Wie man erfolgreich seine Heimat verlässt
7:35 Uhr
Der Wecker schreit mich an. Weil meine Augen sich so vertrocknet anfühlen, habe ich Angst, dass sie zu Staub zerfallen, falls ich sie öffnen sollte.
Ich entscheide mich, sie zu zu lassen.
7:55 Uhr
Dumpfes Klopfen.
7:56 Uhr
Starkes Klopfen. Und ich höre meinen Namen. Jemand schreit ihn.
Es ist schon fast ein Kreischen.
7:57 Uhr
Ich entscheide mich zu antworten.
„Ja?“
„Willst du nicht langsam mal aufstehen?!“ Ja, es war definitiv ein Kreischen.
Ich murmelte. „Warum nochmal?“
Eigentlich wusste ich es. Ich wusste, dass ich an diesem Tag losfahren würde. Umzug, Auszug. Was auch immer. Die Sachen waren seit Tagen gepackt. Die Pläne schon seit Monaten gemacht. Ich hatte mich nach längerem Grübeln, Verzweifeln und schlaf-geringen Wochen dazu entschieden erst einmal wegzugehen. Die Stadt, in der ich groß geworden bin, hielt mich ab vom Denken und Entscheiden.
Darum entschied ich mich damals, ganz originell (ich weiß), ins Ausland zu fahren. Weg von immer-den-gleichen Menschen. Immer-den-gleichen Häusern. Immer-der-gleichen Luft. Immer-den-gleichen Gedanken und Gesichtern. Natürlich auch von meinen Eltern. Endlich eigenständig sein, weil „ich bin jetzt achtzehn, ich bin groß und mit der Entgegennahme meines Abitur-Zeugnisses überkam mich auch die Weisheit.“ Und seitdem wusste ich, wie der Hase läuft.
Ich wusste, wie man lebt. Vor allem wusste ich es besser als meine Eltern.
„Schwing’ deinen Arsch hoch!“
Ich drückte mich aus meiner Matratze hoch und öffnete meine Augen. Sonderlich hell war es aber noch nicht. Vielleicht irrten sie sich in der Zeit?
Meine Mutter betrat mein Zimmer und zog meine Jalousien hoch. Die Sonne berührte den Rand meiner Dachfenster und der Strahl, der mein Zimmer erhellte und mich endgültig weckte, machte den Staub sichtbar, der aufwirbelte, wenn man sich in meinem Raum bewegte. Ups.
Mürrisch steuerte ich aus meinem Zimmer auf das Bad zu.
8:02 Uhr
Ich dusche, mehr oder weniger freiwillig. Mehr: da meine Haare mir durch den nächtlich angesammelten Schweiß und dem ständigen Plätten, da ich auf dem Rücken schlafe, an dem Schädel kleben. Weniger: weil es verdammt noch mal erst kurz nach acht ist…?!
8:06 Uhr
Unfreiwillig abtrocknen. Ich hasse es mich abzutrocknen. Wenn ich meine eigene Wohnung habe, hole ich mir definitiv einen massiv großen Föhn.
„Unser letztes gemeinsames Frühstück.“ Meine Mutter schniefte. Sie schniefte wirklich. Das schreibe ich nicht, damit es sich besser anhört. Echtes Schniefen. Verrückt.
Ich konnte nur zustimmend Brummen. Wenn ich sentimental geworden wäre, so wäre ich an diesemTag sicherlich nicht losgefahren.
Ich schaute auf den Tisch. Er war ganz gut gedeckt. Es war schon etwas mehr los als sonst. Honig, Pflaumenmus, Gauda, Stinke-Käse, Quittengelee, Jagdwurst, frisches Mett, normale Salami, Salami mit Pfeffer, Salami mit Kapern, gekochter Schinken, geräucherter Schinken, Butter mit Salz, Butter ohne Salz, Butter mit Öl – oh man, wer sollte so viel Butter essen?
Meine Mutter nahm die frisch aufgebackenen Brötchen aus dem Ofen. Sie rochen so wie immer. Neben dem Essen kamen, wie immer, die gleichen Themen auf den Tisch. Und ich aß mich, wie immer, in der gleichen Reihenfolge durch den Aufschnitt.
9:30 Uhr
Habe den Kofferraum geöffnet und erst jetzt realisiert wie mickrig mein Besitz doch ist. Und den allerwertvollsten lasse ich zu Hause.
Ich legte den ersten Gang ein. Ich winkte ihnen.
Sie standen dort wie ein angebrochenes Kit-Kat, das man mit beiden Hälften zurück in die Verpackung gelegt hatte, weil man auf einmal doch keine Lust mehr auf sie hatte. Mir tat plötzlich alles Leid. Dass ich groß geworden bin, dass ich mein Abitur geschafft hatte, ohne weitere Anläufe, dass ich mich nicht für ein Studium in der Nähe entschieden hatte, dass ich keine Ausbildung machen würde, nicht dort wohnen würde. Nie wieder dort wohnen würde.
