Heute war ein wunderschöner Tag. Es war Ende Frühling und das spürte man auch. Die Vögel sangen freudig ihre Lieder und es war beinahe so, als ob sie die Schönheit eben dieses Tages beschreiben würden. Am azurblauen Himmel waren nur vereinzelt Wolken zu sehen, die regelrecht wie Watte aussahen und die freundlich scheinende Sonne am Firmament schmückten. Eine leichte Brise wehte durch die Vorstadthausreihen und brachte den süßlichen Geruch der prachtvoll blühenden Blumen aus den Vorgärten mit sich.
Ich atmete noch kurz diese reine Luft und genoss noch einmal den herrlichen Anblick, der sich mir bot, bevor ich mich in meinen Wagen setzte, um zur Arbeit zu fahren. Selbst die Straßen, die an diesem Tag leerer waren als üblich, sahen heute schöner aus. Ich konnte meinen Blick kaum von ihnen abwenden, während ich an jedem anderen Tag wohl lieber die Landschaft, an der ich vorbeisauste, betrachtet hätte. Aber heute war es anders, ich genoss den Anblick des harten Teers unter meinen Reifen geradezu und fuhr langsamer als sonst, um die Strukturen und Muster im Straßenbelag zu finden. Mein Herz raste geradezu vor Begeisterung für diese heimliche Schönheit, die, wie es sich anfühlte, keiner außer mir erkannte und dieses Gefühl versetzte mich in bloße Euphorie. Heute war ein wunderschöner Tag.
Obwohl die Autofahrt länger dauerte als sonst, kam ich eine halbe Stunde zu früh mit einem breiten Grinsen im Gesicht im Büro an; anscheinend hatte ich mich wieder nach der Uhr in meinem Schlafzimmer gerichtet, die stehengeblieben war und deren Batterien ich immer noch nicht ausgetauscht hatte. Immerhin hatte dieser Irrtum die positive Wirkung, dass ich pünktlich bei der Arbeit war, ohne auf den Genuss der sich mir darbietenden Schönheit verzichtet gemusst zu haben. Der Uhrzeit entsprechend waren nur vereinzelt Leute im Büro, denen ich wie jeden Tag ein Lächeln und ein „Guten Morgen“ schenkte, was heute noch wärmer und freundlicher war. An meinem Arbeitsplatz angekommen fing ich aber noch nicht sofort an, zu arbeiten. Zuerst räumte ich meinen Schreibtisch auf, legte den Haftnotizzettelblock rechts neben meine Tastatur und die Stifte, die über den Tisch verstreut lagen, kamen wieder in den Schreibtischbutler, den mir Tom zur Beförderung geschenkt hatte. Ich betrachtete ihn genauer; er war schwarz und matt, mit einer rauen Oberfläche, bei deren Berührung man das Geräusch der darauf kratzenden Fingernägel deutlich wahrnehmen konnte. Mir war das zuvor noch nie aufgefallen, aber nun, da ich es so deutlich hörte, klang es geradezu wie Musik. Ich begann, die Melodie meines Lieblingsliedes nachzukratzen und musste kichern. Nie zuvor hatte es sich so schön angehört wie in diesem Moment.
Als ich mein Lied fertiggespielt hatte, war es schon voller im Büro, aber es war noch immer vor Arbeitsbeginn. Ich beschloss, nun meinen allmorgendlichen Ritualen nachzugehen und erst einmal Kaffee zu kochen, bevor ich meinen Bericht für den letzten Monat, der heute fällig war, Sophie. Sie lächelte breit und sagte, halb schwärmend, halb seufzend: „Wie immer sind Sie der Einzige, der seinen Bericht pünktlich abgibt. Und dazu immer so umfassend. Wenn doch nur alle so engagiert wären wie Sie.“ Ich nickte ihr zu und holte mir eine Tasse Kaffee, wobei mir Frank beim Eingießen auf die Schulter klopfte und sich für das Kaffeekochen, das ich jeden Morgen übernahm, bedankte. Auch ihm nickte ich zu und antwortete: „Keine Ursache.“, während ich nun der Arbeit an meinem Schreibtisch nachgehen wollte. Diese ging mir heute noch leichter von der Hand und ich hatte sogar Spaß daran, genoss sie förmlich, genauso wie das Geräusch der Tasten, wenn ich sie sanft anschlug. Es war tatsächlich ein wunderschöner Tag.
