Philisophie entsprach sich dem Druck der Masse unterzuordnen. In Wahrheit hatte sie Angst. Die Neue in einer eingeschworenen Gemeinschaft zu sein ist immer schwierig. Ganz besonders hier, wo sich viele Menschen wahrscheinlich schon seit vielen Jahrzenten kannten und Leonie, aufgrund ihres Nicht-Glaubens, sowieso schon eine Außenseiterin war.
Gegen Mittag kehrte ihre Vermieterin dann zurück. Ohne etwas zu sagen, marschierte sie schnurstracks in ihr Zimmer, ohne mit Leonie auch nur ein Wort zu wechseln. Dabei schien sie doch bisher so eine herzliche Person gewesen zu sein. Leonie musste eine Träne verdrücken. Das sollte also ihr neues Leben sein? Eine Außenseiterin in diesem fremden Dorf? Insgeheim verfluchte sie die Religion und das was sie aus den Menschen machte: Ein eingeschworenes Rudel, dass sich nach außen abschottet und Herzlichkeit und Wärme vermissen ließ.

Leonie ging nach oben und packte ihre Koffer.

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Zweifelhafte Bekanntschaft

Die dicken Tropfen, die sich im Blätterdach des Baumes über mir sammeln und nach ihrem Fall auf meinem Kopf und Schultern zerspringen, lassen ein Unbehagen zurück, dass ich die Schultern hoch ziehe und meine Faust im Handschuh etwas fester um das Heft meines Schwertes fasst. Neben dem monotonen Geplätscher des Regens, auf die dichten Baumkronen des dichten Waldes, scheint nur wenig Mondlicht bis auf den Grund der Erde und erzeugt ein eher schemenhaftes Bild der Umgebung, in der ich mich zurzeit befinde.
Ich bleibe unter dem Baum kurz stehen und lege den Kopf ein wenig in den Nacken, um zu schauen, ob ich die Sterne erkennen kann oder ein anderes Licht, denn die Dunkelheit, die sich mir hier unten bietet, trotz meiner bereits etwas daran gewöhnten Augen, hat den kalten Dunst um mich fest im Griff und so will ich mich vergewissern, ob es nicht einen Strahl gäbe, der mir die Gewissheit gibt, dass diese Gegend nicht von allen guten Geistern verlassen ist und mir wieder etwas Hoffnung bietet, um weiter durch das Dickicht zu stapfen. Triefend vor Nässe und mit einem Hungergefühl, das mich allmählich betäubt.
Ich kann nichts erspähen, außer die unterschiedlich stark vom Mondlicht durchleuchteten Blätter und ein weiterer dicker Tropfen prasselt auf mich ein. Diesmal auf meine Stirn und ich schließe reflexartig die Augen. Ich richte meinen Kopf wieder geradeaus und öffne langsam die sich nach Schlaf sehnenden Augen. Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, im Stehen eingeschlafen zu sein. Dann schließe ich wieder die Augen und reibe mir diese mit der anderen, im Handschuh verpackten Hand. Als ich meine Hand wieder unter meinem vor Regen schützenden Filzmantel verstaut habe, der bis zu meinen Knien reicht und die Augen wieder öffne, die noch immer vom zwielichtigen Licht angestrengt sind, schaue ich mich noch einmal um.
Bäume, die an einer Seite von Moos bedeckt sind, Efeu, das manche Bäume fast vollständig umschlungen und sich fest um deren Stämme geklammert hat, Sträucher, an etwas lichteren Stellen des Waldes. Gras und Moos, das sich wie ein grüner Teppich bis unter meine Schuhe verteilt hat. Zusätzlich wachsen ein paar Pilze am Baum, unter dem ich gerade stehe. Ich trete näher zu ihnen und der nasse Boden schmatzt, als sich mein Schuh von der Stelle löst, auf der ich kurz verweilt war.
Ich knie vor den Pilzen nieder und muss mich mit einer Hand abstützen, da meine Beine kurz das Gleichgewicht nicht mehr halten können. Ich lasse nun zum ersten Mal seit Stunden das Heft meines Schwertes wieder los und merke, wie frisches Blut durch die Adern schießt und ich kurz die Hand verkrampfe. Dann lassen ich sie nach ein paar Fingerbewegungen nach den Pilzen greifen und reiße diese grob aus der moosigen Erde. Als ich alle habe, öffne ich die Hand wieder und zähle sie. Fünf an der Zahl.
“Ungenießbar”, höre ich eine Stimme sagen und fahre träge um mich herum. Ich sehe niemanden. Kurze Zeit später tritt eine Gestalt aus dem nahen Dickicht und gibt sich als Wache zu erkennen, gefolgt von der Person, die ich durch den Monsun hier geleite.
Gemeinsam treten sie näher heran und erkenne so auch ihre Gesichter. Die Wache ist stämmig gebaut und fast einen Kopf größer als ich. Er trägt zudem die Waren des Händlers, der ohne eine Miene zu verziehen hinter ihm herläuft und wiederum einen Kopf kleiner ist als ich. Seine Kleidung ist erstaunlich gut an das Wetter angepasst und er hat seine Kapuze aus Leder tief in sein Gesicht gezogen. Die Wache trägt dagegen nur das Nötigste am Körper.
“Kannst sie aber gerne essen, wenn dir das nichts 'macht”, raunt er im Vorbeigehen und seine Mundwinkel formen ein hässliches Grinsen.
Ich lasse die Pilze widerwillig fallen und spüre wie mein Magen knurrt. Es ist besser so… Glaube mir.
Wieder zerre ich meine Stiefel aus dem Morast und gehe voran.
Wir wandern nun schon den gesamten Tag, seit wir vom Gasthaus loszogen, in dem mich der stille Händler als Eskorte akquiriert hatte. Der Regen ergießt sich schon weit aus länger über diese Ländereien, was man daran merkt wie tief man im Waldboden einsinkt. Die Belohnung fällt ziemlich großzügig aus. Ich muss ihn nur sicher durch das Waldstück geleiten zur nächsten Stadt. Wegen der Wegelagerer gehen wir daher abseits der befestigten Straße mitten durch das Unterholz. Bisher haben wir ein Rudel Wölfe abwehren müssen und der Marsch ist auch nicht mehr lange, aber ich habe ein mulmiges Gefühl.
Schnell schließe ich mit den anderen beiden auf, die noch langsamer voranschreiten als ich und gehe neben dem Händler her. Er neigt nur kurz den Kopf zu mir, kann ihn wegen der Kapuze aber nicht ins Gesicht blicken.
Ich werde einfach nicht schlau aus ihm. In der Taverne kam er mit dem grobschlächtigen Begleiter auf mich zu und frug mich freundlich, ob er meine Dienste in Anspruch nehmen könnte. Er war sehr förmlich gewesen und scheint auch aus gutem Hause zu sein, aber sobald ich eingewilligt, den ersten Teil des Lohns eingesteckt und das Dorf verlassen hatte, wurde kein Wort mehr gewechselt und ich halte es für meine zweite Bezahlung für angebracht keine weiteren Fragen zu stellen, wenn mein Gegenüber offensichtlich nicht an einem Gespräch interessiert ist.
“Wir haben es bald geschafft, richtig?”, stößt es plötzlich mit weißem Atem aus dem Mund des Händlers hervor. Trotz der Kälte scheint er nicht zu frieren. Seine Stimme klingt jedoch gänzlich anders, als ich sie in Erinnerung habe. Es ist das erste Wort, dass er seit Beginn unserer Reise gesprochen hat.
“In dem Tempo noch ein paar Stunden”, entgegne ich vorsichtig.
Er lacht laut. Etwas, dass ich zuvor auch noch nicht vernommen hatte. Es klingt ungewöhnlich hoch und lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Er bleibt stehen und dreht seinen Kopf langsam zu mir hoch.
“Dann lasst uns eine Pause einlegen, meine Beine werden müde”, lächelt er mich an und weist den Hünen an, Verpflegung aus seinem großen Anhängsel an Waren zu kramen, der sogar Feuerholz dabei zu haben scheint.
War das seine förmliche Art, oder werden seine Beine wirklich gerade erst müde? Meine schmerzen unter der Beanspruchung, Nässe und Kälte schon seit Stunden und krame schnaufend einen Laib Brot aus meinem Sack. Ich wollte ihn schon vor Stunden hervorholen, allerdings war mir der Händler so unheimlich, dass ich nichts ohne seine Erlaubnis tun wollte. Es ist nun kurz vor dem Ende unserer Reise auch die erste Rast, die wir einlegen.
Ich lehne mich an einen Baum an und sinke langsam an ihm herunter bis auf den Boden. Als meine Beine das Gewicht meines Körpers nicht mehr tragen fühlt es sich an, als hätte ich sie von einem Augenblick auf den anderen verloren und seufze unter zusammengepressten Lippen.
Der Leibwächter hat nun einige fein geschnittene Holzscheite hervorgeholt und steckt diese auf einmal zusammen. Das wird kein Lagerfeuer, das wird ein Stuhl. Erstaunt blicke ich dem Spektakel zu. Als er fertig ist stellt er den Stuhl ab und der Händler setzt sich sogleich darauf und sitzt mir so direkt gegenüber. Langsam versinkt er im Boden mit den Beinen und steht sogleich wieder auf. Ich muss mir ein herzhaftes Lachen verkneifen doch meine Mimik verrät mich auf ganzer Linie. Die Spannung von Stunden entläd sich in diesem Augenblick. Nun holt holt der Große zwei Bretter hervor, zieht den Stuhl aus dem Schlamm, legt die Bretter hin und stellt den Stuhl darauf.
Da ich den Händler nicht bloßstellen möchte beiße ich einen großen Teil des Brotlaibes heraus und kaue unruhig darauf herum. Wieder setzt er sich auf den Stuhl, diesmal gehen nur die Bretter unter und werden vom Matsch verschluckt.
Gespannt schaue ich zu wie die Wache ihm seine Verpflegung reicht unter der sogar Wein ist. Als er fertig ist legt steht er einfach nur da und blickt mich mit dem Händler an.
Isst er nichts? Er scheint ein strengerer Herr zu sein, als ich dachte.
“Eine Schande um den Stuhl”, sagt der Händler und nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Dann blickt er zur Seite und zupft sich an seinem fleckigen Dreitagebart.
“Den kann man doch einfach säubern”, antworte ich um in den Monolog einzusteigen.
Er blickt mich an, als hätte ich etwas falsches gesagt. Seine Gesichtszüge sind in der Dunkelheit nicht deutlich auszumachen, aber ich scheine ihn irritiert zu haben. Der Klotz an seiner Seite grinst wieder fies.
“Zur Stadt geht es da lang, richtig?”, fragt er, ohne auf meine Aussage einzugehen und deutet mit dem Flaschenhals in eine Richtung. Ich folge seinem Wegweiser und nicke, als ich im Augenwinkel eine schnelle Bewegung ausmache und laut aufschreie. Adrenalin bringt meine Ohren zum Rauschen und entsetzt blicke ich auf ein Wurfmesser, dass in meinem Bauch steckt.
“Du hast meine Gesellschaft lange genug genossen”, höre ich unter dem Dröhnen hindurch. Mit zitternden Händen umgreife ich den Dolch und ziehe ihn heraus. Sogleich tritt der Hühne vor den Händler und stapft auf mich zu. Er scheint keine Waffe bei sich zu tragen, dass hatte ich bereits zuvor mehrfach bei der Wanderung ausgespäht, aber das Messer konnte er einfach aus dem Krempel gezogen haben, den er auf dem Rücken trug.
Fluchend ziehe ich die Klinge heraus und richte mich auf. Der Weg für den Kraftprotz ist nicht weit, aber der aufgeweichte Boden gewinnt mir Zeit. Meine Beine fühlen sich an wie betäubt. Ich halte noch immer in der einen Hand das Brot, dass ich unter dem Schock zusammengepresst habe und durchsteche es mit der Klinge in den Stamm des Baumes, um sogleich mein Schwert zu ziehen. Das Grinsen des Hünen wird noch breiter und ich muss frösteln, das Blut läuft stärker als gedacht.
“Na komm her”, spottet er und bleibt eine Arm- und Klingenlänge von mir entfernt stehen.
Ich schnaufe, stelle einen Fuß auf eine Wurzel des Baumes und stoße mich mit dem anderen vom Stamm ab. Ich sehe noch wie er erstaunt den Kopf in den Nacken legt, dann durchstoße ich auch schon seine Brust. Ich lasse das Schwert los und falle vor ihm in den Schlamm. entsetzt blicke ich nach oben und versuche meine Hände aus dem Morast zu ziehen, da treffen sich unsere Blicke. Langsam gleitet der Kopf von ihm nach unten und erblickt das Schwert. Es ist bis fast zur Parierstange durch ihn hindurchgedrungen. Während ich mich aufrappel friert das Grinsen des Wächters ein. Ich muss wohl sein Herz durchstoßen haben. Ich kann gerade noch zur Seite springen, da fällt der voluminöse Körper schon auf mich hinab und begräbt meine kraftlosen Beine unter sich. Schwarz. Ich drücke und wühle mit den Armen so stark ich kann und komme gerade noch aus der zähflüssigen Masse mit dem Kopf hervor und ringe nach Atem.
“Das war ein Fehler”, knirscht der Händler zwischen den Zähnen, der nun neben mir steht. Meine schlammverdreckten Haare hängen mir im Gesicht und ich spucke den Morast in meinem Mund vor seine Stiefel.
“Den kann man doch einfach säubern…”, wiederholt er meine Aussage und drückt meinen Kopf mit seinem Stiefel unter.

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Mein bester Freund

Ich habe meinen besten Freund im Kindergarten kennen gelernt. Man kann, wortwörtlich, davon reden, wir wären Sandkasten-Freunde. Denn als ich etwa 2 Jahre alt war tauchte er neben mir im Sandkasten des Kindergartens auf.
Ein anderes Kind, Dennis war sein Name, und ich hatten uns gestritten und so flog neben Sand in die Gesichter auch die Schaufel aus seiner Hand. Erik musste gesehen haben, dass mich das Spielzeug am Kopf getroffen hatte, denn er war da und verpasste Dennis einen Schlag, sodass er zu heulen anfing.
Erik hat mich also schon im Kindergarten gerettet, immer wenn ich Streit hatte, war er bei mir und hat mich beschützt. Und so wurde Erik mein bester Freund!
Eris ist mutiger als ich. Als wir noch in der Grundschule waren, waren Mutproben echt sein Ding. Er kletterte überall rauf, sprang überall herunter und manchmal klaute er sogar im Supermarkt ein paar Süßigkeiten. Und ich weiß nicht, wie er es angestellt hatte, die Süßigkeiten waren immer in meinen Taschen, wenn wir dann nach Hause gingen. Er hatte mir die irgendwie in die Taschen gesteckt und mich dann überzeugt, sie mit zu nehmen. Er konnte mich immer von allem überzeugen. Sogar, ihn nicht zu verraten.
Meine Eltern hat Erik niemals kennen gelernt, sie wollten schon häufiger mit mir über ihn sprechen. Grade als ich älter wurde, haben sie wohl immer mehr gedacht, dass es Erik gar nicht gibt. Dass ich ihn nur erfunden hätte, um mich mit Mädchen zu treffen, von denen sie nichts wissen sollten. Wenn ich ihnen sagte “Ich habe die Hausaufgaben fertig, ich treffe mich mit Erik! Bis später!”, rollten sie irgendwann kaum merklich mit den Augen oder lächelten ein klein wenig vor sich hin, ich habe das genau gesehen.
Dabei hatte ich meine Eltern niemals angelogen, ich habe mich nicht mit Mädchen getroffen, sondern immer nur mit Erik. Er ist ja auch mein bester Freund, mit wem sollte ich mich denn sonst treffen? Wir schlenderten also Stundenlang durch unser Viertel und begingen Jungenstreiche, die alle von Erik ausgingen. Ich habe aber niemals etwas davon bisher erzählt.
Eines Abends, wir waren mittlerweile beide 17 Jahre alt, war Erik bei mir. Ich hatte das große Fenster von meinem Zimmer weit offen stehen gelassen, schließlich war es total warm gewesen und so dauerte es nicht lange, bis er bei mir war.
Er hatte eine Packung Zigaretten dabei und wie immer überredete er mich, auch einen Zug zu nehmen. Ich hustete schwer bevor ich die Zigarette an ihn weitergab, schließlich hatte ich grade zum ersten Mal an einem Glimmstängel gezogen. Trotzdem reichte er mir die Kippe kurze Zeit später nochmal, sodass ich noch einmal daran zog und ich erneut einen Hustenanfall bekam.
Plötzlich hörte ich Schritte von unten, als mein Vater die Treppe hoch gelaufen kam. Erik war schneller verschwunden, als ich realisieren konnte, was überhaupt passierte und nur einen Wimpernschlag später, stand mein Vater in der Tür, die weit aufgerissen war und sah die Kippe in meiner Hand.
Es kam, wie es kommen musste. Ich bekam Ärger, ich versuchte, mich herauszureden, aber es hatte keinen Sinn. Meine Eltern reagierten so allergisch auf Erik, dass ich gar nicht erst versuchte, ihm die Schuld zu geben. Sie gaben mir Hausarrest, aber Erik hielt das nicht auf. Immer, wenn ich Abends das Fenster öffnete war er kurze Zeit später in meinem Zimmer und alles war wie immer.
Eines Abends war Erik aber sehr übermütig und sagte, ich solle mal wieder raus kommen und schlug vor, durch das Fenster abzuhauen. Ich wehrte mich nur kurz, ich wusste ohnehin, dass wir taten, was er vorschlug und so waren wir kurz später auf der Straße unterwegs. Erik wollte unbedingt ein Bier und so waren wir kurze Zeit später in einem Eck-Kiosk der Stadt.
Als der Kassierer grade nicht hinsah, steckte Erik mir eine Bierflasche unter die Jacke und drängte mich dann nach draußen. Als ich grade den Laden verlassen wollte, griff mich der Kassierer an der Jacke und hielt mich fest.
Er rief, ich hätte etwas stehlen wollen und ich drehte mich herum. Ich blickte in ein wütendes Gesicht und spürte seine Hand schmerzhaft um meinen linken Arm, nach der er gegriffen hatte.
Ich warf einen schockierten Blick auf Erik, wir waren noch nie erwischt worden, er war ebenso überrascht wie ich. So kam es mir vor, wie Zeitlupe, als er mit der rechten nach einer schweren Flasche auf dem Regal griff und sie dem Kassierer über den Kopf schlug. Glas splitterte und Blut breitete sich auf den Fliesen um den Kopf herum aus, als er auf dem Boden lag. Sekunde um Sekunde verstrich, bevor daraus Minuten wurden, die Erik und ich still neben der Leiche standen.
Irgendwann erschien die Polizei und Erik und ich wurden in Handschellen abgeführt.

