Das Hispanic Paradoxon - Ein interessantes soziokulturelles, biologisches Rätsel
Sieht man sich die Lebenserwartung in den USA 2019 nach „race“ an (2019 da vor Covid, welches die Betrachtung etwas komplizierter macht), so sehen wir folgendes.
race |
Lebenserwartung |
Hispanic/Latino |
82,2 |
Nicht Hispanic Weiße |
78,9 |
Nicht Hispanic Black |
75,3 |
American Indian and Alaska Native |
73,1 |
Es gibt einen beträchtlichen Unterschied zwischen Hispanic und Weißen und auch Black und Natives.
Nun sind Lebenserwartungsunterschiede für Wissenschaftler nichts neues. Die Lebenserwartung hängt nämlich ganz stark von soziokulturellen Faktoren ab. Je höher die Bildung, desto besser die Gesundheit. Und noch deutlicher. je höher das Einkommen, desto relativ viel höher die Lebenserwartung. In Deutschland ist z.B. der Vorteil der neugeborenen in der höchste Einkommensklasse gegenüber denen mit der niedrigsten Einkommensklasse 8,6 Jahre für Männer. Das ist für eine Bevölkerungsgruppe (nicht für das Individuum) unfassbar viel.
Und so kann man relativ leicht den Unterschied zwischen White und Black und Native erklären. Weiße haben mehr Einkommen und im Schnitt mehr Bildung.
(Und Asian people sind hier gar nicht erwähnt die die höchste Lebenserwartung haben, aber auch in allen Kategorien, von Bildung über Einkommen auch klar den höchsten Wert haben)
Aber, nun das interessante, Hispanics haben im Schnitt weniger Einkommen als Weiße (sie sind absolut gesehen eher näher an Black und Native. Und bei der Bildung sind Hispanics sogar eher Schlusslicht
adults age 25 and older with a bachelor’s degree or higher
non-Hispanic White: 41,9%
Black: 28,1%
Hispanic: 20,6)
Und noch mehr. Hispanics haben eine höhere Prävalenz für Typ-2 Diabetes, und Fettleibigkeit als Weiße
Und da haben wir das Paradoxon. Eigentlich müssten Hispanics eine viel geringere Lebenserwartung haben als Weiße.
Das ganze ist in den USA ab Mitte der 70er Jahre aufgefallen. Kyriakos Markides veröffentlichte 1986 als erster eine Studie dazu und gab dem Phänomen auch den Namen „Hispanic epidemiological paradox“. Er schaute sich dabei die Sterblichkeitsrate, aber auch die Säuglingssterblichkeit an. Das letztere ist ein bekanntes Maß für die Gesundheit von Individuen. Generell gesündere Gruppen haben eine geringere Säuglingssterblichkeitsrate. Hispanics hatten eine signifikant geringere Säuglingssterblichkeit.
Markides hatte 1986 sogar eher Widerstände diese Studie zu veröffentlichen, da alle Wissenschaftler ihm gesagt haben, dass etwas an den Daten nicht stimmen könne. Das ganze war sogar so verwunderlich, dass die nächsten 20-30 Jahre eigentlich nur Theorien gesucht wurden, warum das Ganze nicht sein kann. Warum also die Daten nicht ganz die Realität zeigen. Was an sich ja nichts verkehrtes ist. Eines der wichtigsten Dinge in der Ökonometrie ist z.b. der Vergleich Gleiches mit Gleichem. Gute Daten sind sehr wichtig.
Eine kleine Reise durch die Erklärungen.
Als erstes kam die Theorie der „gesunden Immigranten Effekt“ auf. Der lange Weg von Süd oder Mittelamerika ist anstrengend und mühsam. Diese Reise nehmen nur die stärksten Individuen auf bzw. nur die stärksten schaffen es dann auch hierher. Daher sind Migranten gesünder als die Rest-Population. Aber nach 1-2 Generationen gleichen sich der Gesundheitszustand der Restpopulation an.
Das ganze ist tatsächlich auch wahr und nachgewiesen, aber auch wenn man das „rausrechnet“ bleibt der Hispanic paradox erhalten. Das war also nicht die eigentlich Lösung.
Die zweite Theorie war wie ich finde eine skurrile, aber auch schöne Theorie aus der Tierwelt. Die „salmon bias“. Wildlachse schwimmen zum laichen flussaufwärts und sterben am Ort ihrer Geburt. Könnten also Migranten im hohen Alter zum sterben in ihr Heimatland und Heimatdorf zurückkehren um dort die letzte Ruhestätte zu finden? Der Effekt war dazu zu gering. Zudem würde das ja nicht die geringere Säuglingssterblichkeit erklären.
Auch die Theorie nach denen die Migranten einfach jünger als die Restpopulation sind, war nicht erklärend.
Und nach all der Zeit hat man dann nachgedacht, vielleicht sind die Daten nicht falsch. Was wenn es dieses Paradoxon wirklich gibt. Also hat man angefangen nach Erklärungen zu suchen weshalb die Hispanics so herausstechen.
