Besonderheiten des Oscarvotings [Erklärung & Diskussion] + ein paar Statistiken

[Disclaimer: Da das hier mein erster Thread im Forum ist, sagt einfach Bescheid, wenn irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte oder bearbeitet es gerne auch direkt, falls das möglich ist]


Da ja mal wieder die Oscars vor der Tür stehen, dachte ich mir, ich mache mal eine kleine Übersicht von ein paar Facts, Statistiken und Besonderheiten, die es bei der Vergabe der Preise gibt. Könnte ja auch für den ein oder anderen, der am Oscartippspiel teilnimmt, interessant sein. Meiner Erfahrung nach, sind zumindest einige der Punkte auch für ‚alte Filmhasen‘ noch neu und interessant.

Grundsätzlich muss man sich erstmal von der Vorstellung verabschieden, dass sich dort ähnlich manchem Filmfest eine kleine Oscar-Jury in einen dunklen Raum zurückzieht, wo die Vergabe dann diskutiert wird, à la „der Film bekommt den Preis, dieser den, der hier hat ja schon 10 Oscars also geben wir in ner kleineren Kategorie mal nem anderen Film den Preis und jetzt brauchen wir noch einen wichtigen Oscar für einen Film mit großer kultureller und sozialer Bedeutung, um ein Zeichen zu setzen…“.
Diese Überlegungen widersprechen zumindest in dieser Form der Art wie die Oscars eigentlich vergeben werden. Aber keine Sorge, es bleibt trotzdem noch genügend Raum für Spekulationen und Diskussionen, in wie weit Politik und andere Faktoren unabhängig von der Qualität des Films bei der Stimmenvergabe eine Rolle gespielt haben. Das ist ja auch Teil des Oscarspaßes :wink:
So, genug der Vorrede…

Wer sitzt in der Jury? Wer bestimmt die Gewinner?

Die Jury besteht zunächst einmal vereinfacht gesagt aus den 6687 Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences.

Ein paar Infos zur Academy

  • Unterteilt in 17 versch.‚branches‘ (actors, directors, producers etc.)
  • Größte branch: actors 1158 =17% (im Bild ganz links; keine Ahnung warum dort 18 branches steht, sonst steht überall 17 :confused: )

  • 6687 Mitglieder
  • Ca. 85% Wahlbeteiligung bei den Oscars
  • Wahl per ‚Briefwahl‘ oder online möglich
  • 77% männlich (2012) → 73% (2016)
  • 94% weiß (2012) → 89% (2016)
  • 86% über 50 Jahre alt
  • 54% über 60
  • Median Alter 62
  • 33% sind ehem. Nominierte (14%) und Gewinner (19%)

Wie wird man Mitglied?

Man braucht entweder eine Oscarnominierung oder man muss von 2 Mitgliedern der jeweiligen branch, in die man will, vorgeschlagen werden. Dann muss das sogenannte ‚Board of Governors‘ noch zustimmen. Man kann dann normalerweise auf Lebenszeit Mitglied bleiben.
Das ‚Board of Governors‘ besteht aus 51 Governors, jeweils 3 Mitglieder aus jeder der 17 branches.


Nominierungen

Wie wird in einigen kleineren Kategorien nominiert?

Als ich in der Einleitung sagte, es gäbe keine kleinen Jurys, die über die Preise entscheiden, war das ein bisschen geflunkert :stuck_out_tongue: ,denn in den Kategorien ‚Animierter Spielfilm‘, ‚Visuelle Effekte‘, ‚Bester fremdsprachiger Film‘, ‚Make Up‘, ‚Dokumentarfilm‘, ‚Kurzfilm‘ und ‚Tonschnitt‘ gibt des tatsächlich spezielle Vorauswahljurys aus Mitgliedern der Academy, die dann zumindest über die Nominierten entscheiden.

Wie funktioniert das Voting bei den Oscarnominierungen in den anderen (größeren) Kategorien (ohne ‚Best Picture‘)?