“Ich war es nicht! Erik hat zugeschlagen! Er hat mich auch zum Diebstahl überredet!”, rief ich immer wieder dem Beamten entgegen, der sich mir gegenüber gesetzt habe. “Ich habe ihm nichts getan! Erik hat die Flasche genommen!”
Aber ich hörte nur einen Satz als Antwort: “Wir haben niemand Zweites verhaftet. Wir kennen keinen Erik. Du warst allein!”

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Ich, Du, Er, Sie, Es, Wir, Ihr, Sie

Ich bin allein, ein einsamer Geist im freien Fall. Keine Familie, keine Freund, keine Bekannten, keiner zum reden. Niemand mit dem man was unternehmen könnte. Niemand mit dem man streiten könnte. Keine positiven, keine negativen Emotionen die mich bewegen, nur das ständige Gefühl, als es würde mir was fehlen.

Ich bin zu zweit. Da ist dieser andere, der so gar nicht wie ich ist, mehr so wie ich gerne wäre, mehr so meine Vorstellung von Ideal aber dann doch nicht so makellos. Irgendwie komisch. Er scheint einfach nur alles das zu sein, was ich nicht bin und mich plagt die frage ob mir das nun ge- oder missfällt.

Ich bin zu dritt. Ich weiß nicht wer er ist, der andere hat ihn an geschleppt und nennt ihn meist Feindbild. Und dauernd hör ich, alles an ihm sei schlecht. Feinbild schweigt, zumindest höre ich ihn nie etwas sagen. Nicht mal Regungen von sich geben. Als würde er gar nicht leben, nur bestehen, sein, wie ein Bild, eine Skulptur aber nicht wie ein Wesen.

Ich bin zu viert. Der frischste Neuzugang ist zwar recht schweigsam aber wenn er mal spricht, dann sehr kultiviert, ruhig, rational, nahezu mechanisch wie er die Situation analysiert. Und auch wenn diese Kälte manchmal unangenehm, gar beängstigend ist, so ist seine Gesellschaft immer konstruktiv.

Ich bin zu fünft. Keine Ahnung woher er kommt aber prompt mit seiner Ankunft, gab es Ärger, denn seine wilde, unbeherrschte Art, widerstrebt allen anderen. Zwar macht es auch Spaß mit ihm, irgendwie ist er ja lustig und es kommt Stimmung in die Bude. Doch in einem Moment ist man cool und im nächsten schlägt er die halbe Einrichtung kaputt.

Ich bin zu sechst. Okay? Ist ihr irgendwo ein Nest. Ich weiß, ich wollte meiner Einsamkeit ein Ende setzen aber das wird mir langsam zu viel. Jetzt haben wir hier einen Irren, der reden mit Inbrunst von Gewalt und Verbrechen. Er spricht von Dingen, die würde ich nicht mal denken, glaube ich. Mir wird das zu viel, ich fühle mich nicht mehr wohl mit dem was hier passiert.

Ich bin zu siebt. Ich bin Ich. Warum ich seltsam bin? Ich bin doch nicht seltsam, nein, nein. Ich bin normal, wie immer, ich verstehe wirkli ~HILFE~ was du meinst. Hey Leute, findet ihre ich habe mich verändert? Siehst du, ich bin wie immer. Mit wem ich rede? Was ist das für eine blöde Frage? Mit meinen Freunden hier, aber frag mich bloß nicht nach ihren Namen.

Wir zu acht, nein zu neunt, oder sind wir schon zehn? Warum ist hier niemand der mit zählt? ~WEIL DU STI~ Hey, was soll das verdammt? Wir haben wir teilen uns rein, du bist erst wieder heute Nachmittag von 2 bis 8. Selbst im Chaos brauchen wir doch Regeln, und wenn sich keiner dran hält endet das nur in unnötigem Kampf.

Wir sind zu vielt. Keine Ahnung bei welcher Zahl wir aktuell sind. Jetzt gerade habe ich einen meiner wenigen klaren Momente und ich möchte nur paar letzte Worte schreiben bevor es eventuell endet. Die selbstzerstörerischen Tendenzen in mir beginnen die Überhand zu erringen. Vielleicht sterbe ich auch, weil ich bei dem Versuch ein zu schlafen, mich selbst mit dem Kissen ersticke, da die anderen so laut sind, dass ich es nicht mal schaffe einen klaren Gedanken zu fassen. Ich möchte nur meine wahrscheinlich letzten Worte los werden. Ich habe es nicht bereut, meine Suche nach Gesellschaft, es gab ein paar schöne Tage, es gab Freude, etwas was ich vorher nie erfahren habe. Schade dass das Ende nun wohl so tragisch sein wird. Einen kleinen Rat möchte ich euch noch mit geben, falls es euch interessiert: Manche Menschen treibt die Gemeinschaft, andere, so wie mich, die Einsamkeit in den Wahnsinn. Also verschließt nicht eure Augen und Ohren, denn viel Leid lässt sich durch einen offenen Geist bewahren.

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Zwei Mal Drei Musketiere

Ich sitze an meinem Schreibtisch und seufze still in mich hinein. Nach dem letzten Zusammenstoß mit meiner Vermieterin, die sogar meine Atemzüge zu hören scheint, habe ich versucht, mir Geräusche jeglicher Art abzugewöhnen.
Mein Zimmer ist eigentlich mehr ein luxuriöser Besenschrank als ein Zimmer und der Platz ist so gering, dass mir mein Bett als Schreibtischstuhl dient. Aber was soll ich sagen? 150€ warm und nah genug an der Uni, dass ich mich Morgens nicht zu sehr zu hetzen brauche.

Das wäre auch noch schöner.

Während ich hier also sitze, fühlt sich der Raum an, als würde er über mir zusammenbrechen. Es sieht aus wie ein Zuhause, aber es riecht falsch, klingt falsch, irgendwie ist alles falsch hier. Die Möbel gehören meiner Vermieterin, sie sind alt und riechen muffig. Die Matratze ist durchgelegen und quietscht, der Schreibtisch ein alter Esstisch, an dem unzählige Male herum gezimmert wurde.
Mein Laptop liegt zugeklappt vor mir. Eigentlich muss ich eine Hausarbeit schreiben, aber ich habe keine Lust. Mein Studiengang ist öde und ich kann mit München nichts anfangen. Weder mit den Menschen, die eine andere Sprache zu sprechen scheinen, noch mit der Stadt an sich. Das liegt aber eher daran, dass ich niemanden habe, mit dem ich sie erkunden könnte. Meistens sitze ich in meinem kleinen Zimmer in Messestadt und denke darüber nach, warum damals alles besser war.
Damals. Wie bescheuert dieses Wort aus dem Mund eines 21-Jährigen klingt.

Alles war anders damals,
wiederhole ich wie ein Mantra, während mir die Bilder durch den Kopf schießen. Meine Freunde und ich in unserer Stammkneipe in Hildesheim. Irgendwie waren wir nie die Typen für Clubs und tanzen, wir konnten stundenlang an unserem Tisch in der hinteren Ecke im „Spanier“ sitzen und uns trotzdem wie der Mittelpunkt der Welt fühlen.
Ich hatte unsere Gruppe die zweimaldrei Musketiere genannt, weil ich damals solche flachen Wortwitze noch cool fand und mir irgendwie niemand widersprochen hatte.
Ganz in der Ecke, mit beiden Wänden im Rücken saß Luther, ein großer, breit gebauter Junge mit blondem Iro. Er war der erste aus der Gruppe, der einen Bart trug und wurde dafür von allen bewundert. Neben ihm, an seine Schulter gelehnt, lümmelte sich Sonja, seine Freundin, deren lange, braune Haare überall zu sein schienen. Auf dem letzten Platz an der Wand saß Max, sein rundes Gesicht suchend über sein leeres Bier gebeugt, sodass ihm die Pottschnitt-Haare ins Gesicht fielen. Am Anfang hatte keiner verstehen können, wie der in unsere Gruppe von „cool Kids“ passte, aber das hatte sich schnell geändert. Schon bald hatte er sich als der witzigste von uns allen entpuppt, nie um einen Scherz oder Konter verlegen. Auf der anderen Seite saßen Xenia und Maya, die unzertrennlichen „Zwillinge“.
Es gab Gerüchte, dass sie schon mal jemand einzeln gesehen hatte, aber die waren unbestätigt und mehr als unzuverlässig. Und am Kopfende des Rechtecks hatte ich, wie immer leicht ironisch, meinen Chefsessel eingenommen, den linken Arm über die Rücklehne gelegt und beobachtete die Runde aufmerksam. Sie waren meine besten Freunde, alle fünf, meine Musketiere. Ich würde für jeden in die Bresche springen und mein Leben lang unsere gemeinsamen Erlebnisse in Erinnerung behalten, dachte ich kitschig.

Mein Handy klingelt. Das vibrierende Display zeigt ein Bild von Maja und Xenia. Ich habe das gleiche Bild für beide Kontakte, als Scherz, nur ist das von Xenia gespiegelt. Ich hebe ab. „Hallo, Prinzessin des Orients.“, begrüße ich sie überschwänglich. Von allen Musketieren ist sie die einzige, die wie ich noch keinen Anschluss gefunden hat, die schwerelos im Vakuum der Einsamkeit schwebt. Sofort merke ich, dass meine Begrüßung unangebracht war. Am anderen Ende bleibt es lange still. Schließlich kann ich einen leisen Schluchzer vernehmen. „Jake?“, fragt sie mit zerbrechlicher Stimme. „Mir geht es echt beschissen.“

Und bevor ich weiß, wie mir geschieht, sitze ich im Zug nach Hildesheim. Vier Stunden ICE, in denen ich absolut nichts machen kann, außer nachzudenken.
Unbewusst hat Xenia mir damit eine lange überfällige Entscheidung abgenommen:
Nach Hause kommen.

„Ich gehe nach Indien.“, hörte ich mich sagen. Meine Freunde schauten mich komisch an, dann brach Max in schallendes Gelächter aus. Es brauchte einige Stunden an Erklärungen und vielen Fragen, bis sie verstanden, dass ich das Ernst meinte. Ich würde nach Indien gehen, nach dem Abi. Ein Jahr lang einfach loslassen, die andere Seite der Welt sehen, mich in weißen Klamotten mit Beuteln aus Farbe beschmeißen lassen und so weiter und so fort. Ich hatte genug von Deutschland. Für den Moment. Zähneknirschend und teilweise mit Tränen in den Augen nahmen meine Musketiere die Entscheidung an.
Viel Zeit blieb uns nicht mehr, also schlug Luther vor, so viel wie möglich zu unternehmen, bevor ich ging. „Und wenn du wiederkommst, gibt’s erstmal eine fette Reunion!“, fügte er grinsend hinzu.

Ein Versprechen, dass er nicht halten konnte. Er wurde an einer britischen Uni angenommen und bracht Hals über Kopf auf, um seinen Traum zu verwirklichen. Die anderen verschwanden nach und nach aus unserer Heimatstadt und ich… ich kam nie zurück. Warum auch? Alles, was mich dort gehalten hatte, war weg. Mein Vater hatte mich mit 16 zu Hause rausgeschmissen, weil er meine Zukunftswünsche nicht respektieren konnte. Meine Freunde waren in der Weltgeschichte verstreut.

Ich sitze mit Xenia auf dem Dach eines Hauses. Sie hat weiter unten eine Wohnung, musste auch von zu Hause ausziehen, nachdem sie sich mit ihrer Mutter verkracht hatte. „Sie findet meinen Beruf halt nicht so geil.“, meinte Xenia.
„Wieso? Ihr werdet vollkommen unnötig stigmatisiert. Als Stripperin entblößt du anderen nur deinen Körper, als Schauspielerin hättest du dem Publikum deine ganze Seele offenlegen müssen!“
Xenia boxt mir spielerisch in die Seite. „Sei du doch ruhig! Theaterwissenschaften? Da hätte ich echt mehr von dir erwartet, Starregisseur Jakob Saalgarten!“
Wo sie Recht hat.
Irgendwo auf dem Weg vom „Spanier“ über Indien nach München hatte ich diesen Traum aufgegeben. Warum eigentlich?
„Es ist so schade, dass wir uns alle auseinandergelebt haben, Wüstenprinzessin.“, seufze ich wehmütig in den Nachthimmel hinein. Ich bin der einzige, der sie so nennen darf. Das geht weit zurück in unserer gemeinsamen Vergangenheit.

Damals, in der fünften Klasse, war sie die einzige Dunkelhäutige an der Schule gewesen. Irgendwie hatte das die Leute davon abgehalten, sie näher kennenzulernen. Das wollte mir nicht in den Kopf gehen. Wenn überhaupt, stach sie doch aus der Masse heraus. Also hatte ich die Idee, sie eines Tages mit einer Rose in der Hand und den Worten „Seid gegrüßt, Prinzessin des Orients“ anzusprechen. Eine großartige Idee, meiner Meinung nach. Xenia fand das damals nicht so lustig und wir fanden uns beide im Büro des Direktors wieder. Nachdem wir unsere anfänglichen Differenzen überwunden hatten, wurden wir gute Freunde und es entwickelte sich dieser merkwürdige Brauch, dass ich sie Wüstenprinzessin nannte.

Auf einmal wirft mir Xenia einen merkwürdigen Blick zu. „Wie… auseinandergelebt? Hat dir das nie jemand erzählt?“, fragt sie erstaunt. Genau so erstaunt meine Antwort: „Was erzählt? Ich weiß von nichts.“
„Das ist ja mal wieder typisch. Fuck.“, sagt sie und schaut betroffen auf ihre über die Dachkante baumelnden Füße. „Kurz nachdem du weg bist… da haben wir gemerkt… was es eigentlich war… das uns sechs immer zusammengehalten hat.“, stammelt sie und guckt mir ernst in die Augen.
Diese Kombination aus tiefgrünen Augen und dunkler Haut macht sie einzigartig. Ich habe ihr schon oft gesagt, wie attraktiv ich das finde. „Der einzige Grund, warum wir immer zusammen abgehangen haben, warst du, Jake. Wir fünf untereinander, wir konnten uns gar nicht alle leiden. Ist dir nie aufgefallen, dass Max und Luther sich immer wegen irgendeiner Kleinigkeit in den Haaren lagen?
Nachdem du weg warst, haben wir uns noch zwei Mal getroffen und beim zweiten Mal hat Luther fast die Bude auseinandergenommen. Danach hat Sonja ihn verlassen. Das hat ihn noch wütender gemacht. Irgendwann haben sich Max und er dann geprügelt und… naja. Sonja hat Maya schon immer gehasst. Es hat nie irgendwie Frieden gegeben, das einzige, war wir alle gemeinsam hatten… war, dass wir dich mochten. Unserem ‘Kapitän’, der immer frischen Wind in die Runde gebracht hat, uns auf Trab gehalten hat ‘Abenteuer’ gefunden hat, die wir erleben konnten… Jake?“

Ich spüre, wie in mir die Tränen hochsteigen.
Diese ganze verfickte Zeit… Fuck!
Ich kann kaum atmen, während die gestauten Emotionen aus zwei Jahren Einsamkeit sich mit einem Mal entladen. Also weine ich. Es ist ein lautes, merkwürdig fremdes Geräusch, das ich so von mir selber noch nie gehört habe. Ich presse meine Stirn fest an Xenias Schulter und aus mir strömt die geballte Enttäuschung, Wut, Trauer,
alles, alles,
diese ganze Scheiße…

„Kennst du dieses Meme My whole life is a lie? So fühl ich mich gerade.“, stottere ich weniger schlecht als recht zwischen den Tränen hervor. Xenia streicht mir sanft über den Kopf. Sie sagt nichts. „Diese ganze Zeit… die Jahre, die zwischen ‘uns’ und jetzt liegen… hab ich einer Freundschaft hinterher getrauert, die es gar nicht gegeben hat? Was soll das? Ich wollte das nicht wissen, Xenia!“
Langsam befreie ich mich aus ihrer Umarmung und rücke ein Stück von ihr weg. Leise weine ich weiter in mich hinein und versuche, meine Gedanken zu ordnen.
Es ist nicht Xenias Schuld.
Wie bin ich je auf den Gedanken gekommen, dass die Welt perfekt war als Kind? Wie kommt es, dass sie alle neuen Bekanntschaften fahl und irgendwie nicht so echt angefühlt haben, wie die Freundschaft meiner Musketiere?
„Wir waren Kinder, Jakob. Wir haben uns gefühlt wie Erwachsene, aber das war bullshit!“, sagt Xenia jetzt. Sie ist an mich herangerückt und hat mir eine Hand auf den Rücken gelegt, mit der sie leicht hin- und herstreicht. Ich nicke langsam. „Verschwendete Zeit. Wenn ich das früher gewusst hätte, wäre ich zurückgekommen.“ „…und hättest versucht, alles ins Reine zu bringen. Das hätte dich kaputt gemacht, nicht unsere Freundschaft repariert.“ „Aber ich hätte es versucht, verdammt! Ich hätte wenigstens das Gefühl gehabt, etwas ändern zu können!“
Zusammengekauert hocke ich auf einem Dach unter den Sternen, die mir immer wieder zu entwischen drohen. Ich finde keinen Halt mehr. Aber sie ist da und zusammen denken wir über die Zukunft nach.

„Psst!“, rief Max. Seine Stimme klang gedämpft unter der Sturmhaube. Es war mein letzter Tag auf deutschem Boden, besser gesagt, meine letzte Nacht. Die Musketiere hatten sich entschieden, ein Andenken an uns in der Schule zurückzulassen. Mit Sprühdosen und Schablonen bewaffnet kletterten wir über die Schulmauer und suchten nach der richtigen Wand für unser Vorhaben.
„Hier.“, rief Luther schließlich. Schnell packte ich die Schablonen aus, die Maya entworfen hatte und wir machten uns an die Arbeit. Wenig später zierten die weiße Wand des Kunstgebäudes sechs gekreuzte Degen, unter denen „Einer für alle – alle für einen“ steht. Nicht genug, um unsere Schuld zu beweisen, aber genug, dass sich jeder an uns erinnern würde. Nach einem High-Five und einem Erinnerungsfoto verließen wir den alten Schulhof für immer. „Und? Werdet ihr es vermissen?“, fragte ich zwinkernd. „Die Schule? Im Leben nicht!“, antwortet Luther,
„Aber dich - dich schon, man.“
Schnelle, ungelenke Umarmungen wurden ausgetauscht, dann radelten wir in unterschiedliche Richtungen davon.

