Transiente globale Amnesie
Am Abend
Es war ein kalter Winterabend. Stöhnend und ächzend kämpfte er sich den Hügel hinauf. Der Mann mit der Narbe. Sein Gesicht war eingefallen, die Haare an der Seite ergraut und sein Bart seit Tagen nicht mehr rasiert worden. Die Narbe bedeckte seine linke Wange und verzog seine Gesichtszüge zu einer skurilen Grimasse. Die grauen Augen, die einst wissbegierig und konzentriert die Umwelt beobachteten, waren nur noch erloschene Planeten. Die Sonne stand schon längst nicht mehr am Himmel und es wehte ein eisiger Wind. Er zog die Schultern an und atmete in seinen Schal, genoss die Wärme seines Atems und kniff die Augen enger zusammen. Einige wenige Straßenlaternen brannten und leuchteten ihm den Weg. Die Straße war menschenleer. In der Ferne konnte er eine Sirene aufheulen hören, die das stete Rauschen der Autos übertönte und ihn an diese vergangene Nacht erinnerte. Diese Stadt war nichts für ihn. Zu düster, zu dreckig. So fremd. Als er den Berg erklomm, überkam ihn langsam ein nagendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Was, wenn er zu spät kam? Das durfte nicht geschehen, nicht schon wieder. Er hatte schon einmal die Zeit seine Pläne durchkreuzen lassen, konnte das Unheil nicht aufhalten. Seine Füße trugen ihn nur langsam vorwärts, die Kälte lähmte seine Glieder und bei jedem Atemzug fühlte er die eisige Luft seine Lungen fluten. Von irgendwoher wehte ein schwacher Kuchengeruch. Er atmete tief ein, um sich der Illusion von Wärme und Geborgenheit hinzugeben. Es vergingen mehrere Minuten und es begann erneut zu schneien. In dieser Stadt wusste man nie, wie das Wetter werden würde, es konnte von einer Sekunde auf die andere von strahlendem Sonnenschein zu einem Unwetter umschlagen. Noch etwas, was er an dieser Stadt hasste. Der Wind zog an und peitschte ihm die winzigen Schneeflocken ins Gesicht. Keines der zarten weißen Gebilde blieb auf der Straße liegen, sie vereinigten sich mit dem reflektierenden Nass auf dem Asphalt, wurden eins mit den Pfützen, durch die Stunden zuvor bereits geschäftige Menschen ihre Schuhe schleiften. Jetzt war von der Eile nichts mehr zu spüren. Es gab vieles, was auch er in diesem Moment lieber täte, aber nichts davon war real. Er durfte nicht an all die vergangenen Momente denken, die jetzt wirkten als wären sie nie passiert, als entstammten sie einem faszinierenden, aber unwirklichen Traum. Ohne es zu wollen, musste er plötzlich an vergangenen Sommer denken. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dass er sie mit in das kleine Sommerhäuschen im Wald genommen hatte. Sie verbrachten einige glückliche Tage, waren im See schwimmen und saßen abends, nach einem kleinen, aber befriedigendem Essen zusammen und warteten darauf, dass es zu kühl wurde, um sich die dunklen Tannen am Horizont anzusehen. Dieser Moment war vergangen, er war in dieser verhassten Stadt und erklomm immer noch diesen Hügel, der nie zu enden schien. Er blieb stehen und drehte sich um. Von hier oben dachte er einen unglaublichen Ausblick zu haben, doch die Häuser um ihn herum versperrten ihm die Sicht. Alles was er sah, war den langen Weg, den er bereits hinter sich hatte und in weiter Ferne kleine aufblitzende Lichter, die schneller verschwinden zu schienen als sie aufgetaucht waren. Die Laternen waren die einzigen, steten Lichtquellen, doch ihr schwaches Licht vermochte lediglich ihre unmittelbare Umgebung zu erhellen. Der Schneefall wurde schwächer und er drehte sich wieder um und sah hinauf. Der Gipfel des Hügels verschwand in tiefster Dunkelheit. Es war scheinbar ein Ort, an dem es niemand für nötig hielt Licht zu machen. Wahrscheinlich war es ein Ort, den Menschen so selten betraten, dass es nie jemandem aufgefallen war, wie dunkel er bei Nacht ist. Schweren Schrittes ging er weiter, versuchte mit gleichbleibendem Tempo vorwärts zu gehen. Die Hände in seiner Manteltasche waren bereits eisig. Er hob sie an seine Lippen und hauchte sie an. Er konnte seinen warmen Atem nicht spüren. Entmutigt ballte er die Hände zu Fäusten und steckte sie wieder in die Manteltasche. Er versuchte beim Gehen seine Zehen zu krümmen, doch auch sie konnte er nicht mehr spüren. In der Hoffnung, bald einen warmen Ort zu erreichen, ging er zügiger. Schon bald atmete er schneller ein und aus, konnte sein rasendes Herz nicht kontrollieren. Fast befürchtete er in Ohnmacht zu fallen und von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Würde ihn jemals jemand vermissen? Oder würde er in Vergessenheit geraten? Er wusste es nicht, doch war er nicht erpicht darauf es heraus zu finden. Er atmete ein letztes Mal tief ein, legte die Arme eng an seinen Körper an und ging weiter. Trotz der Kälte und den rutschigen Straßen begann er zu laufen.