Ich winkte ihnen und dem Haus. Und dem Garten. Und dem Baum im Garten mit der Schaukel dran. Die in meinen Gedanken, immer noch von dem letzten Mal als ich auf ihr meine Beine weg streckte und anwinkelte, hin- und herschwang.
Ich kurbelte mein Fenster runter.
„Keine Sorge, ich komme zurück!“ Sagte ich mehr zu mir selbst, als es irgendjemanden zu versprechen.
10:25 Uhr
Ganz schön busy auf der Autobahn. Ich gucke alle fünf Minuten auf meine Uhr. Die Zeit fühlt sich trotzdem nicht unter Druck gesetzt und geht es gemütlich an.
10:30 Uhr
Wann will ich eigentlich meine erste Pause machen?
10:35 Uhr
Bin gerade an der Raststätte vorbeigefahren, an der meine Eltern früher immer für mich anhalten mussten. Ich war die Art von Kind, die, obwohl sie „direkt vor dem Losfahren noch einmal auf Toilette waren“, urplötzlich mal mussten.
10:40 Uhr
Ich hoffe, meine Kinder werden mal weniger anstrengend.
10:45 Uhr
Habe gerade überlegt, ob ich noch einmal den ganzen Weg zur Raststätte zurückfahre, da ich urplötzlich das Gefühl habe, dass ich meine Blase nicht mehr lange dicht halten kann. Aber habe seitdem schon zirka 20 Kilometer hinter mir…
Während der Fahrt dachte ich über viele Dinge nach. Plante Sachen bis ins kleinste Detail, um sie eine halbe Stunde später wieder über den Haufen zu werfen. Machte mir Gedanken über den finanziellen Part der Reise. Schrieb in meinem Kopf schon zehntausend Briefe an all meine Freunde und Bekannten von den entferntesten Orten. Obwohl mir noch nicht einmal genau klar war, wo ich in drei Monaten sein würde. Diese Tatsache hatte sich in den ersten hundert Kilometern von einem unheimlich geilen Freiheitsgefühl in beängstigende Ungewissheit verwandelt.
Mein Leben war noch nie so planlos. Und planlos leben wäre super. Wenn man das in unserer Gesellschaft nicht so arg verachten würde.
Man muss doch einen Plan haben. Man muss wissen was man will. Am besten schon mit sechzehn. Oder dann halt spätestens mit achtzehn. Okay, du machst noch ein freies Jahr? Dann halt mit neunzehn.
Oder wenn es überhaupt möglich wäre.
Früher war jeder Tag strukturiert. Ich wusste am Abend davor genau, wann ich am Morgen danach aufstehen würde. Was ich essen würde. Mit welchen Themen ich mich beschäftigen müsste. Wann meine Eltern nach Hause kämen. Wann es Essen gäbe. Wann ich schlafen würde.
Alles, was ich in den letzten sieben Jahren erlebt hatte, war ein Spiel vorprogrammierter Züge des Lebens mit immer den gleichen Gesichtern verschiedenster Mitspieler. Selbst, dass ich den ein oder anderen Freund dazugewann oder verlor, war total voraussehbar.
Und das alles realisierte ich erst während einer mehrstündigen Fahrt ins Ungewisse.
13:14 Uhr
Meine Tankanzeige blinkt.
„Das macht dann drei Euro und fünfzig Cent.“ Räuspern. „Drei EURO und fünfzig CENT.“
Ich schüttelte mich aus meinen Gedanken wach. Der etwas zu klein für sein Gewicht gewachsene Mann streckte mir mittlerweile schon seine Hand entgegen. Ich lächelte und kramte Kleingeld aus meinen Hosentaschen. Er nahm es schnaubend an.
In meinem Kopf hatte sich während der Fahrt eine Art Tunnel errichtet, aus dem ich schlecht wieder entfliehen konnte. Wörter, Sätze, Texte flogen durch ihn hindurch. Als würde ich einen Aufsatz schreiben, in dem ich jetzt erst einmal mein Leben reflektieren würde.
Ich hatte mein Auto mit Benzin gefüllt und danach noch einen Abstecher bei den Toiletten und den Burgern gemacht. Meine Blase war nun wieder geleert und der Burger duftete herrlich fettig aus der Tüte zu meiner Nase hoch.
„Danke.“
Ich nickte und lächelte noch einmal extrem, in der Hoffnung, dass der kleine pummelige Verkäufer es mir nicht übel nehmen würde. Falls ich je dort wieder einmal essen würde. Falls er dann noch dort arbeiten würde. Nur zur Vorsicht.
Ich schlenderte an den besetzten Plätzen vorbei zu einer Couch mit Tischchen, gerade so viel Platz wie für eine einzelne Person nötig war. Mich. Die anderen Gäste waren eher nicht allein. Neben mir ernährten sich noch ein Pärchen mit Baby, zwei Rentner und eine Großfamilie mit vier kleinen, lauten Kindern ungesund.
„Hihihihi, Ahhhhhhhh. Ahhhh, Hiiiiiii! HEY! UH!“ So die Kinder.