Jedes Mitglied erstellt eine Liste mit seinen 5 Favoriten (sortiert / geranked von 1 bis 5), die es gerne nominiert sehen möchte. Die 5 mit den meisten Stimmen sind die 5 Nomierten. Das Besondere ist nun, dass bei der Nominierung (im Gegensatz zur späteren Wahl selbst) nur die Mitglieder der jeweiligen branch ‚ihre‘ Nominierten wählen können (also z.b. directors nominieren directors, actors actorkategorien usw.). So könnte zum Beispiel zu erklären sein, wieso ein Film der später ‚Best Picture‘ geworden ist, wie ‚Argo‘, für den ‚Best Director‘(Ben Affleck) noch nicht mal nominiert war.

Wie funktioniert das Voting bei den Oscarnominierungen in der Kategorie ‚Best Picture‘?

Da es ja in dieser Kategorie keine dafür zuständige ‚Best Picture branch‘ gibt, können alle Academymitglieder ihre 10 Favoriten (ebenfalls geranked) nominieren. Die mindestens 5, maximal 10 Filme mit den meisten Stimmen sind dann die Nominierten. Wie viele genau, hängt davon ab, wie viele Filme die 5%-Hürde (an 1.Plätzen auf den Stimmzetteln) erreicht oder übertroffen haben. Also im Prinzip wie bei der 5%-Hürde der Parteien zur Bundestagswahl.


Wahl der Oscargewinner

Wie funktioniert das Voting in allen Kategorien bis auf ‚Best Picture‘?

Bei der finalen Abstimmung dürfen nun alle(!) Mitglieder jeder branch für alle Kategorien abstimmen. Jeder wählt genau 1 der 5 Nominierten aus - die mit den meisten Stimmen gewinnen (ich nenne es mal der Einfachheit halber „klassisches Voting“, ist erst weiter unten von Bedeutung). Ganz einfach! Haben 2 Nominierte exakt gleichviele Stimmen, bekommen übrigens beide den Oscar.

Wie funktioniert das Voting in der Kategorie ‚Best Picture‘?

Auch hier dürfen wieder alle Miglieder abstimmen. Allerdings gibt es hier weitere Besonderheiten: Zunächst mal haben die Mitglieder nicht nur eine Stimme für ‚ihr‘ ‚Best Picture‘, sondern ranken die z.B. 10 nominierten Filme nach ihren Präferenzen von 1 bis 10. Es folgt ein sogenanntes „Instant Runoff Voting“ (=IRV). Was das ist, dazu gleich mehr.

Kurz zum Hintergrund: Das IRV hängt eng zusammen mit der maximalen Nominiertenanzahl in der Kategorie ‚Best Picture‘. So gab es das IRV schon von 1934 bis 1945, die Nominiertenzahl wurde im Jahr 1944 von 10 bzw. 12 nominierten Filmen in den Anfangsjahren der Oscarverleihung auf 5 Nominierte zurückgefahren. Man hatte dann mehr als 60 Jahre lang bis 2009 genau 5 nominierte Filme und „Klassisches Voting“ (=KV). 2009 änderte die Academy dann nach viel Kritik, die Academy sei zu konservativ, sowohl die mögliche Anzahl der ‚Best Picture‘ Contender wieder auf 10 und führte gleichzeitig wieder das „Instant Runoff Voting“ ein. Die offizielle Begründung der Pressemitteilung lautete:

„With 10 nominees, the preferential system [andere Bezeichnung für IRV] is one that best allows the collective judgment of all voting members to be most accurately represented“

Was die Überlegungen hinter diesem Voting sein könnten, versuche ich gleich zu erläutern. Vorher noch kurz, wie das IRV überhaupt funktioniert:

  • Um den ‚Best Picture‘-Oscar zu gewinnen, braucht der nominierte Film mehr als 50% der Stimmen
  • Man sortiert die Stimmzettel nach 1.Plätzen(=1.Wahl der Wähler) und schaut sich dazu die 1.Plätze der Rankings der Stimmzettel an. Erreicht einer der 10 Filme hier schon 50% 1.Plätze, hat er den Oscar gewonnen. In diesem Fall gibt es keinen großen Unterschied zum KV mit nur einer Stimme.
  • Hat aber keiner der Filme 50% erreicht (z.B. der Film mit den meisten Stimmen hat z.B. nur 30%), wird es interessant: dann schaut man sich die Stimmzettel des aktuell letztplazierten Filmes an, und gibt deren Stimmen dem Film der auf ihnen jeweils auf dem 2.Platz geranked steht (also die 2.Wahl des Wählers).Man schaut nun wieder: hat jetzt ein Film mehr als 50% der Stimmen und damit den Oscar gewonnen?
  • Wenn nicht, geht das Spiel weiter, in dem man nun die Stimmzettel des nun letztplatzierten anschaut und die Stimmen auf denjenigen Film packt, der auf ihnen am weitesten oben geranked ist und noch ‚im Spiel ist‘
  • Usw. …bis ein Film die 50% Grenze durchbricht und zum Sieger gekürt wird

Es mag beim ersten Mal lesen recht kompliziert und umständlich klingen, ist in der Praxis aber relativ einfach durchzuführen. In diesem Video erklärt es jemand nochmal anhand von Pokerchips, das ist eigentlich ganz anschaulich.

Die Überlegungen der Academy waren wahrscheinlich, dass es bei 10 Nominierten recht häufig mal vorkommen dürfte, dass der führende Film nur 25% oder so auf sich vereint und somit die Mehrheit der Academymitglieder für einen anderen Film als den ‚Best Picture‘-Gewinner gestimmt hätte. Durch das Rankingsystem dürfte es sich für die Mitglieder eher wie ‚ihr‘ Film anfühlen, der ihren Filmgeschmack gemeinsam repräsentiert. Außerdem gab es wohl (zumindest laut Berichten in den Weiten des Internets) auch Kritik von Seiten der Academymitglieder am Votingsystem, da das KV natürlich Anreize schafft, seine einzige Stimme nicht für einen Außenseiter „zu verschwenden“, sondern lieber „das kleinere Übel“ unter den Favoriten zu wählen, in gewisser Weise ähnlich dem 2-Parteiensystem in den USA. Deswegen wird das IRV z.B. auch bei der Wahl zum australischen Parlament angewendet.

Wie man sieht, führt das IRV für den Fall, dass es keinen klaren Favoriten gibt, eher dazu, dass Filme, die eine breite Mehrheit an relativ hohen aber nicht sehr hohe „Bewertungen“ (=hohe Rankingposition) auf sich vereinen können, sich durchsetzen, als dass Filme die stark polarisieren den Oscar bekommen. Um mal in der Sprache des „Welchen Film habt ihr zuletzt gesehen“-Threads zu bleiben: Bei einem engen Rennen wird eher der Film mit hauptsächlich 8/10- oder 9/10-Bewertungen gewinnen, als der Film, den die eine Hälfte als 10/10 empfunden hat und die andere Hälfte als 7/10. Beim KV wäre es exakt umgekehrt. Es ist also auch eine durchaus realistische Möglichkeit, dass der Film mit den meisten Platz1-Stimmen am Ende nicht den Oscar für ‚Best Picture‘ gewinnt. Hier mal eine Simulation, die diesen Fall ganz schön veranschaulicht:

Das liefert auch einen guten Erklärungsansatz, wie es zu einem Split zwischen ‚Best Director‘ und ‚Best Picture‘ wie im letzten Jahr kommen kann. Der ‚Best Director‘ wird im KV bestimmt, das ‚Best Picture‘ im IRV. Nach dieser Theorie wäre ‚The Revenant‘ also eher der Film, der die Academy in ‚herrausragend‘ und ‚ok‘ gespalten hat und ‚Spotlight‘ der Film, der hauptsächlich als ‚sehr gut‘ empfunden wurde. Ob das wirklich so war, werden wir wohl nie herrausfinden, aber es bietet doch einen schönen Ansatz zum Spekulieren :slight_smile:

Gibt es einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Votingvarianten und der Häufigkeit von sogenannten Splits zwischen ‚Best Director‘ und ‚Best Picture‘?