Ich liege in Xenias Bett und halte unschlüssig mein Handy in der Hand. Meine Wüstenprinzessin hantiert gerade im Flur herum.
„Ach fuck, ich tu’s jetzt einfach.“, rufe ich und drücke auf den Namen.
Also tutet es. Nach ein paar Sekunden hebt Luther ab. „Heey, Jake, how marvellous!“, sagt er mit gekünsteltem britischen Akzent. Ich lache. „Hi Luther. Lange nichts gehört. Soll ich dir erzählen, was ich gestern herausgefunden hab?“
„Hau raus, my friend.“, antwortet er.

Ich hole tief Luft.
„Theatergeschichte ist scheiße. Bayern auch. Ich werd nach Norddeutschland zurückziehen. Ich versuch’s jetzt einfach mal mit Regie.“

Eine Weile ist es still.
„Gute Entscheidung.“, sagt er schließlich, „Hast du das Xenia schon erzählt?“

Als ich ihm erzähle, dass sie das quasi mitentschieden hat, kann ich sein Grinsen über den gesamten Ärmelkanal hören. „Told you.“, sagt er.
„Tja. Die Anderen werd ich auch noch anrufen, soll ich irgendwen von dir grüßen?“
Wieder Stille.
Nach kurzem Grübeln sagt er:

„Ja. Grüß einfach alle. Machs gut, Jakob!“

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Das Kind im Hasenpelz

In einer Zeit, als Vögel noch Vögel und Dachse Dachse fraßen und das menschliche Herz so kühl war wie der dichte Schatten am Fuße einer Trauerweide, da wurde ein Kind geboren, das von solch stolzem Wuchs und außergewöhnlichem Wesen war, dass ein jeder aufrechte Mann im Dorf sich als sein Vater zu erkennen gab.
Doch nur die Mutter, eine junge Frau, ohne viel Ansehen, wusste um die wahre Abstammung des Kindes; ein Vagabund war vor neun Monden durch die Siedlung gezogen. Er hatte an ihre Tür geklopft und da er ein freundliches Gemüt und gepflegte Füße besessen hatte, hatte sie ihm für die Dauer jener einen fruchtbaren Nacht Unterschlupf gewährt.
Und besah sie nun ihr rotwangiges Kind, wie es gesund an ihrer Brust anlag, so lastete weder Reue noch Schmach auf jener vergangenen Entscheidung.
Mit argwöhnischer Sorge jedoch erfüllte sie die überschäumende Zuneigung, die ein jeder Mensch, der ihr Kind zu Gesicht bekam, dem Neugeborenen entgegenbrachte. Nur wenige Momente der Zweisamkeit waren ihr und ihrem Spross vergönnt; stündlich wollten jene selbsternannten Väter einen Blick auf das strampelnde Geschöpf erhaschen. Und auch die Frauen des Dorfes kamen täglich und brachten allerlei Tinkturen, Ratschläge und ergossen Wellen der Fürsorglichkeit über den quietschenden Säugling.
Daher nun beschloss die junge Mutter, den Weisen vom Berg um Hilfe zu bitten; ein dürrer Greis, der auf einem Hügel abseits des Dorfes lebte. Als er schließlich zu ihr kam, bedeckte sie das Antlitz des Kindes eilig mit einem Tuch und trug ihm sodann den Anlass ihrer Unterredung vor.
Der Alte zwirbelte sich den Bart, bevor er sprach: „Nun, wenn dein Kind tatsächlich jene Wirkung auf die Menschen hat, wie du sie beschreibst, dann sollte es eine einfache Lösung geben.“
Das Herz der Frau vollführte einen Hüpfer bei jenen Worten. „Sprich weiter“, forderte sie ihn auf.
„Füge ihm einen Makel zu und seine Anziehungskraft wird schwinden.“
Gedankenverloren ging die Mutter des Kindes einige Male auf und ab. „Von welcher Art müsste wohl dieser Makel sein?“
Wieder zwirbelte der Weise vom Berg seinen grauen Bart, ehe er sein Urteil preisgab: „Ein abgetrennter Unterarm sollte genügen. Die Menschen werden sich in angemessener Weise von deinem Kind abwenden. Und wenn es tatsächlich so gut gewachsen ist wie du behauptest, dann sollte jener Makel ihm keinen Nachteil bereiten.“
„Dann tu’ es also. Scheid’ meinem Schatz den Arm ab“, beeilte die Frau sich zu sagen, „aber belasse das Tuch auf seinem Gesicht, andernfalls wirst du es nicht übers Herz bringen, ihm ein Leid zuzufügen.“
Dem alten huschte ein nachsichtiges Lächeln über die Lippen, dann wühlte er in dem löchrigen Beutel, den er bei sich trug und holte ein in Form gehauenes Stück Eisen und ein Messer daraus hervor.
„Leg dies beides ins Feuer“, wies er die Frau an.
Und in dem Moment als sie es tat, schritt der Weise vom Berg auf das Kind zu, nahm dessen winziges linkes Ärmchen zwischen die drahtigen Finger und brach es entzwei, ganz so, wie man es mit einem dünnen Zweig tun würde.
Der Säugling ertrug die Prozedur in tapferer Schweigsamkeit. Seine Mutter kehrte dem Geschehen den Rücken zu, wagte erst, sich umzublicken, als der Alte verkündete, es sei vollbracht. Sie sah noch, wie er die blutige Klinge an seinem Lumpen von Mantel säuberte. Dann schaute sie auf ihr Kind, aus dessen einer Seite nun ein verödeter Stumpf ragte; eine Entstellung, welche sie mit tiefem Trost erfüllte, denn nicht in tausend Jahren würde jemand anderes als eine Mutter dieses verkrüppelte Geschöpf lieben können. So wenigstens dachte sie.
Und wie die junge Frau nun dabei war, sich ihrem einarmigen Säugling zögerlich zu nähern, da klopfte es zu ihrem Schrecken heftig an die Tür.
Hektisch scheuchte sie den Alten, er solle sich nur irgendwo verstecken. Schließlich kroch er unter den schweren Holztisch, wo er still hocken blieb.
Ein Bär von einem Mann betrat die Hütte. In dunkler Nacht hätte ein jeder die Flucht vor ihm ergriffen, doch in jenem Augenblick trug er ein gütiges Lächeln im Gesicht und in der Hand hielt er einen flauschigen Hasenpelz.
„Schau, liebe Mutter, was ich für unser Kind gemacht habe“, er hielt das Fell in die Höhe. „Bei Kälte wird es unserem Wonneproppen Wärme spenden, bei Traurigkeit ihn an der Nase kitzeln.“
Er wollte zu dem Neugeborenen hinüber gehen, um es in den neuen Pelz zu hüllen, doch die Frau hielt ihn auf. „Es schläft doch gerade, gib es ihm später.“
„Ach was. Das Kind wird sich freuen, seinen Vater zu sehen“, entgegnete er und schob sie zur Seite.
Als er aber den Säugling zu Gesicht bekam, spannte sich seine Brust unter dem groben Leinenhemd, das er trug, und er polterte: „Was hast du getan, Weib?“ Und von grimmiger Inbrunst erfasst, tat er einen großen Schritt auf sie zu und hob seine Hände, sie zu würgen.
„Was geht hier vor?“, dröhnte es da vom Eingang her. Ein weiterer Mann, nicht weniger kräftig als der erste, stand dort mit aufgerissenen Augen.
Die Frau, ehe zehn fleischige Finger sich um ihren schmalen Hals legten, schrie: „Bitte hilf! Er will mich morden, um unser beider Kind zu rauben.“
„Mein Kind rauben?“, brüllte der Ahnungslose und machte sich auf, den Angreifer am Kragen zu packen. Eine Rangelei entstand und befreite die Gewürgte. Hustend und röchelnd, schleppte sie sich in eine Ecke der Hütte und ließ geschehen, was geschah. Die Männer schlugen und bissen sich, es splitterten Knochen und spritzte Blut. Erst, als beide leblos zu Boden gesunken waren, hatte die schreckliche Szene ein Ende.
Da kroch der Weise vom Berg unter dem Tisch hervor und sprach kichernd: „Du bist kein Weib, du bist eine Wölfin.“
Und als er sich zu ihr drehte, sah sie, dass sein Gesicht blutverschmiert war und ein Knochen von der Länge eines Fingers zwischen seinen Zähnen steckte.
„Dein Kind schmeckt so gut“, sagte er und leckte sich die Lippen.
Da eilte die Frau zu ihrem Kind hinüber, wickelte es hastig in das Hasenfell und floh hinaus in den dämmernden Abend.
Und erst, als sie im Dickicht des Waldes angelangt war, ließ sie ihre geschundene Kehle nach Luft schnappen. Sie schaute auf das Kind in ihren Armen, wie es wohlig gurgelte.
„Nichts soll uns nun mehr trennen“, seufzte sie lächelnd und bedeckte den kleinen Kopf mit hundert Küssen. Ein Rascheln im Unterholz aber ließ sie innehalten.
„Armes Täubchen“, kicherte es aus den finsteren Büschen, „sie will es nicht einsehen.“
Eine Waldhexe, in Lumpen gekleidet und mit Unkraut im Haar, trat schließlich hervor. „Nimmer wird dieses Kind alleinig ihres sein. Ist es doch denen bestimmt, die es lieben, nicht jenen, die es begehren.“
„Schweig still, hässlichen Weib“, zischte die junge Frau.
„Sie will meinen Rat nicht? Dann soll sie sehen, was geschieht“, sprach die Alte und verschwand hämisch gackernd im Dickicht.
Nicht recht wissend, wo sie war, schlug nun die Mutter, das Kind fest an die Brust gedrückt, eine Richtung ein, von der sie annahm, sie würde sie aus dem Wald hinausführen. Stunde um Stunde schleppte sie sich über Laub und Moos, als sich ihr plötzlich eine dunkle Gestalt in den Weg stellte.
„Gib mir, was du so fest umklammert hältst!“, forderte eine dröhnende Stimme.
Die Frau aber behielt das Bündel dicht bei sich, beteuerte, es wäre ein verkrüppeltes Kind und nichts von Wert. Ihre Weigerung jedoch ließ den Unbekannten mürrisch schnaufen. Ein Leichtes war es ihm, der Mutter den kleinen Körper zu entreißen. Einhändig hielt er das Kind in die Höhe, es sorgfältig betrachtend. Und im Mondschein begannen seine Augen zu glitzern, wurde seine finstere Miene weich. „Welch stattlichen Räuber wirst du einst abgeben“, sprach er an den Säugling gerichtet. Dann wandte er sich an die nach ihrem Kind schreiende Mutter: „Dein Spross wird nun unter uns Strauchdieben, Betrügern und Wegelagerern ein zu Hause finden. Schließe dich uns an oder bleib hier einsam zurück.“
Die Frau aber schenkte seinen Worten keine Beachtung, keifte und zeterte stattdessen, er möge ihr ihr Kind zurückgeben.
Und als der Unhold sich zum Gehen wandte, sprang sie ihm wie eine tollwütige Katze von hinten auf den Rücken. Doch vergebens; der Räuber schüttelte sie ab, versetzte ihr einen Tritt und ließ sie, bewusstlos auf dem feuchten Waldboden ausgestreckt, zurück.

„Wach auf, mein Täubchen, wach auf“, flüsterte die Hexe und langsam öffnete die junge Frau die Augen.
„Sieht sie es jetzt ein? Sie muss die Gier ziehen lassen.“
In verzweifelter Hast setzte die verlassene Mutter sich auf. „Zeig mir, Hexe, wo haust diese Räuberbande?“
„Aber nicht doch“, entgegnete das alte Weib, „zeig sie doch Einsicht. Sah sie denn nicht, wie das Kind Argwohn und Streit aus den Herzen der Menschen tilgt? Wie es Einheit stiftet, wo einst Kälte wohnte?“
Die Frau aber packte die Hexe drohend beim Kragen. „Schweig endlich, sage ich! Ich habe jenes Kind unter Schmerzen in die Welt gesetzt. Es ist mein.“
„Warum versteht sie es nicht?“ Sie streckte den dürren Finger gen Himmel: „Sieh sie doch, wie die Vögel dort auf dem Ast sitzen; hacken sich nicht länger zu Tode, leben stattdessen in Frieden beieinander, denn sie haben das Kind geblickt.“
„Egal ist mir, was mit den Vögeln ist.“
„Und die Räuber, sie sind nun längst in fester Freundschaft verbunden, geben den Armen, nehmen den Reichen.“
„Egal ist mir, was die Räuber tun“, sprach die Frau abermals.
„Und ihr Dorf; zu großem Ruhm wird es aufsteigen, wurde doch das Kind in seiner Mitte geboren.“
„Egal ist mir, was mit dem Dorf geschieht.“
„Aber bedenke sie doch, das Kind, es wird sterben, wenn es bei der bösen Mutter ist.“
„Egal ist mir, ob das Kind stirbt“, funkelte die Mutter. „Tausend Jahre und zwei Tage werde ich wachen Auges durch den Wald ziehen, nicht ruhen, ehe mein Schatz an meiner Brust liegt. Mögen auch Vögel wieder Vögel fressen und die Herzen der Menschen erkalten … dann soll es so sein.“

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Feuerraben

Feuer. Feuer war etwas wunderbares. Es hatte die Fähigkeit, alles zu vernichten, was ihm im Weg war. Außerdem machte es ein gutes Licht. Die flackernden Flammen beleuchteten die sterbenden oder bereits toten Bauern, die auf der Straße verstreut lagen. Blut glitzerte in dunklen Rottönen auf den Pflastersteinen, den verstümmelten Leichen und auf den Pferdewagen. Ich fand immer, dass es etwas Ästhetisches hatte. Krieg, meine ich.
Naja, zumindest wenn man stark war. Nicht so wie diese Leute. Sie waren wohl von der Grenze geflohen - wo Könige und Magier das Land zerstörten - um im Inland neu anzufangen. Sie hätten es vermutlich auch geschafft.
Nur war das Glück nicht auf ihrer Seite und sie sind uns genau in die Arme getrottet.
Ich sagte ihnen, es werde einfacher, wenn sie sich ihrem Schicksal ergaben. Ich hielt es für wichtig, dass man weiß, was mit einem geschieht.
Aber natürlich haben sie versucht sich zu wehren. Also hatte ich keinen Grund meine Männer davon abzuhalten, ihren Spaß zu haben. Torren stach immer noch mit seinem Degen auf einen wimmernden Bauern ein.
Die Waffe hatte er zuvor einem Edelmann abgenommen, den er ermordet hat. Seitdem nutzte er die schmale Klinge, um Leuten so viele Stichwunden zuzufügen wie möglich, bevor sie verreckten. Wenn jemand sehr lange oder sehr viele Stiche überlebte, erzählte er hinterher stolz davon.
Torren hockte vor dem Mann, der an einen Baum gelehnt saß und schaute konzentriert auf ihn hinab, als wäre es eine ausgesprochen komplizierte Angelegenheit den nächsten Stich anzusetzen. Vermutlich war es das für ihn auch. Torren war ziemlich bescheuert.
Mates sprang von einem der Karren, die noch nicht brannten und kam zu mir. Er hatte seinen blutverschmierten Hammer geschultert und sein hässliches Grinsen aufgesetzt.
“Ich hab’ da was. Könnt’ dir gefallen. Schau’s dir an bevor Veid es findet.”
Er deutete auf den Wagen, den er gerade verließ.
Ich stützte mich auf mein Schwert, um aufzustehen, und es drang zwei weitere handbreit in den weichen Boden ein. Wir gingen zum Karren und ich kletterte hinauf. Mir war sofort klar, was er gemeint hatte. Zwischen zwei Fässern kauerte ein Mädchen - und ein hübsches noch dazu. Hätte Veid sie zuerst entdeckt, wäre sie nicht lange so geblieben. Natürlich gefiel ihm hübsch, aber dann hasste er es. Vermutlich weil er so abgrundtief brutal und hässlich aussah und wir uns immer darüber lustig machten.
“Ich dacht’ vielleicht willst se für dich”, sagte Mates mit einem Augenzwinkern. Sicherlich ging er davon aus, er sei mir daraufhin einen Gefallen schuldig.
“Danke Mates, geh und sag den andren bescheid. Wir hauen hier ab.”
Er verschwand mit einem noch breiteren Grinsen, das seine gepflegten Zähne zeigte. Das hieß, sie waren vollständig und nicht verrottet.
“Also… du kannst mit mir kommen oder ich hetz die Meute auf dich.”
Sie schaute mich aus großen Augen verängstigt an, aber ich erkannte, dass sie mich verstanden hatte. Sie konnte nicht älter als vierzehn oder fünfzehn sein. Nach einem Augenblick wandte ich mich zum Gehen, doch mit einem rumpeln streckte sie die Hand aus. Ich griff zu, um ihr auf zu helfen. Plötzlich zückte sie ein Messer und stach nach mir. Ich hatte natürlich damit gerechnet.
Keine Ahnung, wie oft Leute das schon bei mir versucht haben. Sie stellten sich tot, versteckten sich oder boten Kooperation an - nur um einen dann abzustechen.
Es war nicht schwer, der Klinge auszuweichen, sodass sie einfach an meinem Kettenhemd abrutschte und das Mädchen dann entwaffnete.
Ich packte sie am Kragen, warf sie hinaus und sprang ihr nach. Bevor sie sich aus dem Dreck erheben konnte, fesselte ich sie und schleifte sie zur Gruppe. Die Meisten waren schon bereit oder packten ihre Sachen zusammen. Mates pfiff einmal laut, um die Letzten zu rufen.
Veid kam zwischen den Bäumen hinter der Kolonne hervor und wischte Blut von seinem Schwert an einem Lappen ab.
“Ich finde es gut, dass du immer sicher gehst, dass die Welt nicht bald von schweinegesichtigen, kleinen Kindern überflutet wird, Veid.”
Ein paar lachten und zu aller Ironie reagierte Veid mit einem bösen Grunzen. Währenddessen hatte Gilig - ein auf Abwege geratener Taschendieb - angefangen, das Mädchen weg zu zerren. Er war schon eine Weile bei ihnen, aber er schien immer noch nicht die Regeln zu kennen.
“Hey, Gilig. Was wird das?”
Er schaute mich zuerst verärgert, dann verdutzt an. “Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht, dass sie dir gehört.” Widerwillig ließ er sie los. Er hatte es genau gewusst. Ich ging zu ihm und streckte meine Hand aus.
“Du kannst einfach fragen. Alles klar?”
Gilig war skeptisch, konnte aber schlecht ablehnen. Er nickte und schlug ein. Ich drehte die Innenseite seines Unterarmes nach oben und schnitt ihn mit der linken auf, während ich ihn mit der rechten weiter festhielt. Es war eine sehr elegante Bewegung, wie ich fand.
Gilig stolperte entsetzt zurück und stammelte etwas, bevor er auf die Knie fiel. Damit war er so gut wie tot und alle hatten zugesehen.
Nur ein Befehl von mir reichte und wir gingen los. Er war kein großer Verlust für die Gruppe, außerdem hatte ich ihn eh nie gemocht. Ich hatte eh nach einer guten Gelegenheit gesucht, die anderen zu erinnern. Daran zu erinnern mich nicht zu verärgern. Niemanden störte das weiter - außer Ott. Der alte Veteran und Spieler beschwerte sich darüber, dass sie nicht darauf wetten konnten, wie lange Gilig überlebte. Erfahrungsgemäß hätte ich gesagt ein paar Minuten.
Ein ziemlich humanes Ende - wir hatten keine Zeit für was Interessanteres. Zu lange zu bleiben war gefährlich. Das Feuer könnte Soldaten anlocken und so eine Begegnung konnten wir nicht gebrauchen.