Mir war das in meinem Alter natürlich alles zu laut. Genervt beobachtete ich wie der eine kleine Junge dem einen noch kleineren Mädchen an den Haaren zog. Mein Blick wanderte zu den verantwortlichen größeren Menschen, die aber nur genüsslich ihren Burger mampften. Bis das Mädchen schrie. Die Mutter sprang wie vom Blitz getroffen auf und schleuderte ihren Kopf Richtung Kinder.
„MA-XI-MILI-AAN!“
Die Art, wie sie beinahe zeitlupenartig seinen Namen aussprach, versetzte mich sofort in meine Zeit des Testen der Grenzen zurück. So wie man mir erzählt hatte und anhand vorheriger aufgeführter Beispiele, Stichwort Toiletten-Geschichte, hatte ich die Sache auch gut drauf gehabt.
„Zieh der Mira nicht an den Haaren! Und überhaupt könnt ihr eure Lautstärke mal runterschrauben! Hier sind noch andere Leute.“ Sie schaute sich bedeutend in dem kleinen Raum um.
Mir wurde schlagartig bewusst, dass für mich ab jetzt niemand mehr plötzlich aufspringen würde. Mir meine Fehler aufführen würde. Oder überhaupt bemerken würde, wann ich mich falsch verhalte. Etwas falsch einschätze oder sehe. Oder mir sagen würde welches das beste Waschmittel sei.
In der Zeit, die zwischen meiner letzten Prüfung und heute morgen um 7 Uhr 35 lag, hatte ich nichts gemacht. Wenig erzählt. Und genau so wenig gedacht. Einfach mal entspannt. Natürlich mit Ausnahme der paar Tage, die ich genutzt hatte, um für diese Reise zu planen. Ich hatte mir nicht den Kopf über Verantwortung zerbrochen.
17:52 Uhr
Habe Deutschland erfolgreich verlassen. Fühle mich meiner Heimat sehr entfernt. Eventuell zu weit.
18:00 Uhr
Komische Straßenschilder. Ich muss mich sehr konzentrieren. Die Frau im Radio spricht so schnell als würde sie vor den Wörtern fliehen. Ich stelle auf CD um.
Der Fahrtwind durchströmte meine Haare. Ich schüttelte mich – der Fahrtwind würde meine Haare durchströmen, wenn ich nicht hundertdreißig auf dem linken Fahrstreifen einer Autobahn gefahren wäre und mich deshalb entschieden hätte das Fenster geschlossen zu lassen. Stattdessen blies mir die Lüftung gut Sauerstoff ins Gesicht.
In ein paar Stunden würde ich in Calais ankommen. Ich würde auf die Fähre fahren und auf die See Richtung Dover reisen. England war mein erstes Ziel. Der Gedanke dahinter war, dass ich erst einmal mein Englisch stabilisieren wollte. Dann würde ich vorbereitet sein für den Rest der Welt. Also für den Rest der Welt, den ich bereisen wollte.
Während ich an wunderschönen Landschaften vorbei fuhr, von denen ich nur ein Drittel wahrnahm, hatte ich das Gefühl, dass ich alle Zweifel und Unstimmigkeiten hinter mir ließ. Und ich ganz unabhängig und gleichzeitig eins mit den ganzen anderen Menschen auf der Straße war. Ich lächelte die tiefstehende Sonne an. Dieser Moment war so filmreif kitschig, dass ich mich im Nachhinein fast für ihn schäme.
Ich fuhr noch eine Weile gut gelaunt vor mich hin und freute mich über lustige Kennzeichen-Kombinationen.
22:23 Uhr
Pünktlich bei der Fähre gelandet. Steh jetzt in einer Schlange. Vor mir stehen noch zehn Autos. Bin aufgeregt. Entscheide mich die Musik lauter zu stellen.
22:25 Uhr
Habe die Musik wieder leiser gestellt. Mir ist ganz mulmig im Magen.
22:27 Uhr
OK! Mir ist immer noch übel. War der Burger schlecht?
22:28 Uhr
Ich glaube, ich bin einfach jetzt schon seekrank.
Ich parkte das Auto auf dem Platz, der mir zugewiesen wurde. Schnell kramte ich alle wichtigen Sachen vom Beifahrersitz zusammen und sprang heraus. Die Menschenmassen strömten in Richtung einer Tür, die offensichtlich an die oberen Decks führte.
Ich hatte das Gefühl, dass alle meine Aufregung teilten.
Sie waren meine Begleiter des ersten Tages einer Reise. Zur Festigung. Selbstfindung. Zum Entdecken. Und obwohl ich niemanden dieser Leute kannte, hatte ich das Gefühl, sie würden mich stützen und mir helfen. Ich hatte unheimliches Vertrauen. Mir wurde wohler.
Als ich endlich das Deck betrat und auf den Hafen gucken konnte, begannen meine Augen feucht zu werden.
Diese Reise war auch ein sehr langer Abschluss mit meinem vorherigen Leben.
Und dann rief ein Kind neben mir. „Tschüss Deutschland!“ Voll das Bild zerstört.
„Das ist nicht Deutschland, Schätzchen!“
- 5 Punkte
- 4 Punkte
- 3 Punkte
- 2 Punkte
- 1 Punkt