Ich habe deshalb einfach mal die Zeiten mit den verschiedenen Votingsystemen miteinander verglichen, um zu schauen, ob sich diese These auch mit Zahlen untermauern lässt (für eine relevantere Aussage ist die Anzahl der Oscarverleihungen natürlich immer noch relativ gering):

  • „Klassisches Voting“: 1928-1933 & 1946-2009: 17/69 =0,2464 = 25% Splits zw. ‚Best Director‘ & ‚Best Picture‘

  • „Instant Runoff Voting“: 1934-1945 & 2010-2016: 7/19=0,3684 = 37% Splits

    → 12/25=0,48 = 48% mehr bei Wechsel zu IRV !

Die bisherigen Verleihungen zeigen also einen deutlichen Unterschied (+48%) zwischen KV & IRV in ihren möglichen Auswirkungen auf einen Split zwischen ‚Best Director‘ und ‚Best Picture‘. Mal sehen wie sich das in Zukunft entwickelt. (Seit der Wiedereinführung des IRV 2009 gab es übrigens in 3 von 7 Malen einen Split).

Hier noch ein Link zu den offiziellen Regeln.


Wie seht ihr die verschiedenen Votingsysteme? Welches würdet ihr bevorzugen? Sollten auch die finalen Abstimmungen den jeweiligen Branches vorbehalten bleiben? Aus welchen Leuten sollte sich die Academy zusammensetzen? Habt ihr noch andere interessante Oscarstatistiken? Haut mal was raus, Leute :florentin: :wink:

tl;dr Oscar-Jury besteht aus 6000 Mitgliedern; meisten Nominierungen erfolgen nur durch jeweilige branches; ‚Best Picture‘-Wahl erfolgt durch spezielles System, sog. ‚Instant Runoff Voting‘; Film mit meisten Stimmen wird nicht unbedingt Oscarwinner; Split ‚Best Director‘ / ‚Best Picture‘ gar nicht so selten und abhängig vom Votingsystem

10 „Gefällt mir“

Da ja noch Platz im Internet ist :wink:, hier mal noch meine persönliche Meinung:
Es haben natürlich beide Systeme ihre Vor- und Nachteile. Ich würde es aber wahrscheinlich so belassen, allerdings wäre ich dafür, dass man die Abstimmungsergebnisse veröffentlicht. So hätte man einerseits einen Oscarwinner, der von der breiten Academymasse mitgetragen wird und Leute wie ich, die sich noch ein bisschen lieber die ‚spaltenden‘ Filme ansehen, könnten anhand der 1.Plätze-Nennungen sehen, welche dies sind, falls es in dem Jahr einen Unterschied macht. Man hätte also das beste aus beiden Welten.

Mal noch kurz nur so als Idee in die Runde geschmissen:
Es ist jetzt natürlich noch zu früh, da wirklich was vorherzusagen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man in Zukunft schon daran, dass eher viele Filme fürs ‚BestPicture‘ nominiert sind (also eher 9 oder 10), eine Tendenz erkennen kann, dass eher ein Konsensfilm gewinnen wird und bei eher 5 oder 6 Nominierten eher ein polarisierender Film gewinnen wird. Einfach je nachdem, wie wahrscheinlich es ist, dass das ‚Instant Runoff Voting‘ eine größere Rolle spielt.

Vielen Dank für deinen ausführlichen Beitrag! Ich habe oft den Eindruck, dass viele denken diese Entscheidungen würden in kleinen Hinterzimmern getroffen. Wie du schon schreibst kann trotzdem Politik mit ihm Spiel sein, aber die Angelegenheit ist doch wesentlich komplexer als es sich die meisten vorstellen.

Vor allem vielen Dank für die Erklärung zum Voting für Best Picture. Das wusste ich so noch nicht und ich halte das IRV auch für das bessere System, denn so gewinnt eher der Film der wirklich allen gefällt.

@LeSchroeck Wäre der Beitrag nicht für den Oscast am Sonntag interessant? Da gibt es ja immer viel Leerlauf und da wäre so ein Beitrag doch genau passend.

1 „Gefällt mir“

Sehr schön erklärt. Es freut mich, dass es noch andere Leute gibt, die sich so für die Academy Awards begeistern können wie ich. :smile:

Wenn ich es zeitlich schaffe, hau ich heute abend noch eine Prognose in Textform raus.

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