Wir folgten der Straße, als es anfing zu regnen. Es gab die letzten Wochen andauernd diesen scheiß Regen. Man konnte nicht verhindern, komplett durchnässt zu werden und der Matsch machte alles dreckig. Das einzig Gute war, dass er den penetranten Gestank der Männer erträglicher machte. Ich ließ das Mädchen vorgehen, damit ich sie immer im Auge hatte.
Nach einer Weile holte Mates zu mir auf und ging neben mir her.
“Warum hast’ sie mitgenommen?”, fragte er so beiläufig wie möglich, konnte die Neugier in seiner Stimme aber nicht verstecken.
“War so ein Gefühl. Ich denke sie könnte noch nützlich sein. Wenn nicht, können wir sie immer noch zu einem guten Preis verkaufen.”
Aber Mates hörte mir gar nicht mehr zu. Stattdessen schaute er in die Ferne und kniff die Augen zusammen.
“Probleme.”
Ich folgte seinem Blick. Um zum nächsten Ort zu gelangen, mussten sie einen Fluss überqueren. Es gab in der nächsten Umgebung nur eine Brücke, die war gerade vor ihnen in Sicht gekommen. Für gewöhnlich konnte man sie einfach passieren, aber jetzt standen auf beiden Seiten kleine Holztürme, Wachen und ein paar Leute.
“Das ist neu. Wir können uns keinen Umweg leisten. Sag allen, sie sollen sich ruhig verhalten, aber wachsam bleiben.”
Wir waren etwa zwanzig Mann, allesamt erfahren und willig bis zum Tod zu kämpfen. Es war aber keine Sache des Mutes, sonder einfache Taktik. Wenn wir uns durchschlagen mussten, wäre es kein Problem den ersten Posten zu überwältigen. Der Zweite wäre dann allerdings vorgewarnt und konnte sich positionieren. Auf der Brücke wären wir dann einfache Ziele für die Bogenschützen im Turm und ein paar Männer würden reichen, um den Weg zu versperren. Abgeschlachtet zu werden stand mir nicht gut zu Gesicht.

“Was haben wir denn hier für einen Trupp”, sagte die Wache spöttisch. “Wir sind hier, um Gesindel wie euch von Kaland fernzuhalten. Also verschwindet wieder! Könnt die Gebühr’n eh nicht bezahlen.”
Das würde lästiger werden, als erwartet. Nicht nur war es offensichtlich, dass sie alles andere als eine gute Gesellschaft darboten, zu dem waren es tatsächlich Soldaten. Sie besaßen gute Schwerter, Lanzen und Schilde, mit dem Wappen des hiesigen Lords. Doch bevor ich etwas zu unserer Verteidigung sagen konnte, drängelte sich das Mädchen nach vorne. Ich muss zugeben, dass es mich überrascht hat.
“Ich bin Aellin, Schülerin des großen Ekarius. Diese Männer begleiten mich und wir haben es sehr eilig.”
Der Mann fing prustend an zu lachen. “Habt ihr das gehört?”, rief er und schaute sich zu seinen Kollegen um.
“Sie sagt, sie sei eine Zauberin.”
“Magierin - und ich kann es beweisen.”
Das machte den Soldaten skeptisch - und neugierig. Meine Männer jedoch waren perplex und ich spürte die Anspannung. Sie alle rechneten jeden Augenblick mit einem Gemetzel. Ich versuchte ruhig zu bleiben.
“Na dann - zeig uns was. Und es ist besser echte Magie, sonst verhaften wir dich und die anderen gleich mit!”
Aellin nickte und schloss dann die Augen. Sie murmelte einige Worte, die ich nicht verstand. Ich gab nur im Stillen den anderen so unauffällig wie möglich Zeichen, wie wir den Posten einnehmen würden.
Dann riss Aellin die Augen auf und hielt die Arme in die Luft. Nichts passierte.
“Das war wohl nichts. Du solltest-”
Dem Mann verschlug es die Sprache, als er plötzlich anfing zu schweben.
“Was zum… lass das! Ich glaube dir ja! Hör auf damit!”
Mit einem weiteren Wort aus Aellins Mund landete er wieder auf seinen Füßen. Er glotzte sie fassungslos an.
“E-Es ist mir eine Ehre. Tut mir leid, euch aufgehalten zu haben. Schöne Reise noch.”
Aellin rümpfte nur die Nase und ging voran. Ich folgte ihr und meine Männer folgten mir. Für sie musste es so aussehen, als hätte ich das alles gewusst. Denn für gewöhnlich wusste ich sowas.
“Eine Zauberin also. Irgendwie hab ich gemerkt, dass du anders bist. Du könntest uns von großem nutzen sein.”
“Freu dich nicht zu früh. Es war immer problematisch, wenn ich Sachen hab schweben lassen.”
“Was meinst du damit?”
Wir standen auf dem höchsten Punkt der Brücke, als sie sich umdrehte und mir bedeutete, ihr gleich zu tun.
“Was soll da sei-” BUMM
Eine gewaltige Druckwelle erschütterte die steinerne Brücke. Der Holzturm wurde umgepustet und Holz flog durch die Gegend. Es ging von genau der Stelle aus, wo der Wächter gestanden hatte. Menschenschreie erklungen und es rieselte Dreck und Holzsplitter vom Himmel, zusammen mit dem Regen.
Dann realisierte ich, dass es ja den zweiten Posten noch gab. “Los Leute, über die Brücke!”
Die ließen sich das nicht zweimal sagen und rannten los. Die Soldaten waren mit der Situation komplett überfordert. Menschen rannten durcheinander und bemerkten erst viel zu spät, dass wir sie angriffen.
Wir hätten auch einfach verschwinden können. Aber ein paar von uns fiel auf, was für leichte Beute die irritierten Wachen waren und konnten nicht widerstehen.
Ich erschlug einen Knappen, der an mir vorbei lief. Ein brüllender Soldat rannte mit einem Schwert auf mich zu. Seinen Schild muss der tollpatschige Idiot verloren haben und damit auch seine einzige Chance. Er schlug von oben - ich wich aus. Ein tritt gegens Knie und kurz darauf brach er zusammen. Seine Eingeweide verteilten sich auf dem Boden.
Ich sah wie die anderen Kämpften. Ott hüpfte wie ein Irrer lachend um einen Soldaten herum, der sich hinter seinem Schild Deckung suchte. Bentz’ Hals wurde von einem Pfeil durchbohrt. Mates zerschmetterte Helme mit seinem Hammer. Es war ein wunderbarer Anblick, meine Freunde. Nach ein paar Minuten war es vorbei.
Wie üblich begannen sie die Taschen ihrer Opfer zu durchstöbern, beringte Finger abzutrennen und nach Wertvollem zu suchen. Der Regen ließ nach und Raben gesellten sich dazu. Diese schwarzen Omen des Todes. Manchmal dachte ich, sie verfolgten mich.
Ich schaute mich nach Aellin um und fand sie rasch. Sie saß am Rande der Brücke und ließ die Beine baumeln. Ich ging mit einer Fackel in der Hand zu ihr - es wurde langsam dunkel.
“Du hättest weglaufen können.”
“Wohin denn? Ich habe keine Eltern und Ekarius hat mich verstoßen, weil ich ihn enttäuscht habe.” Sie klang traurig und verbittert.
“Kann ich mit euch kommen?”
Wie verzweifelt musste jemand sein, um sich ihnen anschließen zu wollen?
“Natürlich”, sagte ich.
Ich wusste sehr gut, wie es ihr ging. Sie dachte sie wäre auf einmal allein. Man konnte sich dann einer Gruppe anschließen und der Illusion hingeben, es wäre nicht so. Aber die Wahrheit ist, man war immer allein. Ihr lebloser Körper fiel in den Fluss. Ein Stich ins Herz.
Ich schaute zurück, als wir weitergingen. Feuer - so schön.

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Das Abkommen

»Verstärkt die Wachen, bringt die Arbeiter herein und vor allem: sendet sofort einen Spähtrupp heraus! Wir müssen wissen, wann sie eintreffen.«
»Ich glaube kaum, dass das nötig ist, Cornelius.« Cornelius drehte sich augenblicklich zu der erregten Stimme um, die zu einem Krieger gehörte, der mit mehreren Getreuen mit raschem Tempo auf ihn zukam. Neben ihnen versuchte einer seiner eigenen Wächter in dem engen Gang Schritt zu halten. Er machte eine hilflose Geste zu Cornelius und stammelte, als er schließlich in Hörweite kam: »Wir haben versucht, sie am Haupttor aufzuhalten, aber sie haben uns einfach überwältigt…«
»Schon gut.« entgegnete Cornelius mit bitterer Miene und wandte den Blick wieder zu dem Krieger, der nun nah an ihn heran kam.
Dieser kniff die Augen zu und zischte Cornelius an: »Ich dachte, wir hätten ein Abkommen. Euer Volk das Gold, unser Volk das Fleisch.«
»Wir haben ein Abkommen, Amos.« bestätige Cornelius und nickte.
»Nun, dass ihr weiterhin ohne Unterlass das Gold sammelt, sehe ich.« erwiderte Amos böse und blickte auf die Vielzahl an Arbeiter, die eilig in dem Gang an ihnen vorbei und ins Innere der Festung liefen. Die meisten ihrer Taschen, die sie an ihren Körpern trugen, waren übervoll mit einem gelblich glänzenden Material gefüllt.
Amos blickte Cornelius wieder an. »Aber offenbar reicht euch das nicht. Offenbar geht ihr nun auch auf die Jagd.« Plötzlich die Fassung verlierend, fügte er schreiend hinzu: »In unserem Land! Erlegt unsere Beute!«
Einige der Arbeiter blieben erschrocken stehen und blickten Cornelius und die Fremden an. Als Cornelius jedoch eine energische Kopfbewegung machte, setzen sie sich sofort und sehr hektisch wieder in Bewegung.
Cornelius wandte sich Amos zu und sagte ruhig: »Wir haben uns an das Abkommen gehalten.«
»Ach, ist das so? Deswegen hast du eben nur rein zufällig die Wachen verstärkt und Spähtruppen für uns ausgesandt?«
»Nein.« antworte Cornelius weiterhin ruhig, obwohl sein Groll langsam in ihm aufstieg. »Ich hatte jedoch bereits von Euren Vorwürfen erfahren und dass Ihr auf dem Weg hierher seid.«
»Und die Reaktion auf diese Mitteilung unterstreicht nur eure Unschuld.« entgegnete Amos sarkastisch. »Führt uns zu Eurer Königin. Sofort.«
»Ich glaube nicht, dass…« begann Cornelius, doch bei diesen Worten drehte sich Amos um und schritt, gefolgt von seinen Kriegern, den Arbeitern folgend ins Innere der Festung.
Cornelius wusste, dass es aussichtslos war, sie aufzuhalten. Er bedeutete einigen der umstehenden Wachen ihm zu folgen und eilte dann selbst voran, um Amos einzuholen, wobei er mehrere Arbeiter zur Seite stieß, die dabei einen Teil ihres glitzernden Pulvers aus ihren Taschen verloren.
Cornelius führte sie durch schier endlose Gänge, die länglichen Räumen glichen und immer vor einem Tor endeten, die stets von mindestens zwei Soldaten bewacht wurden. Als diese jedoch Cornelius erblickten, öffneten sie sofort ihr Tor, so dass die Gruppe ungehindert passieren konnte.
Vor einem großen Tor, das sehr viel stärker als die anderen zuvor bewacht war und auch nicht bei ihrem Eintreffen geöffnet wurde, hielt Cornelius an. Er drehte sich zu Amos um und erklärte mit gedämpfter Stimme: »Ich werde Euer Eintreffen der Majestät ankündigen und Euch dann hereinbitten.«
Daraufhin ging er mit bedächtigen Schritten zu dem großen Tor, das einen kleinen Spalt geöffnet wurde, durch den er ins Innere verschwand.
Am Ende des riesigen Raumes erblickte Cornelius die Königin, umgeben von einigen der jungen Prinzessinnen. Er schritt langsam näher, beobachtet von der königlichen Leibgarde, die hoch aufgerichtet zu beiden Seiten des Raumes stand. In gebührendem Abstand vor der Monarchin ging er auf die Knie, blickte auf den Boden vor sich und sprach: »Eure Majestät, ich möchte Euch die Ankunft einiger Abgesandter vom Volkes der…« Mit einem lauten Krachen wurde das schwere Tor aufgestoßen und Amos, gefolgt von seinen Gefährten, marschierte schnellen Schrittes auf die Königin zu. Die Leibgarde trat vor, um die Eindringlinge aufzuhalten, Cornelius machte jedoch eine abwehrende Geste. Sie verharrten auf ihren Plätzen, beobachteten jedoch misstrauisch, wie Amos an Cornelius vorbei und zur Königin schritt. Die Prinzessinnen flüchteten sich eilig hinter den Thron ihrer Mutter.
Ohne sich zu verbeugen, sprach er ohne Umschweife: »Eure Majestät, das Abkommen wurde verletzt.« Es schien, als ob er weitersprechen wollte, jedoch plötzlich vor der Würde der Königin, die ihn nun aufmerksam anblickte, zurückgehalten wurde.
Mehrere Augenblicke vergingen in absoluter Stille, bevor die Königin, ihre Worte sorgfältig wählend, ruhig sagte: »Das Abkommen wurde vor Generationen geschlossen und seit Generationen befolgt. Was führt Euch zu der Annahme, das dies plötzlich anders sein sollte?«
Amos richtete sich etwas auf und erwiderte: »Wir haben heute morgen einige eurer Soldaten dabei überrascht, wie sie eines unserer Beutetiere angriffen. Als wir sie zur Rede stellen wollten, griffen sie uns an. Eure Majestät, dies ist ein Kriegsgrund und ich muss euch sagen, dass unsere Königin sehr erbost war, von diesem Vorfall zu hören. Ihr wisst, wie schwer es zur Zeit für uns ist, genügend Nahrung für unser Volk zu sammeln, seitdem wir immer weniger Beute finden.« Mit einem bösen Blick zu Cornelius setzte er hinzu: »Aber offenbar haben wir ja nun den Grund dafür gefunden.«
»Das ist ja lächerlich!« stieß Cornelius hervor, der sich inzwischen wieder erhoben hatte und schüttelte den Kopf.
»Was ist denn daran lächerlich?« fragte Amos wütend.
Cornelius, dessen Geduld ein Ende gefunden hatte, schritt, ebenfalls wütend, auf Amos zu. »Unser Volk jagt nicht. Unser Volk sammelt! Vielleicht seid ihr ja einfach nur schlechter bei der Jagd geworden?« Und mit einem hämischen Grinsen setzte er zu der Leibgarde der Königin hinzu: »Oder eure Beute schlauer als Ihr.«
Bei diesen Worten stürmten Amos und seine Krieger sofort auf Cornelius los, doch noch bevor sie ihn erreichten, gebot die Königin mit einem energischen »Beruhigt euch!« der Truppe Einhalt.
Amos zischte kaum hörbar zu Cornelius: »Noch lacht ihr, aber schon bald…«
»Ich muss mich für meinen respektlosen Untertanen bei Euch entschuldigen.« erhobt die Königin erneut die Stimme. »Was er jedoch sagt, stimmt. Wir haben jetzt und auch in Zukunft keinerlei Interesse das mit Eurem Volk geschlossene Abkommen zu brechen.«
»Nun, dann bedeutet das wohl, dass ich und meine Krieger uns das nur eingebildet haben?« fragte Amos aufgebracht. »Oder vielleicht haben wir uns auch nur geirrt und die Verbrecher sahen nur zufällig so aus wie ihr, trugen nur zufällig die selben Waffen wie ihr und sprachen nur zufällig dieselbe Sprache wie ihr?« Er blickte in die Runde, jedoch schien keiner eine Antwort darauf zu haben. »Aber das ist doch ohnehin etwas, was ich mich schon länger frage: warum trägt ein so friedliches Volk wie ihr überhaupt Waffen? Warum trägt selbst jeder eurer Arbeiter eine gefährlichere und spitzere Waffe am Leib als wir?«
»Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme« entgegnete Cornelius kühl. »Auch wir bleiben nicht von feindlichen Angriffen verschont.«
Amos wollte ihm gerade etwas erwidern, als erneut vor dem großen Tor laute Geräusche eines großen Tumults in den Raum drangen.
»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Cornelius aufgebracht.
Mit einem zufriedenen Lächeln erwiderte Amos: »Offenbar ist gerade meine Nachhut mit dem Gefangenen eingetroffen. Vielleicht kann er uns ja erklären, welche ›reine Vorsichtsmaßnahme‹ ihn dazu getrieben hat, eines unserer Beutetiere zu töten und daraufhin auch noch uns anzugreifen?«
»Ihr habt einen Gefangenen genommen?« fragte Cornelius erschrocken.
Es bedurfte keiner Antwort von Amos, denn in diesem Moment wurde das Tor aufgestoßen und mehrere Krieger aus Amos’ Volk betraten den Raum, in ihrer Mitte einen gefesselten Gefangenen mit sich führend. Sie stießen den Gefangenen vor den Thron der Königin und versammelten sich dann hinter dem völlig zufrieden blickenden Amos.
Sowohl die Königin, ihre Leibgarde als auch Cornelius schauten verständnislos auf den Gefangenen, dessen Flügel Amos’ Leute offenbar aus seinem schwarz-gelb gestreiften Körper gerissen hatten.
»Was soll das sein?« fragte Cornelius.
Amos, der aufgrund der verständnislosen Blicke unruhig wurde, entgegnete unsicher: »Der Gefangene… der das Beutetier erlegt hat.«
Cornelius schaute ihn scharf an. »Das ist eine Wespe. Keine Biene.«
Amos blickte sich hilflos um. »Aber sie sieht doch aus… wie ihr!«
»Ihr könnt das Volk der Wespen nicht von dem Volk der Bienen unterscheiden?« fragte Cornelius fassungslos. »Da kann ich ja nur hoffen, dass ich die nächste Ameise nicht aus Versehen für eine Schnecke halte, Amos.«
»Was machen Wespen in unserem Land?« fragte die Königin, der offenbar als erste die Tragweite dieser Erkenntnis klar wurde.
Daraufhin erhob sich die Wespe quälend und funkelte die Königin mit ihren Augen böse an. »Ihr seid alle des Todes.« stieß sie mühsam hervor und verzog ihren Mund zu einem grausamen Lächeln.
Cornelius blickte geschockt auf das
Ungetüm, als einer seiner Soldaten mit schnellen Schritten an ihn heran trat. »Die Botschafter, die ihr zum Ameisenbau geschickt habt, sind zurück. Er ist völlig zerstört. Er wurde angegriffen. Von… von Wespen.«
»Was?« Amos blickte den Soldaten geschockt und fassungslos an. »Unsere Festung? Vernichtet?«
Der Soldat beachtete Amos nicht, sondern fuhr weiter zu Cornelius gewandt fort: »Sie sind auf dem Weg hierher.«
Nur ein kurzer Moment verstricht, bevor Cornelius zur völliger Klarheit gelangte und völlig außer sich »Alarm!« schrie. »Schärft den Stachel! Wir werden angegriffen!«
Noch als sich Cornelius mit schnellen Flügelschlägen erhob und zur obersten Öffnung der Festung eilte, hörte er das Dröhnen, das alle umliegenden Wände zum Vibrieren brachte. Noch bevor er den Ausgang erreichte, hatte sich das Dröhnen zu einem alles erfassenden Summen gewandelt. Als er endlich durch das letzte Tor ins Freie stieß, hatte sich der gesamte Himmel über ihn bereits schwarz und gelb verfärbt.