Und natürlich denkt man dann über Ernährung nach. Und wenn man an spanische Migranten denkt, dann auch natürlich an Bohnen! Könnte das die Lösung sein?
Eine aufsehenerregende Studien war dazu 2013 „A review of the Hispanic paradox: time to spill the beans?“
Hülsenfrüchte sind sowas wie Super-Nahrungsmittel, wenn es um die Vorbeugung von die krankheitsverursachenden Entzündungen geht.
Hülsenfrüchte sind sehr ballaststoffreich und haben kürzlich gezeigt, dass sie systemische Entzündungen deutlich abschwächen, die zuvor in großen prospektiven Studien mit der Anfälligkeit für COPD und Lungenkrebs in Verbindung gebracht wurden. Eine ähnliche schützende Wirkung könnte dem Verzehr von Sojaprodukten (aus Sojabohnen) bei asiatischen Personen zugeschrieben werden, für die ebenfalls eine geringere Inzidenz von COPD und Lungenkrebs berichtet wurde.
Aber so richtig alles erklärend und überaus überzeugend war das wohl nicht, da die Ernährung nach der Immigration sich auch nach und nach verschlechtert und Migranten wie NIcht-Migranten mehr zu verarbeiteten Lebensmitteln greifen (high processed food).
Eine weitere Theorie die wissenschaftlich auch Anklang fand war die der Sozialisation. Gerade Hispanics haben starke Familienverbünde und leben oftmals in stark vernetzten Vierteln. Man kümmert sich um einander, achtet, dass dass Familienmitglieder vielleicht mehr zur Vorsorge gehen, achtet auf ältere Familienmitglieder, unterstützt sich gegenseitig.
Dazu gibt es noch eine speziellen Umgang mit Mitmenschen - Simpatia
„Simpatía, a term that captures the tendency to prefer and create social interactions characterized by warmth and emotional positivity while also avoiding conflict and/or overt negativity, is a cultural factor relevant to Latinos.“
Und tatsächlich ist das alles vorteilhaft. Familienzentrierte Kulturen haben gesundheitliche Vorteile, der Mensch als Individuum ist in Gesellschaft gesünder als ein Einzelkämpfer; er ist nun mal ein soziales Wesen.
Dazu äußerte sich auch der Forscher Ruiz
Der Disney-Zeichentrickfilm „Coco“ aus dem Jahr 2017, in dem es um starke mexikanische Familienbande auch nach dem Tod geht, „ist ein schönes Beispiel für dieses soziale Netzwerk und die Bedeutung von Familienbanden über die gesamte Lebensspanne und darüber hinaus“, fügte [Ruiz] hinzu. „Offen gesagt, man ist nie allein.“
Andere Forscher stellen fest, dass die beiden am längsten lebenden race und ethnischen Gruppen Amerikas - Asiaten und Hispano-Amerikaner - beide in kollektiven Kulturen leben. "Das ist eine Lektion.
Ob das die endgültige Erklärung dazu ist, da kann man nur spekulieren. Am Ende könnte es ein Gemisch aus all den Faktoren sein.
Aber es ist natürlich für Wissenschaftler interessant da man mit einer Erklärung auch anderen Menschen helfen könnte und letztendlich der Staat ein Interesse daran hat gesündere Bürger zu haben.
Desweiteren hat sich gezeigt dass die höhere Lebenserwartung nicht bei allen Hispanics zutrifft, bei Puerto Ricanern ist es wohl nicht so, und die Sterblichkeit nicht bei allen Krankheiten geringer ist, gleichzeitig aber gibt es dieses Paradoxon nicht nur in den USA sondern auch in anderen mittelamerikansichen Ländern wo Daten zu Hispanics und Weißen vorhanden sind.
Es bleibt also immer noch ein Rätsel. Oder wie Forscher das ausdrücken, je mehr man dazu untersucht, desto komplexer wird es.
Quellen
Life expectancy in the U.S. increased between 2000-2019, but widespread gaps among racial and ethnic groups exist | National Institutes of Health (NIH)
Bildung als Ressource für Gesundheit | Datenreport 2021 | bpb.de
The influence of education on health: an empirical assessment of OECD countries for the period 1995–2015 | Archives of Public Health | Full Text
Lebenserwartung nach Einkommen Einkommensklassen
Social differences in mortality and life expectancy in Germany. Current situation and trends - PMC
Median household income by race and ethnicity U.S. 2022 | Statista
Census Bureau Releases New Educational Attainment Data
Statistics About Diabetes | ADA
Overweight & Obesity Statistics - NIDDK
Unraveling the Hispanic Health Paradox - American Economic Association
The Impact of Salmon Bias on the Hispanic Mortality Advantage: New Evidence from Social Security Data - PubMed
A review of the Hispanic paradox: time to spill the beans? - PubMed
Neighborhood Context and Mortality Among Older Mexican Americans: Is There a Barrio Advantage? - PMC
New generation of researchers unravel 'Hispanic Paradox' - STAT
Trends in Premature Deaths Among Adults in the United States and Latin America