Bevor ich mich versah, waren die acht Stunden auch schon vorbeigegangen und ich machte mich auf den Heimweg. Der spätnachmittägliche Verkehr hinderte mich allerdings daran, erneut die Schönheit der Straßen zu bewundern, sodass ich stattdessen die Autos betrachtete. Mal hatten sie einen matten, mal einen glänzenden Lack, mal hell, mal dunkel, blitzend sauber, leicht verstaubt, es gab so viele Variationen und alle waren besonders auf ihre ganz eigene Art und Weise. Leider konnte ich die Autos nie länger betrachten, weil sie immer zu schnell weg waren, aber das war auch gar nicht schlimm. Diese vielen, kleinen Eindrücke hatten mich so sehr verzaubert wie es ein großer wohl nicht gekonnt hätte. Nie zuvor erlebte ich einen so wunderschönen Tag.
Zuhause angekommen nahm ich erneut den Duft vom heutigen Morgen wahr. In ihm lag nun auch etwas anderes, dieser Geruch vom einbrechenden Abend verlieh der Luft eine angenehme Note, die mich dazu einlud, mein Abendessen diesmal draußen auf der Terrasse einzunehmen. Dem Wetter entsprechend wollte ich etwas Leichtes und Gesundes, aber Sättigendes zu mir nehmen und entschied mich deshalb für eine Gemüsepfanne. Also zerkleinerte ich die Zutaten, wobei mir dabei auffiel, wie schön es sich anhörte, Gemüse zu schneiden; das immer wieder ins Fruchtfleisch eindringende, scharfe Messer führte geradezu eine Symphonie vor, deren Musik allein für mich gespielt wurde. Das Zischen des Öls in der Pfanne, wenn die Zutaten sanft angebraten wurden und die Aromen, die dabei freigesetzt wurden, versetzten mich in einen Rausch, sodass ich mein Abendessen sogar beinahe hätte anbrennen lassen. Ich richtete mein Menü, so perfekt wie es mir möglich war, an, um dessen Zauber noch länger zu erhalten und zur Geltung zu bringen. Passend dazu öffnete ich auch meinen besten Rotwein, den ich seit Jahren für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte und der so teuer gewesen war, dass es mich an jedem anderen Tag abgeschreckt hätte, auch nur einen Tropfen davon zu mir zu nehmen, aber heute war die perfekte Gelegenheit, um ihn zu trinken. Heute war wirklich ein wunderschöner Tag.
Draußen nahm ich dann mein Abendessen zu mir und genoss noch einmal die Schönheit eben dieses Tages, der sich nun langsam seinem Ende näherte. Die Schmetterlinge tanzten in der Luft und aus der Ferne konnte man schon ein leichtes Grillenzirpen wahrnehmen. Der vorhin noch so blaue Himmel bestand nun aus einem Farbenspiel aus gelb, rot und violett und schien, als hätte man ihn gemalt. Die Farben gingen ineinander über ohne erkenntliche Grenzen und so konnte ich nicht anders als über dieses prächtige Machwerk Mutter Naturs zu staunen. Dann beschloss ich, dass es Zeit war, wieder ins Haus zu gehen, spülte mein benutztes Geschirr ab und stellte die halbvolle Flasche in den Kühlschrank. Ich vergewisserte mich, dass alles sauber war und öffnete dann die Schublade meines Sideboards. Dieser entnahm ich den darin verwahrten Revolver und auch er schien heute noch schöner zu sein als sonst. Ich führte ihn an meine Schläfe und in dem Moment, bevor ich abdrückte, gab es nur zwei Gedankengänge in meinem Kopf: 1. Wie würde wohl das Farbspiel meines Blutes auf dem Parkett aussehen? Und 2. Heute war in der Tat ein wunderschöner Tag, um zu sterben.
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