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Denn dies ist mein Leib…

Die Blitzlichter der Reporter zerstückeln alle Bewegungen in stroboskopische Einzelteile. Ruckartig, wie in einem schlechten Daumenkino wird der Sarg unter den trübsinnigen Blicken der Trauergemeinde in die Erde gelassen. Der Priester spricht sein Erde zu Erde, Staub zu Staub, und klappt seine glänzend-schwarze Bibel zu. Mit einem Nicken tritt er zurück und gibt den Umstehenden die Gelegenheit, eine Hand voll Erde in das dunkle Loch zu werfen, in dem der Sarg verschwunden ist. Er kneift die Augen zusammen, um das Lichtgeflacker vom Rande der Trauergemeinde ertragen zu können. Die Reporter haben sich an die Abmachung gehalten und ein Mindestmaß an Abstand gehalten – man sollte das bloß nicht mit Anstand verwechseln – nur die Sorge um die Einhaltung der Vertragsbedingungen haben sie zu diesem Schritt der Pietät bewogen.
Ich gehe als erster zu dem Haufen aufgeschütteten Erdreichs und tauche meine Hand tief in dessen angenehm feuchte Kühle. Ich nehme die Sonnenbrille ab, damit die Fotografen meine geröteten Augen einfangen können. Klick. Ich sinke auf ein Knie und lasse die Erde hinabrieseln, ohne mich um den teuren Anzug zu scheren. Klick. Ich bleibe einen Moment in der dramatischen Pose verharren. Dann erhebe ich mich und – Achtung ihr Aasgeier! - hebe meinen Blick langsam und schaue von unten in Richtung der Reportermeute. Wenn die Leute hinter den Kameras etwas von ihrem Job verstehen, dann wird mir morgen früh mein eigenes Gesicht von mehreren großen Tageszeitungen entgegensehen; anklagend, traurig, abgekämpft. Klick.
Ich setze meine Sonnenbrille wieder auf, als ich zurück zu meinen Begleitern trete und zusehe, wie andere dem Toten die letzte Ehre erweisen. Viele haben Tränen in den Augen, auch meine Begleiter. Ihre dünnen, bleichen Körper sind von Gram gebeugt. Zittrige, dünne Hände greifen nach den meinen und ich drücke sie fest; hinter mir höre ich das leise Knirschen von Rollstuhlreifen, als die Pfleger die ersten zurück zum Transporter bringen. Keiner von ihnen hatte fernbleiben wollen; niemand wollte mich mit meiner Trauer allein lassen. Alle bekommen eine Extradosis Antibiotika, sobald sie wieder zuhause sind, doch das ist bedeutungslos; wir stehen loyal zueinander – wir stehen uns näher als Freunde, näher als Verwandte. Wir sind mehr als Bruder und Schwester, Vater und Mutter. Mein Bruder hat uns zusammengebracht, hat uns alle vereint. Wir sind seine Jünger – und er unser Messias.

Frau Bader jagt mir eine weitere Spritze in den Unterarm und ich krämpele den Hemdärmel wieder zu. Sie hilft mir, in mein Jackett zu schlüpfen und stützt mich, während ich an das Podium zur Pressekonferenz trete, um zu verkünden, dass mein Bruder im Kreise von Freunden und Verwandten beerdigt worden ist. Es folgen die üblichen Fragen, die ich kurz beantworte – ich will nicht zu viel vorwegnehmen, immerhin muss ich noch etwas für die Interviews aufsparen.
Nach dem Besuch eines jeden Reportes überprüft Frau Bader meine Werte, und schüttelt jedes Mal den Kopf, während sie mich streng anschaut. Entschuldigend hebe ich die Hände und werfe dabei fast den Tropf um, an den sie mich angeschlossen hat; obwohl sie sich unnachgiebig gibt weiß ich, dass sie Mitleid mit mir hat – die gute Seele hat mir etwas Morphium in die Lösung gemischt.
Nach einem unendlich langen Tag fährt mich der Fahrdienst zurück in die Klinik und ich lasse mir von Frau Bader ins Bett helfen. „Ich weiß, dass sie das Gefühl haben, das tun zu müssen, aber wenn sie nicht aufpassen, fangen sie sich eine Infektion ein. Und in ihrem Zustand könnten sie trotzdem noch sterben. Trotz ihrem – ihrem…“
„Trotz meines Bruders“, beende ich den von ihr begonnenen Satz und streiche versonnen über die mit Klammern verschlossene Wunde auf meiner Brust. Die Haut ist empfindlich und gereizt, aber ich höre nicht auf, muss mich versichern, dass ich immer noch da bin – und dass die Taten meines Bruders Realität sind.
„Sie hatten einen langen Tag, gönnen sie sich etwas Ruhe“, sagt sie und reicht mir ein Pappbecherchen mit der letzten Mediakementenration für diesen Tag. „Ihr Immunsystem ist durch die Mediaktion geschwächt, denken sie daran.“
Ich spüle die Pillen mit einem Schluck labbrigen Wassers aus der Plastikflasche vom Nachttisch herunter und lasse den Kopf aufs Kissen sinken. „Gute Nacht, Elke“, sage ich, und Frau Bader schickt sich an, den Raum zu verlassen. Die Klinke schon in der Hand dreht sie sich noch einmal um, sieht mich einen langen Moment mit einer unergründlichen Miene an, und sagt leise:
„Mein Beleid wegen ihres Verlustes. Niemand will, dass sein Bruder stirbt. Auch wenn er als Märtyrer gegangen ist.“
Ihre Stimme ist dabei von Mitleid gefärbt, auch wenn ich einige Untertöne der Sorge herauszuhören meine. Ich lächle schwach und nicke ihr zum Abschied zu, als sie den Raum verlässt und die Tür leise schließt – ich schaffe es einfach nicht mehr, den Mund zu öffnen und noch etwas zu sagen. Ich habe heute bereits zu viel gesagt, zu viel erzählt, zu viel von der Wundertat meines heiligen Bruders berichtet.
Jeder Heilige braucht Zeugen, jeder Messias seine Jünger, denn ohne Anhänger ist er nichts weiter als ein Schwätzer, ein Verrückter oder ein Terrorist. Jemand muss die Legende seines Lebens schreiben. Jemand muss den anderen von seinen großen Taten, seinen Lehren und Wundern berichten. Aber niemand kümmert sich um die Hinterbliebenen, die die Scherben eines dem Heiligen geopferten Lebens aufheben müssen, die sich daran schneiden und ihr eigenes Leben zum Wohle großen Anverwandten aufgeben. Man wird Nachlassverwalter einer Legende, dazu verdammt, von der Geschichte vergessen zu werden, oder, – schlimmer noch – als bloße Randfigur Erwähnung zu finden. Aber ich bin undankbar, denke ich, während meine Augenlider immer schwerer werden. Immerhin hat mir mein Bruder das Leben gerettet, und das so vieler anderer Menschen – Sankt Anthropophagus, der Schutzheilige der Kannibalen, der sich selbst den hungrigen Mäulern seiner Mitmenschen geopfert hat. Der seinen Leib den Leibern der Menschen hingab.
Langsam dämmere ich in einen angehmes Schlummern und die düsteren Gedanken verschwinden, machen Erinnerungen an gute Tage Platz; an Kindertage, voller Lachen und Freude. Die sorgsam unterdrückte Trauer kommt langsam nach oben. Sickert in die Erinnerungen und färbt sie traurig-blau. Melancholie greift nach dem vernarbten Herz in meiner Brust, während die Träume kommen, denen ich schutzlos ausgeliefert bin.
Ich sehe meinen Bruder an seinem letzten Abend, so wie die Polizei es mir berichtet hat. Ich sehe, wie er vor der Klinik hält und die Hände tief in die Taschen seines Mantels vergräbt. Darin herumwühlt, während er die hellerleuchtete Auffahrt zum Eingang der Notaufnahme überquert und durch die automatischen Türen das klinisch weiße Foyer betritt. Er beachtet die Wartebänke und die Desinfektionsmittelspender nicht, ebensowenig den fahlen Geruch nach Plastik, Chemie und Krankheit und kommt vor dem Tresen der Nachtschwester zum Stehen. Er lächelt die aufschauende Frau freundlich an und holt aus seinen Manteltaschen ein Tablettenröhrchen hervor. Er stellt es auf den Tresen, damit die Schwester das Etikett lesen kann, dann lässt er den Deckel aufschnappen, setzt das Rörchen an die geöffneten Lippen und lässt die Tabletten in den weit geöffneten Rachen fallen – so wie andere einen Drink auf ex nehmen: hastig, mit dem Kopf im Nacken.
Entgeistert springt die Schwester auf, und sinkt einen Moment später entgeistert auf ihren Stuhl zurück, als mein Bruder eine Pistole aus der anderen Tasche zieht und auf die Frau richtet. Er legt das geleerte Rörchen auf die Tischplatte und holt eine Tube Sekundenkleber hervor, die er mit den Zähnen öffnet, um dann das klare Gel auf den Zähnen und Lippen zu verteilen, und sie danach fest aufeinander zu pressen – damit man ihm nicht den Magen auspumpen kann. Tränen treten ihm dabei in die Augen, während die Pistole in seiner Hand zu zittern beginnt. Er läst die leere Tube fallen und reicht der totenbleichen Frau einen Zettel. Sie nimmt ihn zögerlich entgegen und fängt an zu lesen. Dabei werden ihre Augen mit jeder Zeile größer und ihre Miene immer fassungsloser. Als sie die kurze Nachricht gelesen hat, schaut sie auf und sieht noch, wie die Beine meines Bruders unter ihm nachgeben und er mit verdrehten Augen zu Boden sinkt. Die Pistole fällt mit dem hohlen Klappern von Plastik neben ihn.
Die Polizei hat mir den Inhalt der Nachricht mitgeteilt, deshalb will ich der unbeweglichen Frau in meinem Traum zurufen, was sie zu tun hat. Aber sie hört mich nicht, ich bin machtlos im eigenen Traum, zum bloßen Beobachten verdammt.
Auf dem Zettel steht, dass mein Bruder eine Überdosis des zentral wirksamen Muskelrelaxans Tizanidin genommen hat, das bereits dabei ist, seine Skelettmuskulatur sowie seine Lungen und sein Herz zu lähmen. Sobald er zusammenbreche, solle die Schwester den diensthabenden Arzt ausrufen, alles weitere würde dieser erledigen.
In der Logik des Traums schwebe ich plötzlich im Operationssaal, mein Bruder liegt unter mir, blutüberströmt auf dem blutbeschmutzten Stahltisch. Dr Erlenfeldt, der angeforderte Arzt, entnimmt gerade die letzten Organe und reicht sie eilig, aber umsichtig und mit geübten Bewegungen an eine Schwester, die sie in bereitstehende Boxen gibt und sie rasch aus dem Saal schafft. Ein monotoner Piepton quält die Stille. Endlich legt der Chirurg das Besteck zur Seite und bittet einen der Assistenten, den eine gerade Linie zeigenden Herzmonior und die Lungenmaschine abzuschalten. Schwer stützt er sich auf dem Tisch ab und schaut in die ausgeschlachteten Überreste meines Bruders. Schlaglichtartig sehe ich die Wege aller entnommenen Organe. Die Nieren, die Milz, die Gallenblase, die Lungen, die Augen, das Knochenmark, die Haut. Sehe die dankbaren Totgeweihten, die ein zweites Leben erhalten. Sehe auch mich und das letzte Geschenk meines Bruders. Sehe mich selbst, blass und dürr im Krankenbett, ein externer Herzschrittmacher verkabelt an meine Brust. Das Herz meines Bruder schwebt sanft und rosig leuchtend herbei und versinkt in mir, erfüllt mich mit seinem lebensspendenden Leuchten.
Wie oft habe ich diesen Traum bereits erlebt?

Mein Gesicht ist tränenfeucht, als ich die Augen aufschlage und zusehe, wie Frau Bader die Vorhänge von den Fenstern zieht. Sie tut mir den Gefallen, nicht auf mein nasses Gesicht einzugehen und stellt mir ein Tablett mit Essen auf den Nachttisch. Hungrig stürze ich mich darauf und bitte sie danach, mir meinen grauen Anzug herauszulegen. Heute wird das Urteil gesprochen, und ich möchte anwesend sein. Dr Erlenfeldt wird aufgrund des belastenden Materials in allen Punkten schuldig gesprochen. Mein Bruder hatte Terrabyte von Kinderpornos auf dessen Laptop gefunden, ebenso wie Videos, die den Arzt mit kleinen Kindern während abscheulicher Tätigkeiten zeigten.
Das war sein Druckmittel gewesen, um den Arzt zu zwingen, ihm alle Organe zu entnehmen und sie ausgewählten Menschen zu geben. Allerdings hatte mein Bruder der Polizei am Abend seines Todes diese Daten zugespielt, er konnte so jemanden nicht ungestraft entkommen lassen.
Im Anschluss gebe ich ein weiteres wohl bezahltes Interview mit dem Gerichtsgebäude im Hintergrund. Ich muss die Schulden meines Bruders abbezahlen, weshalb ich ihn und seine Geschichte verkaufe.
Er hat vor seinem Tod Kredite aufgenommen – und welche Bank würde diese einem wohlsituierten Psychiater verweigern? - um die Verantwortlichen bei der Zuweisung der Organempfänger zu bestechen, um ausgewählten Menschen ein zweites Leben geben zu können.
Einer der jüngeren, aufgeweckteren Reporter stellt eine ungewöhnliche Frage.
„Glauben sie, dass ihr Bruder nun seinen Frieden gefunden hat?“
„Er hat das getan, was er immer wollte“, antworte ich.
„Die Welt zu einem besseren Ort machen, das war sein größter Wunsch.“ Deshalb ist er Psychiater geworden, um andere retten zu können. Hat sein gesamtes Wissen, seine ganze Liebe, seine ganze Kraft hineingegeben – aber es hat nicht gereicht. Und wenn man nichts mehr geben kann, um die Welt besser zu machen, kann man nur noch sich selbst geben. Das hat mein Bruder getan, und so zumindest eine Handvoll gerettet. Hat aus den Geretteten eine Gemeinschaft gemacht, die durch ihn selbst, durch seinen Körper verbunden wird. Durch uns lebt er weiter.
Versonnen streiche ich über die Brust, während ich mich den weiteren Fragen der Reporter stelle und mich frage, was ich mit meinem Leben jetzt anstellen soll.

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The Four Horsemen

Der Nebel war so dicht, dass Merrel kaum seine eigenen Hände erkennen konnte. Einzig das Schnauben der Pferde und das metallische Rauschen gaben ihm Orientierung.
„Wie oft willst du dein Schwert eigentlich noch schleifen, Desmond?“, fragte Robar. „Du hast wohl unseren Auftrag nicht so ganz verstanden.“
„Ach, Feuer ist für Feiglinge. Ich könnte den Boden komplett mit Blut tränken, bevor mich einer von ihnen auch nur berühren würde.“, erwiderte Desmond.
„Was du aber nicht tun wirst.“, brummte Alester. „Wir halten uns an den Plan. Merrel, hör auf durch die Gegend zu stolpern und komm her!“
Merrel tastete sich langsam vor, bis er die schattigen Umrisse in roter Rüstung erkennen konnte. Desmond und sein Knappe Edric saßen auf einem Holzstamm, rechts von ihnen kauerte der ergraute Alester, während Robar neben ihm auf und ab stapfte.
„Wieso hast du überhaupt das Kind mit dir geschleppt, wenn du im Endeffekt eh alle seine Aufgaben selbst übernimmst?“, prangerte Robar an.
„Ich bin kein Kind, Sir!“, protestierte Edric.
„Und er ist kein Sir, Edric.“, spottete Desmond. „Jedenfalls nicht mehr. Jetzt hat er die glorreiche Aufgabe, sich um die Pferde am Hof zu kümmern.“, führte er laut lachend fort.
„Genug!“, entgegnete Alester. „Wir hocken seit zwei Tagen frierend im Wald und müssen auf Feuer verzichten, damit man uns nicht entdeckt. Wollt ihr zwei Idioten die Yorks mit eurem kindischen Verhalten etwa direkt zu uns führen?“
„An die Kälte hast du dich während deiner Zeit im Kerker doch sicher mehr als gewöhnt.“, zischte Robar und trabte davon.
Es kehrte Stille ein.
Merrel lies sich auf dem Boden nieder und betrachtete seine verbliebenen drei Begleiter.
Desmonds langes, braunes Haar konnte das Lächeln, welches er immer noch auf den Lippen trug, nicht verstecken. Ebenso wenig bedeckte es die zahlreichen Narben in seinem Gesicht, welche er mit Stolz trug. Desmond warf einen letzten prüfenden Blick auf seine Schwert und drückte es dem jungen Edric in die Hand. Zitternd nahm der blonde Knappe das Schwert entgegen.
Edric bereitete Merrel Sorgen. Die Kälte machte dem Knappen sichtlich zu schaffen, auch wenn er es nicht zugeben würde. Am ersten Abend hörte Merrel ein stetiges Wimmern aus Desmonds Zelt, welches eindeutig vom jungen Blondschopf kam. Zumindest bin ich nicht der Einzige, der Nachts nicht schlafen kann, dachte Merrel. Auch am zweiten Abend konnte Edric die von der Kälte ausgehenden Schmerzen nicht unterdrücken. Als die klagenden Laute des Jungen grade verstummt waren und Merrel sicher war, dass dieser endlich Schlaf gefunden hatte, schien das Gegenteil der Fall zu sein. Denn die kurzzeitige Stille wurde durch das Traben eines Pferdes unterbrochen. Merrel stürmte aus seinem Zelt, aber von Edric schien keine Spur mehr zu sein. Er entschied sich dazu, die Anderen nicht aufzuwecken, denn Desmond und Alester waren nicht gut auf Deserteure zu sprechen, egal wie jung sie waren.
Umso froher war Merrel, dass Edric seine Meinung doch noch geändert hat und vor Sonnenaufgang wieder zurückkehrte. Wie der zitternde Junge jedoch nicht vom Pferd gefallen ist und so still eines der Reittiere stehlen konnte, verstehe ich immer noch nicht, dachte er.
Zu Merrels Rechten hockte Alester, der nachdenklich in den immer noch vom Nebel verborgenen Himmel starrte. Sein dichter Bart machte es schwer, den Ausdruck seines Gesichts zu deuten, aber der alte Mann schien besorgt zu sein. Alester war lange Jahre der Berater von König Henry gewesen, doch als der Krieg ausbrach und Alester ihm davon abriet, sich auf eine Belagerung einzulassen, fiel er in Ungnade. König Henry war davon überzeugt, dass die Festung, welche seine Vorfahren erbaut hatten, allem standhalten könne. Kurze Zeit später warf er Alester in den Kerker, da dieser versucht hatte, den Rat zu überzeugen, in eine offene Schlacht zu ziehen. Obwohl der Rat seine Meinung teilte, traute sich keiner, dem König zu widersprechen. Sie sahen sich sogar dazu verpflichtet, Henry umgehend von Alesters Bemühungen in Kenntnis zu setzen. Merrel konnte sich noch genau daran erinnern, wie die Wachen Alester aus dem Thronsaal zerrten.
Stillschweigend wandte Alester seinen Blick vom Himmel ab und richtete ihn in die Tiefen des vom Nebel umgebenen Waldes.
„Wir haben keine andere Wahl, wir müssen aufbrechen. Die Belagerung der Yorks rückt immer näher, wir können nicht noch einen Tag warten, bis dieser verdammte Nebel verschwunden ist.“, sagte Alester.
„Du bist zwar nicht mehr der Jüngste, aber sehnst du dich so sehr nach dem Tod, alter Mann? Wir können kaum so weit sehen, wie wir pissen können und sollen unter den Bedingungen in ihr Lager einreiten?“, antwortete Desmond.
„Was auf dem ersten Blick wie ein Nachteil aussieht, können wir aber auch zu unserem Vorteil nutzen. Der Nebel gibt uns Schutz. Wenn wir mit den Pferden leise auf ihr Lager zu traben, bemerken sie uns erst, wenn es zu spät ist.“, entgegnete Merrel.
„Ich ziehe einen Angriff bei klarer Sicht jeder Zeit vor. Ich muss mich nicht hinter Nebelwänden verstecken, um ein paar Dutzend dieser elendigen Yorks abzuschlachten.“, sagte Desmond aufgebracht.
„Es ist auch nicht unser Ziel, Yorks abzuschlachten, sondern Feuer zu legen. Wir wollen ihre Nahrungsvorräte vernichten, ihre Pferde aufschrecken, ihre Tauben verbrennen. Unsere Aufgabe ist es, Chaos zu verbreiten.“, machte Alester deutlich.
„Richtig, richtig…“, Robar, der ihr Gespräch zu belauschen schien, trat an die Gruppe heran. „Und wie sollen wir diesem Chaos wieder entkommen? Sobald die Truppen das Feuer bemerken, strömen tausende Soldaten aus ihren Zelten. Unmöglich, dass wir mit unseren Pferden unbeschadet fliehen können. Habt ihr schon mal überlegt, wieso unser guter König grade uns auf diese Mission geschickt hat?“
Erneute Stille machte sich breit.
Merrel wusste, dass sein Vater und König Henry nie das beste Verhältnis hatten, was ihn Henry auch regelmäßig spüren lies. Aber will er mich deswegen in meinen sicheren Tod schicken?, fragte sich Merrel.
„Ach, Robar. Wir müssen doch eh alle sterben, was für einen Unterschied macht das also schon? Außerdem tragen wir nicht umsonst diese furchtbaren Fummel.“, Desmond klopfte gegen den rot-schwarzen Brustpanzer seiner Rüstung. _„Mit diesen fallen wir unter der Meute gar nicht mehr auf, sobald erst mal Unruhe ausgebrochen ist. Und falls doch, dann nehmen wir so viele von diesen Bastarden mit ins Grab wie möglich. Keine Sorge, ich halte dir auch den Rücken frei, falls du vor lauter Zittern dein Schwert nicht mehr halten kannst.“, scherzte Desmond. _
„Pah, deine Hilfe brauche ich nicht! Ich kann dir versichern, ich werde heute Nacht nicht sterben und wenn ich Henry das nächste Mal sehe, dann hole ich mir meine Rache!“, sagte Robar erbost und machte sich auf den Weg zu den Pferden, um diese zu Satteln.
Nach diesen Worten machte sich ein Gefühl von Unbehagen in Merrel breit.
Robar hasste den König seit dem Tag, als er sich an seiner Frau vergriff und ihn aus der Stadtwache entlassen hat, nachdem er Henry konfrontierte. Normalerweise hätte Robar für sein aufmüpfiges Verhalten eine Hand oder sogar seinen Kopf verloren, denn Henry nahm sich, was auch immer er wollte. Aber der König sah eine erniedrigendere Strafe darin, ihn zu einem Stallarbeiter zu machen.

„Na gut, alter Mann. Dann ziehen wir wohl tatsächlich durch den Nebel. Pass aber auf, dass du nicht vom Pferd fällst und dir deine Hüfte brichst. Falls es dazu kommt, bin ich nicht weit, um dich von deinen Qualen zu erlösen“, gab Desmond grinsend von sich und schritt durch den Nebel. „Eric, pack unser Zeug zusammen und lade es auf die Pferde.“
Der blonde Knappe spurtete hektisch ins Zelt, sodass nur noch Merrel und Alester zurückblieben.
„Es ist schon schade.“, brachte Alester nach einem Moment der Stille hervor. „Die letzten Wochen habe ich in einem finsteren Loch unter dem Schloss verbracht und an meinem vielleicht letzten Tag auf diesem gottlosen Planeten ist es zu nebelig, um den Himmel zu sehen.“ Dies schien ihn traurig zu machen. „Robar mag zwar ein Idiot sein, aber ganz unrecht hat er nicht, Merrel. König Henry hat mich auf diese Mission geschickt, um meine Taten wieder gut zu machen. Gleiches gilt für Robar. Aber das ist einfach nicht Henrys Art… Falls es zu gefährlich wird, dann mach dass du aus dem Lager der Yorks rauskommst. Ohne Rücksicht auf uns.“, Alester erhob sich, „Und falls du es nicht schaffst… Dann schau zumindest noch einmal in den Himmel. Das wird nämlich der letzte Moment voller Stille sein.“, sagte er und verschwand im Nebel.
Obwohl Merrel schon einige Schlachten hinter sich hatte, verschwand die Anspannung nie. Diesmal war sie aber besonders groß. Jede Sekunde kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Robar, Alester und Merrel saßen schweigend auf ihren Pferden am Rande des Waldes, während Desmond Eric die letzten Anweisungen gab.
„Halt dich bedeckt hinter den Bäumen. Sobald du Feuer aufsteigen siehst und die Soldaten ans andere Ende ihres Lagers eilen, um die Flammen zu löschen , reitest du los und entzündest so viele Zelte wie möglich. Danach machst du dich so schnell wie möglich auf den Weg zurück zum Schloss und erstattest Bericht, verstanden?“
Eric brachte nur ein abwesendes Nicken hervor. Dies schien Desmond zu genügen. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter, drückte ihm eine Fackel in die Hand und stieg auf sein Pferd.
Die vier Reiter verließen den Schutz des Waldes und trabten durch den Nebel. Es dauerte nicht lange, bis sie die Lichter des Lagers erblicken.
Alester, Desmond, Merrel und Robar brachten ihre Pferde zum Stehen. Sie warfen sich einen letzten Blick zu, als Desmond begann, eine Fackeln nach der Anderen zu entflammen.
Als Alester grade das Zeichen zum Galopp geben wollte, schien das Lager der Yorks plötzlich in eine Wand aus Flammen gehüllt zu sein.
„Was zum…“, brachte Alester hervor, als Robar plötzlich im Galopp auf das Lager zu ritt.
„Dieser Scheißkerl wird uns noch umbringen!“, schrie Desmond, als sich die Flammen zischend in den Himmel bewegten.
„Nein…“, sagte Merrel nachdem er Robars Fackel neben sich auf dem Boden bemerkte, „Er hat uns bereits umgebracht.“
Sekunden später prasselte die Hölle auf die drei Reiter ein. Brennende Pfeile schlugen in den kalten Boden. Desmonds Pferd wieherte, bäumte sich auf und begrub ihn unter sich. Bevor Merrel reagieren konnte, bohrte sich heißes Eisen durch seine Beine und er ging schreiend zu Boden. Sein Pferd versuchte zu fliehen, brach aber nach wenigen Metern zusammen.
Scheiße, scheiße, scheiße, klare Gedanken konnte Merrel nicht fassen. Er blickte zu seiner Linken und sah den röchelnden Desmond der unter seinem Pferd hervorragte. Zu seiner Rechten lag Alester, dessen Kopf und Körper von Pfeilen durchbohrt war.
Da wurde es ihm plötzlich klar. Es war nicht Edric, der in der Nacht davon geritten ist, es war Robar… Er hat uns verraten.
Panisch versuchte Merrel, sich aufzurichten, doch seine Beine waren taub. Er zerrte sich ein paar Meter über den feuchten Boden, bevor er erschöpft auf seinen Rücken fiel. Desmonds Röcheln wurde leiser. Ein Zischen ertönte. Er blickte in den rot leuchtenden Himmel. Es wirkte fast so, als würden die Sterne auf ihn zukommen. Stille.

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Auf der Flucht

Tag 9

Nachdem ich Nordgram verließ, bin ich Richtung Norden gegangen, so wie es meine Quellen vorgeschlagen hatten. Die Sonne scheint unverändert auf die kahle Erde. Im Osten erstreckt sich eine Bergkette, im Westen liegt eine schier endlose, gelb-bräunlich schimmernde Ebene, und vor mir erhebt sich das Land stetig. Grünliche Flecken scheinen über dem Horizont zu tanzen. Ich hoffe in den höheren Lagen wird es etwas kälter.

Tag 14

Ich konnte heute meine Gasmaske abnehmen, nachdem ich einen Vogel gesehen hatte. Er flog nach Norden. Ich denke in den höheren Regionen erholt sich die Atmosphäre langsam. Noch ist das Wetter unverändert, aber die Vegetation ist mittlerweile deutlich zu erkennen. Ich bin auf dem richtigen Weg.

Tag 17

Ich habe den Wald erreicht. Zunächst wirkte er eher wie eine Ansammlung kränklicher Pflanzen, aber er scheint großflächig ein Gebiet entlang des Gebirges zurückerobert zu haben. Seit dem Vogel habe ich keine anderen Tiere gesehen.

Tag 21

Ich habe mehrere Vögel und endlich auch die ersten menschlichen Lebenszeichen entdeckt. Jemand hat Holz geschlagen und nach Osten, zum Gebirge, transportiert. Ich werde den Spuren folgen, meine Wasser- und Nahrungsmittelvorräte sollten noch eine Weile reichen.

Tag 23

In der Nacht habe ich das Lager ausgespäht. Ich schätze es sind etwa 20 bis 30 Leute, die überraschend gut ausgerüstet sind. Viele tragen Waffen, sie hatten sogar Wachposten aufgestellt. Sie erinnern an Gardisten oder Reservisten. Ihr Lager befindet sich vor einer riesigen Metalltür, die in das Felsmassiv eingelassen ist. Vielleicht ein Bunker aus der Vorzeit. Jedenfalls sieht es nicht so aus als würden sie lange hier bleiben. Ich bin zurück auf dem Weg nach Norden.

Tag 25

Heute Nacht hat mich ein unmenschliches Heulen geweckt. Es war weit entfernt, trotzdem konnte ich schwer wieder einschlafen. Die Stille ist nachts besonders erdrückend.

Tag 27

Ich habe sie gefunden. Sie haben eine Art Dorf inmitten einer Waldlichtung errichtet. In der Mitte liegen Felder mit verschiedensten Pflanzen, davon konnte ich nur die Tomaten erkennen. Im Kreis herum sind sieben eigentümliche Holzhütten aufgestellt, keine sieht aus wie die andere. Ich habe nur zehn Leute gezählt, und diese wirken eher harmlos. Ich frage mich was sie während der Flut machen. Es wird Zeit mich vorzustellen.

Tag 29

Sie sind doch adäquat bewaffnet. Sobald mich die ersten gesehen hatten, haben sie Alarm geschlagen und mich schnell überwältigt. Sie fesselten mich und in eine der Hütten festgebunden. Die Hütten wirken von Innen viel robuster, aber der Boden ist nur nackte Erde. Sie haben mich ausgefragt, mein Tagebuch gelesen und untereinander diskutiert.

Vielleicht trauen sie mir noch nicht ganz, aber wie es aussieht können sie sich Neuzugängen nicht ganz verschließen. Die bewaffnete Gruppe, die ich beobachtet hatte, hat sie deutlich verunsichert. Jedenfalls bin ich jetzt provisorisches Mitglied der Kommune.

Tag 30

David ist praktisch der Anführer der Gruppe, obwohl sie offiziell keine Regeln oder Gesetze befolgen. Er ist deutlich älter als der Rest, sehr ruhig und vertrauensvoll. Er ist Begründer der Gemeinschaft und kennt sich am besten mit der Landwirtschaft (die frischen Tomaten hier schmecken besser als alles was es in den Tunneln gibt) und der Holzverarbeitung aus. Er hat mir verraten, dass sie mehrmals im Jahr nach Nordgram gehen, um Teile ihrer Ernte zu verkaufen und sich mit billigeren Konserven und anderen Artikeln einzudecken. Ich sagte ihm sie sollten in Zukunft vorsichtiger sein. Wenn ich sie finden konnte, werden früher oder später andere folgen.

Es soll im Wald auch Tiere geben (sogar Wölfe), aber laut David sollten sich die Bestände erst einmal erholen, bevor sie auf die Jagd gehen. Er will dass die Natur eine Chance hat, weswegen er auch nur wenige Leute aus den Tunneln geholt hat.

Morgen werden sie mir den Fluss zeigen, wo sie täglich Wasser holen.

Tag 31

Anna und ihr Bruder Peter haben mich zum Fluss geführt. Mit jedem Schritt schien der Wald dichter und voller zu werden, bis wir auf einen spiegelglatten See gestoßen sind. Er ist umgeben von dichtem Schilf und seltsamen Bäumen, deren Stämme sich in viele dünnere Glieder unterteilen, die sie über das Wasser zu tragen scheinen. Peter, der in etwa so alt ist wie ich, hat erklärt, dass nach der Flut das Gebiet um den See komplett unter Wasser steht, deswegen hätten sie sich weiter weg angesiedelt, an einem Platz, wo das Wasser besser abfließen kann. Trotzdem können sie während der Flut nicht dort bleiben und ziehen in eine Höhle, die sich weiter nordöstlich vom See befindet. Danach müssen sie ihr Dorf teilweise neu aufbauen. Trotzdem finden sie ihr Leben hier weitaus besser als in den Tunneln. Laut David könnten sie vielleicht eines Tages ihr Dorf überdachen und Kanäle für das Wasser errichten. Ich werde ihm Baumhäuser vorschlagen und ihm sagen, dass ich ganz gut mit Holz umgehen kann.

Wir haben am Fluss (eher ein Bach) Wasser geholt, und auf dem Rückweg haben mir die Beiden mehr über ihre Gruppe erzählt. Insgesamt sind es 16 Leute, und ich sei der erste der neu dazugestoßen ist. Vor fünf Jahren hat David den Fluss gefunden und hat dann in den Tunneln eine kleine Gruppe von Freunden und bekannten organisiert. Es sind 4 Paare mit 3 Kindern, 3 alleinstehende Männer und 2 Frauen. Ich habe gefragt, ob sie jemanden zurückgelassen haben. David sei vorsichtig gewesen, er habe darauf geachtet niemanden mitzunehmen, der vermisst werden könnte. Nur Michael habe noch Familie, aber er wisse schon lange nicht mehr wo sein Bruder ist. Ich habe ihnen gesagt, dass ich keine Familie mehr habe, sonst hätte ich mich nie alleine auf den Weg gemacht. Sie haben mir noch mehr über die Anderen erzählt, vielleicht werde ich später eine Zusammenfassung aufschreiben.

Tag 32

Ich habe Michael und seine Frau Emma bei der Feldarbeit kennengelernt. Er war einst Mechaniker bei den Gardisten, aber mehr wollte er über sein altes Leben nicht erzählen. Da sie hier nicht allzu viel Technik haben, kann er sich mit den einfachen Arbeiten begnügen. Er und seine Frau lesen gerne, aber seit dem letzten Besuch in Nordgram hätten sie alle Bücher schon durchgelesen. Leider habe ich nur ein einziges Buch dabei, und mein Tagebuch hatten sie natürlich während meiner kurzen Gefangenschaft schon gelesen. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass einer von ihnen Geschichten für den anderen schreiben könnte, wenn sie gerade nichts zum Lesen haben, aber natürlich mangelt es ihnen auch an Papier und Tinte. Ich habe ihnen prompt etwas von meinem Vorrat überlassen.

Alle hier kennen sich intim und behandeln sich wie eine große Familie, selbst mir gegenüber sind sie nach so kurzer Zeit viel aufgeschlossener geworden. Am Abend habe ich gesehen womit sie sich die Zeit vertreiben – Musik auf rostigen Instrumenten spielen, tanzen, Karten, Schach und andere Gelegenheitsspiele spielen. Ich habe mit Nori um zehn Blatt Papier gespielt, nachdem sie gehört hatte, dass ich Emma welche gegeben hatte. Natürlich habe ich gewonnen, aber ihr das Papier trotzdem gegeben. Sie braucht es für den Schreibunterricht der Kinder.

David hat für morgen früh eine Versammlung angekündigt. Er will über die Gruppe von Söldnern beraten.

Tag 33

Meine Meinung ist, dass die Söldner das Land entlang des Gebirges erkunden oder vielleicht sogar kartographieren sollen, obwohl ich noch nicht von solchen Missionen gehört hatte. Jedenfalls ist es sehr wahrscheinlich, dass sie den See finden, und David teilt meine Meinung mit Besorgnis. Angesichts ihrer Ausrüstung halte ich einen Angriff für wenig aussichtsreich, aber eine Flucht ist auch keine besonders gute Option. Ich habe vorgeschlagen, dass wir die Bewegung der Söldner auskundschaften sollten. David hat sich sofort freiwillig gemeldet, aber ich habe Michael gefragt, weil ich mit ihm gut klarkomme, und er etwas agiler unterwegs sein sollte. Auf gar keinen Fall dürfen wir erwischt werden. Übermorgen soll es losgehen.

Heute habe ich David, und einigen Anderen, die für den Bau der Hütten verantwortlich sind, meine Idee von den Baumhäusern erzählt, und einige Pläne gezeichnet. Sie waren sichtlich beeindruckt, nur fehlt es an einigen Werkzeugen. Nach dem nächsten Besuch in Nordgram werden wir die Pläne wieder aufgreifen. Ich habe mich danach zurückgelehnt (noch kann ich es mir als Neuling erlauben), und mich mit unterschiedlichen Leuten unterhalten. Die Kinder können sich kaum an das Leben in den Tunneln erinnern. Das allein macht die Mühen wieder wett.

Tag 34

Wir waren mit Michael Wasser für die Reise holen. Anna und Peter (die zwei haben diese Woche Wasserdienst) gingen uns ein Stück voraus. Ich habe Michael ausgefragt, und er hat mir etwas mehr über seine Zeit bei den Gardisten erzählt. Dort hat er Emma kennengelernt, als sie ihren Vater festgenommen haben. Ich denke er wurde hingerichtet, obwohl Michael es nicht bestätigen wollte. Es ist erstaunlich wie die beiden eine Beziehung aufbauen konnten. Michael hasst sein damaliges Leben, und dass er für die Gardisten gearbeitet hat. Er wünscht sich ein Kind mit Emma, aber er will warten bis die Medizinvorräte wieder aufgestockt sind. Das Dorf ist hier nicht nur von der Flut geprägt, sondern auch noch einseitig von Nordgram abhängig. Es ist allen hier bewusst, aber sie versuchen es zu verdrängen, und erwähnen Nordgram immer nur beiläufig, so wie das tagtägliche Holen des Wassers.
Ich habe Michael auch über seinen Bruder ausgefragt. Das letzte was er von ihm wusste, ist dass Andreas in einen Konvoi nach Osten gestiegen ist. Über die Umstände ihrer Trennung wollte er immer noch nicht sprechen. Andreas könnte heute überall sein.

Die Anderen haben Proviant für uns vorbereitet, ich habe meine Sachen gerade gepackt. Morgen früh brechen wir auf, wir sollten höchstens eine Woche unterwegs sein.

Tag 35

Wir sind Richtung Süden gegangen, und haben Ausschau nach Spuren gehalten. Ich habe Michael nochmals erzählt, was ich letztes Mal gesehen hatte. Wir sind diesmal schweigsam unterwegs, Michael ist merklich angespannt. Heute Nacht werden wir abwechselnd Wache halten.

Tag 36

Noch keine Spuren gefunden. Wir haben ausgemacht, dass wir so lange gehen, bis wir die Metalltür wiederfinden, und dann nach Norden umdrehen und dem Berg folgen, falls die Söldner nicht da sind. Heute haben wir uns etwas mehr unterhalten, ich habe Michael mehr über mein Leben in den Tunneln erzählt.

Tag 37

Ich denke es ist nichts mehr aus ihm herauszuholen. Ich hatte heute die letzte Wache, und kurz vor Sonnenuntergang habe ich Ben erdrosselt. In zwei Wochen sollte ich in Nordgram ankommen, dann werde ich seinen Kopf zusammen mit den wenigen Informationen über Andreas übergeben. Wahrscheinlich werden sie mich nach Osten schicken. Ich werde zusehen, dass ich meine Informationen über das Land irgendwo verkaufen kann. Allerdings werde ich nichts über das Dorf, oder das Wasser verraten. Hoffentlich werden sie nicht von den Söldnern entdeckt. Vielleicht werde ich der Sache mit den Söldnern auch selber nachgehen. Es ist noch zu früh, das Land wiederzuerobern.

Ich weiß nicht wie oft sie mein Tagebuch gelesen haben, aber ich denke es hat sich einmal mehr bewährt.

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Auf der anderen Seite

Sie wachte auf, öffnete die Augen aber erst einige Zeit später. Zumindest glaubte sie, dass ihre Augen offen waren, denn zu sehen gab es nichts. Egal wie oft sie blinzelte, ihre Umgebung blieb schwarz. Obwohl sie wusste, dass die nicht weichende Dunkelheit ihr Angst machen sollte, schlug weder ihr Herz schneller, noch verfiel sie in Panik. Um genau zusein, spürte sie gar nichts. Zumindest keine Emotionen. Denn als sie ihre Beine über den Rand des Bettes hinaus streckte um den Boden zu ertasten, zog sich ein stechender Schmerz von ihren Zehen bis in ihre Hüfte hoch. Es fühlte sich an, als ob sie ihre Beine seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt hätte und die Schmerzen motivierten sie nicht gerade das zu ändern. Trotzdem zwang sie sich aufzustehen, denn sie musste wissen wo sie war. Die Hände vor ihren Körper haltend, die sich genau wie ihre Beine nur wie ein rostiges Fahrrad bewegen ließen, tappste sie mit kleinen Schritten durch den Raum. An der Wand angelangt, ging sie nach links weiter, ihre Rechte immer an der Wand haltend. Nach ein paar Schritten hatte sie fünf Ecken gezählt und blieb stehen. Ihr war weder eine Tür, noch das Bett noch ein Lichtschalter begegnet, noch oder ein Hinweis der ihr verriet, wo sie sich befand. Seufzend löste sie ihre Hand von der Wand und suchte mit schmerzenden Tippelschritten den Weg zum Bett. Schlafen schien ihr der Ausweg aus dieser Situation zu sein. Ihre Arme und Beine schrien förmlich nach dem Bett, so konnte sie sich eh keine Gedanken machen, wie sie diese Situation einordnen sollte. Da das Zimmer sehr klein war, fand sie das Bett schnell wieder und ließ sich auf das Laken fallen, rollte sich zusammen und schlief wieder ein.
Nach einer unbestimmten Zeit, die lediglich eine Minute oder fünf Jahre hätte sein können, wachte sie auf. Etwas im Zimmer hatte sich verändert. Die Dunkelheit war… noch dunkler geworden. Fast greifbar. Sie war jetzt noch schwerfälliger, noch träger und konnte sich nicht mal dazu bewegen, den Kopf zu heben, an aufstehen war erst recht nicht zu denken. Sie hatte das Gefühl, die Dunkelheit ersticke sie langsam. Ihre Kehle schnürte sich zu und langsam kroch ihr Panik vom Bauch in den ganzen Körper. Ihre Atmung wurde flacher, als ob ein Stein ihr die Luft aus der Brust presste. Ein Stein, der von Atemzug zu Atemzug schwerer wurde. Ohne Erbarmen. Während ihr Körper versagte, überschlugen sich ihre Gedanken, ohne dass sie ein klares Ziel fassen konnte. Ihr Kopf Schlug hin und her. Sie wusste dass sie starb. Allein mit ihrer Panik. Allein mit all ihren Ängsten. Allein mit ihren Hoffnungen. Allein im Dunkeln, unbemerkt ohne dass es jemals jemand merken würde. Sie würde für immer in diesem Zimmer liegen und verrotten. Über diese Verzweiflung hinweg wünschte sie sich zu sterben. Möglichst schnell. Einfach sterben. Nur damit dieser Zustand aufhört.
Doch während sie ihre Sinne zu verlassen schienen, bemerkte sie graue Flecken im Zimmer. Diese schrieb sie jedoch ihrem Zustand zu. Erst als sie auch Stimmen hörte, sehr leise nur, fast wie durch ein Kissen gesprochen, konnte sie ihre Panik etwas zügeln. Ihr Zustand verbessert sich sofort. Der Stein verschwand von ihrer Brust, die Angst schien wie vergessen. Die Stimmen wurden lauter und gleichzeitig das Zimmer heller. Sie konnte die glatt verputzten Wände in einem dämmrigen Licht erkennen. Und es stimmte. Dieses Zimmer hatte keine Tür. Obwohl die Wände wie aus solidem Stein wirkten, hörte sie Stimmen, die scheinbar mit ihr sprachen. Sie rief durch die Wände zurück. Diese Leute würden ihr bestimmt hier heraus helfen können. Sie schrie, bis sie heißer wurde, doch egal wie laut sie schrie, die Stimmen von jenseits der Wände änderten nicht ihre Lautstärke. Sie blieben dumpf. Ein Gemurmel aus dem man keine Wörter ausmachen konnte. Lediglich die Stimmlage der Menschen ließ sie erkennen, dass sie wirklich mit ihr redeten. Aber das war ihr auch egal. Allein die Anwesenheit von Menschen hob ihre Stimmung. Sie war also nicht allein. Es gab Hoffnung. Sie würde hier herauskommen.
Doch nach einiger Zeit wurden die Stimmen leiser. Sie schrie, dass sie doch noch bleiben sollen, sie nicht in diesem Zimmer allein lassen könnten. Dass sie ihr helfen mussten. Doch es nützte nichts. Die Stimmen verschwanden und mit ihrem Verschwinden, kam die Dunkelheit wieder. Sie wurde träge und fiel auf das Bett zurück, um zu schlafen. Der Stein kehrte auf ihrer Brust zurück und sie musste mit sich ringen, nicht sofort in Panik auszubrechen. Sie wollte dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Verlorenseins nicht wieder erleben. Doch bevor es dazu kam, waren die Stimmen wieder da, und mit ihnen die Hoffnung auf Rettung. Doch blieben sie auch dieses mal nicht lange. Dieser Wechsel von Dunkelheit und Licht vollzog sich mehrere Male. Die Abstände waren immer unregelmäßig und nie waren die Momente der Stimmen auf der anderen Seite der Wände lang genug für sie. Sie reichten allerdings, damit sie nicht wieder in der Dunkelheit ertrank und von ihrer Panik und ihrem Schmerz überwältigt wurde.
Während die Stimmen bei ihr waren, probierte sie immer mehr aus. Sie schlug gegen die Wände, in der Hoffnung sie würden einstürzen. Sie versuchte mit ihren Fingernägeln ein Loch zu kratzen. Aber sie brachen nur und ließen ihre Finger bluten. Sie brach ein Bein aus dem Bett und versuchte es damit. Aber bis auf ein winziges Loch, in das gerade eine Fingerkuppe passte, erzielte sie keine Ergebnisse.
Sie erwachte zu einer unbestimmten Zeit in der Dunkelheit. Die Stimmen waren lange nicht mehr da gewesen. Wie lange genau, konnte sie nicht sagen. Tage hatten in diesem Raum keine Bedeutung für sie. Nur ihr Gefühl von Panik und Angst diktieren ihre Zeit. Und es war ein späte Zeit, voller Schmerz. Sie auf der Matratze auf dem Boden und versuchte sich an die Zeit zu erinnern, bevor sie in diesem Raum war. Sie war sicher, dass sie nicht immer hier gelebt hatte. Doch so sehr sie es auch versuchte, es gab für sie keine andere Realität. Nichts, woran sie sich erinnern konnte. Nichts was sie mit der Welt außerhalb des Raumes verband. In ihrer Erinnerung gab es nur die vier kahlen Wände des Raumes. Und die Stimmen jenseits des Putzes.
Die Panik wurde schlimmer, der Stein schwerer und die Dunkelheit wieder fest und greifbar. Sie hatte das Gefühl, dass sie dieses Mal durch ihre Nase und ihren Mund in sie eindrang, um sie zu ersticken. Sie war noch verhältnismäßig gelassen. Durch die Zeit die sie im Raum verbracht hatte, war sie es gewohnt mit ihrer Panik und der Todesangst umzugehen. Denn schließlich konnte es jederzeit passieren, dass die Stimmen nicht mehr auftauchten und sie endgültig in der Dunkelheit in Panik und Terror versinken würde. Bei diesem Gedanken wurde ihr kalt. Sie wollte nicht für immer allein sein. Getrennt von allem Leben da draußen. Sie konnte diesen Wechsel zwischen Hoffnung und der blanken Angst der Existenz, dem Terror der Einsamkeit nicht mehr ertragen. Sie wollte aus diesen Wänden heraus, zu den Stimmen. So sehr wie noch nie zuvor.
Sie legte die Hände an ihre Stirn und begann, ihre Schläfen zu drücken. Erst sanft, dann immer fester. Sie drückte mit aller Kraft. Der Druck wurde immer heftiger und der Schmerz ließ sie glauben, ihr Kopf würde platzen. Dennoch drückte sie immer weiter. Immer fester. Sie drückte mit dem Willen, der Dunkelheit und Einsamkeit zu entfliehen. Sie drückte die gesamte Schwärze, die sich durch ihre Nase und Mund in ihren Körper geschlichen hat aus sich heraus. Sie hörte nicht auf und drückte immer weiter.
Ihre Finger versanken in ihrem Kopf und der Raum erstrahlte schlagartig gleißend weiß. So hell wie noch nie zuvor. Sie schien die Dunkelheit aus dem Raum gedrückt zu haben. Das Weiß strahlte immer heller, bis sie nichtmal mehr die Wände erkennen konnte. Der Raum hätte ebensogut noch in Dunkelheit getaucht sein können, sie hätte nicht weniger erkannt. Sie löste die Hände von ihrem Kopf, doch das Licht blieb. Langsam stieg sie aus dem Bett und ging auf die Wand zu. Doch sie konnte keine Wand fühlen. Sie ging weiter und weiter doch traf auf keinen Widerstand. Sie war jetzt schon doppelt so viele Schritte gegangen, wie sie es sonst in dem Raum hätte tun können und sie setzte immer noch einen Fuß vor den anderen. Langsam wurde sie sich bewusst, dass sie es geschafft hatte. Sie war dem Raum entflohen oder besser, der Raum war verschwunden. Sie war frei. Sie hatte gewonnen.

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„Für die Gemeinschaft!“

Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.
Es war ein eiskalter Wintertag, vielleicht sogar der kälteste Tag des Jahres, was mein Leben betrifft, so ist dem definitiv so.
Die Sonne war schon fast komplett vom weit entfernten Firmament verschwunden, das verheißungsvoll dunkel war, einzig erleuchtet durch eine feine Linie am Horizont, die jedoch nicht gegen die bedrückende Finsternis über ihr ankam und von Minute zu Minute immer mehr im Boden zu verschwinden schien. Auch der Mond und die Sterne waren von dicken, schweren Wolken verhüllt und so waren die einzigen Lichtquellen die Taschenlampen, die den Weg vor unseren Füßen erleuchteten und deren Licht vom Schnee, der bei jedem unserer Schritte knirschte, reflektiert wurde.
Der Wind peitschte durch die Straße, die einzige richtige Straße dieses winzigen Ortes, und schleuderte uns seine frostige Kälte ins Gesicht, wobei er so schroff war, dass er den losen Schnee von den Dächern und den Baumwipfeln mit sich riss und es beinahe so wirkte, als würde es schneien.
Obwohl ich, so wie wir alle, einen dicken Mantel, schwere Stiefel, lederne Handschuhe, sowie einen langen Schal und einen großen Hut trug, hatte ich fürchterliche Schmerzen. Der winzige Teil meines Körpers, der nicht bedeckt war, mein Gesicht, schmerzte, als ob jemand tiefe Schnitte mit einer unendlich scharfen Klinge in mein Fleisch schneiden würde. Ich wollte so schnell wie möglich zurück ins Warme.
Eigentlich war unser Zielort gar nicht weit entfernt, jedoch wurden wir durch den beinahe kniehohen Schnee extrem verlangsamt und die schlechte Sicht durch das Wetter und die Finsternis machten die Fortbewegung nicht leichter. Was das Voranschreiten auch nicht vereinfachte, waren die immer wieder in mir aufkommenden Zweifel: War dies tatsächlich die einzige Möglichkeit? Hatten wir wirklich alle anderen Ideen ausgeschöpft? Wäre mir durch mehr Mühe, mehr Nachdenken vielleicht eine bessere Lösung eingefallen? Ist das hier meine Schuld? Wird es meine Schuld werden? Kann ich es verhindern oder besser, soll ich überhaupt versuchen, es zu verhindern? Würde eines Tages eine solche Meute zu meinem Haus kommen, sollte ich einen ähnlichen Fehler begehen?
All diese Fragen ließen mich nicht los. Sie hallten in meinem Kopf wider wie ein Echo in einem Tunnel, das an den Wänden abprallte.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, rief mein Vordermann laut nach hinten gewandt: „Denkt daran, warum wir das machen! Für die Gemeinschaft!“
Wie ein Mantra wiederholten wir seine Worte: „Für die Gemeinschaft!“
Allerdings fühlte sich mein Körper eigenartig fremd und weit entfernt an, als ich diese Worte aussprach, als ob sie jemand ganz anderes gesagt hätte. Trotzdem verfehlten sie ihre Wirkung nicht, in meinem Kopf herrschte für eine Zeit Waffenstillstand. Immer und immer wieder riefen wir diese Worte. Mit jedem Mal fühlte sich das alles realer an, gerechtfertigter. Ich versuchte, so viel Kraft aus diesen Worten zu ziehen, wie möglich.
Nach einiger Zeit, mir kam es vor, als wären mehrere Jahre vergangen, waren wir endlich an unserem Ziel angekommen: ein einzelnes, kleines Haus am Ende der Straße. Es war stockduster und ziemlich heruntergekommen, womit es keinesfalls für diese Wetterverhältnisse gewappnet war. Ich konnte mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht vorstellen, wie kalt es dort gewesen sein muss, wo nicht einmal ein Feuer brannte und man förmlich sehen konnte, wie sehr es darin ziehen musste. Jedoch würde ich es sehr bald erfahren.
Wir gingen zielsicher auf den Eingang zu, wobei meine Beine schrecklich zitterten, vielleicht wegen des Wetters, aber eher wohl wegen der Angst und der Unsicherheit, die ich empfand.
Der, der neben mir hergelaufen war, klopfte nun laut und unbarmherzig an die hölzerne, instabil wirkende Tür, die sich wahrscheinlich genauso dazu zwingen musste, nicht aufzukrachen, wie ich meine Beine dazu zwingen musste, nicht augenblicklich nachzugeben.
Nun rief ein anderer: „Mach‘ die Tür auf! Wir wissen, dass du da bist!“
Keine Antwort.
Ich zitterte stärker.
Der Erste klopfte wieder.
„Nun mach‘ schon auf, oder willst du, dass wir die Tür eintreten?!“
Noch immer keine Antwort.
Mir wurde schlecht.
„Du hast es nicht anders gewollt!“, rief der Zweite wieder.
„Los! Tritt‘ sie ein!“, sagte einer nun zu mir.
„I-Ich?“, stammelte ich.
„Ja, wer denn sonst? Schließlich bist du mit Abstand der Schwerste und Muskulöseste dieser Gruppe!“, erwiderte ein anderer nur.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und befahl meinem Körper geradezu, sich meinem Kommando zu beugen. Mit aller Kraft trat ich gegen dieses fragile Stück Holz, das ich grade noch bemitleidet und mit meinen Beinen verglichen hatte und es gab sofort nach.
Ich schnappte nach Luft.
Die anderen waren schon ins Haus gestürmt und irgendeiner hatte mich mitgeschleppt. Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen, eigentlich fühlte es sich sogar noch kühler an, was zweifellos auch mein Verschulden war.
Während der Rest die Hütte durchsuchte, stand ich noch immer im Wohnzimmer, in das ich hineingeschleppt wurde, nicht fähig, das, was um mich passierte, wahrzunehmen. Ich hatte die Tür eingetreten! Dass sie jetzt hier drin waren, war meine Schuld! Was auch immer jetzt geschehen würde, ich könnte mich nun nicht mehr aus der Affäre ziehen, wobei, ich das schon nicht mehr konnte, seit ich von diesem Vorhaben wusste. Hätte ich ihn warnen sollen?
Der Waffenstillstand war beendet und in meinem Kopf begann von Neuem eine hitzige Schlacht, die mich in ein endlos tiefes Loch zu ziehen schien.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, aber irgendwann wurde ich zurück in die Gegenwart gezogen, als ich von oben die Worte: „Er ist hier, im Schlafzimmer!“ vernahm.
Erneut wurde ich mitgeschleppt, nicht imstande mich, trotz der körperlichen Überlegenheit, gegen den Griff meines Kameraden zu wehren. Er zerrte mich die Treppe hoch in das besagte Zimmer, wo ich in einer Ecke neben dem Fenster eine Gestalt kauern sah. Sie schluchzte und hielt schützend die Hände über ihren Kopf. Das musste er sein, er, wegen dem wir hergekommen sind.
„Bitte! Verschont mich, bitte!“, flehte er, während er in seinen Schoß weinte
Draußen war zu meiner Verblüffung noch immer ein Rest des schon vorhin unglaublich dünnen Lichts am Horizont zu sehen.
Der, der mich mitgeschliffen hatte, richtete nun das Gewehr, das er mit sich führte und dessen Existenz ich beinahe vergessen oder eher verdrängt hatte, auf die Gestalt in der Ecke, die nun noch verzweifelter weinte und um Gnade bettelte. „Bitte! BITTE! Ihr müsst das nicht tun! Ich bitte euch, verschont mich! Ich werde für immer in eurer Schuld stehen! ICH TU‘ ALLES, WAS IHR WOLLT!“
Ich spürte ein Stechen in meinem Herzen, das sich anfühlt, als würde es von derselben Klinge verursacht werden, wie die Stiche, die ich vorhin in meinem Gesicht spürte. Allerdings fühlte sich dieses erste Stechen so unglaublich weit weg an, wie es nur möglich war.
„Räudige Köter wie du muss man abknallen! Für die Gemeinschaft!“, schrie der mit dem Gewehr wieder.
„Für die Gemeinschaft!“, riefen die anderen; ich jedoch konnte diese Worte nur vor mich hinmurmeln, sie fühlten sich unfassbar leer an.
„Für die Gemeinschaft!“
„TÖTET MICH NICHT!“
Mein Herz klopfte unmessbar schnell.
Die Gestalt machte sich noch kleiner und heulte lauter, immer lauter, noch immer um ihr Leben flehend.
„Für die Gemeinschaft!“
Ein Schuss. Für einen kurzen Moment war es ganz hell im Zimmer. Dann war es stockduster und die Linie am Horizont war verschwunden. Es roch nach Schrot und Blut.
„Für die Gemeinschaft!“, sagte der, der geschossen hatte.
„Für die Gemeinschaft!“, erwiderten die anderen.
Doch ich blieb stumm.

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Hexenwerk

Die vier Männer erreichten das Dorf an einem nasskalten Herbstmittag. Sie waren mit dem ersten Licht des Tages losgeritten und hatten in der Nacht davor erst ihr Lager aufgeschlagen, als die Pferde schon nicht mehr den Weg vor den eigenen Hufen erkennen konnten.
Hinter ihnen lagen vier Tage beschwerlicher Reise, entlang schmaler Gebirgspfade, durch unwegsame Wälder und eiskalte Bäche und über stinkende Moore hinweg. Die Mäntel hingen dreckig und schwer von ihren Schultern und ihre Gesichter waren grimm.
Die Bewohner des kleinen Dorfes senkten respektvoll den Kopf, wenn die Reiter ihnen auf der einzigen Straße entgegen kamen und sahen ihnen neugierig hinterher. Mochten die Gesichter dieser vier Männer auch hart seien, die der Dorfbewohner waren ungleich härter.
An der alten Kirche hielten sie gezwungener Maßen, denn ein fahrender Händler blockierte die einzige Straße mit seinem Pferdewagen, den er um die enge Kurve neben der Dorfkirche lotste.
Auf dem Kutschbock saß seine Frau, ein weinendes Bündel im Arm. Sie sah ängstlich aus und senkte den Kopf, als sie ihre Blicke bemerkte
Der hünenhafte Talbot, der an zweiter Stelle ritt, wischte sich die Feuchtigkeit aus dem Bart. Der Ausdruck in den Gesichtern der Dörfler gefiel ihm nicht, erkannte er darin doch die Abwesenheit von Hoffnung und die blinde Akzeptanz des eigenen Schicksals. Sie sahen aus, wie die Bewohner einer belagerten Festung.
Der fromme Mathias, der an dritter Stelle ritt und den die Heiden fürchteten, erriet die Gedanken seines Freundes:
»Sorge dich nicht, guter Talbot. Wir werden diesen armen Leuten helfen«, sprach er bestimmt und wandte den Kopf, um den letzten Reiter anzusehen.
»Ist es nicht so, Roland?«
Roland, hohlwangig und mit Augen grau wie Schiefer, erwiderte den Blick und nickte: »Das werden wir.«
Lorraine, der tapfere, allzeit an der Spitze ihrer Gruppe seit Jahr und Tag, hob die Stimme und deutete auf ein windschiefes Haus am Ende der Straße, aus dessen ebenso schiefer Tür ein dicklicher Mann trat, die Hand zum Gruß erhoben.
»Man erwartet uns bereits.«
Die vier Männer führten ihre Pferde unter das vorstehende Dach des Gasthauses, stiegen ab und banden die Zügel fest.
Bei dem beleibten Mann handelte es sich nicht nur um den Gastwirt, sondern auch um den Schulzen des kleinen Ortes, der sie nach kurzer Begrüßung in seine Stube führte. Die Männer nahmen vor dem brennenden Kamin Platz und während der Schulze ihnen Krug und Teller auftischte, scheuchte er seine Söhne, sich um die Pferde zu kümmern.
Mathias, der fromme, sprach als erster und ohne lang abzuwarten: »Ist es wahr, Schulze, was euer Bote übermittelt hat? Geht der Teufel in eurem Dorfe um?«
Der angesprochene zuckte in Anbetracht derart ungestümer Rede zusammen. Die beiden Bauern am anderen Ende der Stube sahen erschrocken auf, bevor sie einander anblickten, in einem Zug ihre Becher lehrten und hastig die Gaststube verließen.
Der Schulze sah ihnen nach, bevor er sagte: »Ich weiß nicht, wie es ist, wenn einer im Bunde mit dem Teufel ist, doch es ist, wie ich es schrieb. Etwas böses lastet auf dem Dorf und seinen Bewohnern und diese Frau, die hat es mitgebracht.«
Lorraine, Erster im Kampfe, riss sich ein Stück vom Brot ab. »Wie sieht diese Frau aus, Schulze?«, sprach er zwischen den Bissen, »beschreibt sie uns.«
Der Schulze begann stockend mit einer Beschreibung, zunächst noch zögerlich, doch umso sicherer, je mehr er in ihren Gesichtern erkennen konnte, das er von der richtigen sprach.
Lorraine sah aus dem Augenwinkel zu Roland, dem hohlwangigen, welcher das Essen nicht angerührt hatte. »Was werft ihr der Frau vor?«, wollte er wissen, während er auf dem letzen Stück Rinde kaute.
Doch noch bevor der Schulze antworten konnte, hob Roland die Stimme. Der Ausdruck in seinen grauen Augen ließ den Schulze wünschen, er hätte doch lieber keinen Boten ausgesandt.
/////
Die vier Männer kamen schnell voran, als sie mit sicherem Schritt Richtung Osten dem schmalen Waldpfad folgten. Der Nachmittag war bereits weit fortgeschritten und wenn sie ihr Ziel vor Einbruch der Dämmerung erreichen wollten, galt es keine Zeit zu verlieren. Auf beiden Seiten des Weges schwappte Wasser über die Ränder der vollen Gräben und verwandelte die Erde in klebrigen Schlamm, in dem ihre Füße einsanken und der sich in den Ringen ihrer Kettenhemden absetzte. Kröten suhlten sich in der dunklen Brühe, fett und warzenbesetzt und stierten ihnen hinterher. Der ganze Wald roch nach morschem, faulenden Holz.
»Wahrlich, es ist schlimm um das Dorf bestellt«, stellte Mathias fest, der gottgefällige.
»Aye, wie der Schulze es gesagt hat«, pflichtete der stattliche Talbot ihm bei.
»Schlimmer noch«, befand der tollkühne Lorraine. Roland sagte nichts, wie er ihnen den Pfad hinauf folgte.
/////
Die Frau hatte den Ort wenige Tage nach dem Osterfest durchquert, sich für einen Tag in der Stadt aufgehalten und war dann nach Osten weitergezogen. Vom Schulze selbst hörte sie von den dortigen Höhlen und den modernden Überresten eines Köhlerplatzes. Falls er sich deshalb eine Mitschuld am Geschicke seines Dorfes zusprach, so war es ihm nicht anzumerken.
Manchmal sahen die Bauern sie im Wald, wenn sie Holz holten und gelegentlich kam sie hinunter ins Dorf, um einige Kleinigkeiten von den fahrenden Händlern zu kaufen, doch häufig sah man sie nicht.
Die Kröten waren im Frühsommer gekommen. Zuerst nur einige wenige, die sich in den Gräben der Felder ansammelten und wie in jedem Jahr ein altes Waschweib mit plötzlichem Quaken erschreckten, wenn sie vereinzelt in die Wohnstuben krochen.
Doch schnell wurden es mehr und innerhalb weniger Wochen schwollen ihre Ränge derart an, dass ihre glitschigen Körper ganze Felder bedeckten und die Gärten und sogar die Straßen verstopften. Niemand schlief mehr im Dorf, denn das Lärmen und Lautgeben der Kröten ließ zu keinem Zeitpunkt mehr nach und wenn es hier verstummt war, dann brach es an anderer Stelle um so heftiger wieder hervor.
Mit Karren und Schaufeln rückten die Bauern den Kreaturen zu Leibe, hoben Gruben aus, um die lebenden und getöteten Tiere zu beseitigen, doch es half nichts. Bald schon hing der Geruch der Verwesung über den Häusern und dazwischen Schwärme von Fliegen, angelockt von den endlosen Kadavern derer, die man unabsichtlich zertreten oder überfahren hatte.
Selbst vor der Kirche machten sie nicht halt und wenn die Bewohner den Herr Gott um Hilfe baten, dann taten sie es im Beisein ihres verhassten Feindes.
Den Kröten folgte das Wasser. Unablässig strömte es vom Himmel herunter in fetten Tropfen und was auf den Feldern noch nicht von der Masse der Kröten zerdrückt worden war, verfaulte unter diesem Ansturm innerhalb kurzer Zeit. Der kommende Winter würde das Dorf hart treffen.
Es war der Bauer Frank gewesen, der als erster Aussprach, was alle dachten: Es musste einen Zusammenhang geben zwischen diesen Plagen und der seltsame Frau, die im Wald hauste. Die anderen Bewohner stimmten ihm zu. Wenn sich das Dorf vor Gott nichts zu Schulden hatte kommen lassen - und das hatte es nicht - dann musste es einen anderen Grund geben; jemanden, der das Unglück über sie gebracht hatte. Und war nicht die Frau erst kurz davor zu ihnen gekommen?
Der Dorfpriester, längst gebeugt von Alter und Gicht, hätte widersprochen ob solcher Anmaßung, doch in den Augen der Menschen sah er die Furcht und die Wut, die selbst gute Menschen grausam werden ließ und weil er trotz Alter und Krankheit an seinem Leben hing, schwieg er und betete.
Bauer Frank machte sich noch am selben Abend auf in Richtung Osten, begleitet von seinen beiden Söhnen, die zu den stärksten und mutigsten im Dorfe zählten. Für drei Tage blieben sie verschwunden, dann fand man ihre Körper unweit der Stadt, ertrunken am Fuße einer erst durch die Regenfälle gefüllten Grube.
Danach traute sich niemand mehr in Richtung Osten und nur die tollkühnsten wagten es noch, das dichte Geäst des Waldes zu betreten. Der ratlose Schulze sandte seinen Boten.
/////
Der Eingang zur Hölle öffnete sich wie der Schlund eines großen Tieres in der schrägen Felswand. Sie entzündeten ihre Fackeln, zogen die dreckigen Mäntel von den Schultern und machten ihre Waffen bereit. Im Flammenschein glänzte die Klinge des hohlwangigen Rolands wie die Dämmerung, deren Namen trug: Deagrimal, Schwert des Morgens. Gemeinsam stiegen sie hinein in den dunklen Schlund, Lorraine an der Spitze und Roland zuletzt, so wie es seit jeher gewesen war, wenn sie in den tiefen Abgrund stiegen, denn die Menschen Schlacht nennen.
Sie fürchteten sich nicht, denn ein jeder wusste, auf die drei anderen konnte er sich stützen wie auf einen Bruder, mit dem man den Schoß geteilt hatte. Stärker noch war ihr Band als die eisernen Ringe ihrer Kettenpanzer und mächtiger noch als das heldenhafte Schwert Deagrimal.
Der Eingang führte sie in einem sanften Bogen in den Fels hinein. Schwarzglänzende Käfer flohen vor ihnen und dem Licht, versteckten sich in Felsspalten und hinter den Wurzeln, die immer wieder durch die Decke wuchsen.
Täuschten sie sich, oder bewegten die Wurzeln sich allmählich vor und zurück? Nein, das musste der Lufthauch sein, der ihnen entgegenkam und einen seltsamen Geruch mit sich brachte nach verbrennendes Räucherwerk.
Aus dem Gang heraus öffnete sich eine flache, ausladende Höhle. Die Wände zierten aus Ermangelung von Möbeln an Fäden aufgehängte Werkzeuge, Kochgeschirr, Handtücher und Kleidung, von der Decke hingen Dutzende Bündel verschiedener Kräuter, deren Geruch schwer in der feuchtwarmen Luft hing. Eine fette Kröte beäugte die vier Ritter stumm vom einzigen Schemel aus.
In der Mitte der Höhle kniete eine Frau vor einem niedrigen, rauchenden Feuer, die Hände vor der Brust umklammert. Wasser tropfte von der Öffnung, durch die der Rauch abzog, traf ihren Kopf oder verdampfte in den Flammen. Ihr Körper war abgemagert und voller harter Ecken, wo die Knochen sich gegen ihre Haut abzeichneten.
Hektisch riss sie den Kopf herum, um die Eindringlinge anzusehen. Ihr Blick wanderte über die harten Gesichter der Männer, bis er an Rolands hängen blieb, schiefergrau und hohlwangig. Ihre Leiber versperrten den einzigen Ausgang.
Mit tiefer Resignation wandte sie sich wieder dem Feuer zu. »Du bist also hergekommen«, sprach sie schließlich mit brüchiger Stimme. Ihre Schultern zuckte unter dem dünnen Hemdchen, der Saum zerrissen, der Stoff besudelt. »Werdet ihr mich töten?«
Mathias hob sein Schwert in die Höhe. »Wir sind gekommen, um Dir das Schwert zu bringen, Hexe, nicht den Frieden.«
»Dann macht schnell, ja.« Ihre Stimme überschlug sich, als sie ein aus ihr herausbrechendes Schluchzen unterdrückte. Sie senkte den Kopf, formte tonlos Worte. Die anderen drei ließen Roland vorbei. Die Hexe zuckte zusammen, als er seine gepanzerte Hand auf ihre Schulter legte. Selbst durch den Handschuh spürte er noch die hervorstehenden Knochen.
»Sag mir, wo es ist, Sara«, flüsterte er eindringlich. »Was hast du mit ihm gemacht. Sag es mir und ich schone den Leben.«
Sie musste lachen, ein gequälter Laut, der aus ihr herausbrach.
»Ich glaube dir nicht, Roland. Nicht mehr.«
Die Hand um ihre Schulter packte zu, bis die Knochen knackten. Sie versuchte, sich aus seinen Griff zu winden, doch vergeblich.
»Sag es mir, Sara«, zischte er, »wo ist mein Kind?«
Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an.
»Fort Roland, er ist fort. Er wird dich niemals so fürchten lernen, wie ich es musste.« Ihr Kinn sank nieder auf ihre Brust. Still folgte Roland ihrem Blick, bis er die winzigen Knöchlein sah, die zu ihren Knien vor dem Feuer ausgebreitet lagen.
Deagrimal schnitt schnell und tief und ohne Gnade.
/////
Die Ritter kehrten ins Dorf zurück. Keiner zweifelte an der Rechenschaft der Taten von Roland dem hohlwangigen, denn jeder von ihnen verstand die Last, welche er tragen musste, das Kreuz auf seinen Schultern.
Sie würden in mit ihrer Loyalität tragen, denn sie waren wie Brüder und auf immer treu.
/////
Auf einem Feldweg Richtung Norden rumpelte der Karren des fahrenden Händlers über Kopfstein und durch Pfütze. Das eingewickelte Kind in den Armen seiner Frau war längst eingeschlafen, sein ausgemergeltes Gesicht entspannt. Immer, wenn sich seine kleinen Äugelein zu öffnen drohten, dann schaukelte sie es sanft und erzählte ihm die Geschichte noch einmal.
»Es gab einmal eine Frau, die von einem bösen Mann gejagt wurde«, sagte sie dann und die schiefergrauen Augen des Kindes fielen wieder in die Schwärze seiner Träume zurück.

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