Gegen Mittag
Der Lärm betäubte ihm die Ohren. Zu viele Menschen. Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr an. Schneller und schneller bewegte sie sich, nur um wenige Minuten später quietschend zum Stehen zu kommen und noch mehr Menschen aufzunehmen. Die Luft war dick, der Sauerstoff rar. Irgendjemand hatte zu viel Parfume aufgelegt. Wieder schlossen sich die Türen, die Bahn fuhr an. Ihr Rütteln versetze die Menschen in Trance, dicht an dicht standen sie und suchten Halt. Der Mann mit der Narbe saß an einem Platz am Fenster und hatte die Augen geschlossen. Niemand sah ihn an, es war fast so als wäre er nicht existent. Weiter vorne hustete jemand, ein Mädchen auf der anderen Seite des Ganges hörte Musik, die durch ihre Kopfhörer nach außen schallte. Vor dem Fenster zog die Stadt vorbei, grau und regnerisch. Der Mann seufzte und versuchte es sich auf dem harten Sitz bequemer zu machen. Plötzlich wurde es dunkel als die Bahn durch einen Tunnel fuhr. Das Herz des Mannes raste. Als die Neonlampen flackernd zum Leben erwachten, krallte er sich in seinen Sitz und wurde geblendet vom Schmerz, der tief in seiner Brust verankert war. An der folgenden Haltestelle stieg er aus, schweißnass und immer noch voller Angst. Gemeinsam mit unzähligen anderen Fahrgästen bewegte er sich im Schutz der Anonymität an den Gleisen entlang Richtung Ausgang. Die Masse strömten an ihm vorbei. Hektik hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben. Als er sich auf der Rolltreppe an den äußeren Rand drängte, um Mütter, die genervt ihre Kinder hinter sich her zerrten, die Pendler mit ihren dunklen Anzügen und ausdruckslosen Gesichtern und die sonstigen Gestalten, die ohne besondere Beachtung für ihre Umgebung die Stufen erklammen, vorbei zu lassen, stieg ihm ein Geruch von Brathähnchen in die Nase. Der würzige Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Rolltreppe bewegte sich stetig weiter, bis er das Ende erreichte und durch den kleinen Bahnhof auf die Straße ging. Der beißende Geruch von Zigaretten ging von einem Mülleimer aus, er machte schnell einen Bogen darum und bog in eine kleine Gasse ein. Hier war es ruhiger, die Läden hier hatten schließen müssen und so bemühte sich niemand mehr, die unbefahrbare Kopfsteinpflasterstraße zu passieren. Der Mann mit der Narbe machte sich nichts daraus, dass ein paar Jugendliche, die rauchend in einem Hauseingang standen, ihn anstarrten und kicherten. Solange er nicht wieder in der Enge und Dunkelheit der Bahn sein musste, was ihm alles gleichgültig.
Greller Morgen
Der Tag begann für ihn immer auf die gleiche Art. Der Wecker klingelte. Ohne sich noch einmal umzudrehen und die Wärme des Bettes zu genießen stand er auf. Die ersten Sekunden des neuen Tages mochte er am meisten. In den ersten Sekunden, in denen er noch an seine Träume dachte und die Realität ihn noch nicht eingeholt hatte. Doch wenn sie es dann tat, und sie tat es jeden Tag mit gleicher Härte, sah er keinen Sinn darin etwas zu genießen. Während die Kaffeemaschine langsam vor sich hin plätscherte und ihren wohligen Duft in der kleinen Wohnung verbreitete, duschte er. Die Ärztin hatte gesagt, er solle die Narbe nicht zu oft berühren und heilen lassen, doch immer wenn er sein Gesicht im Spiegel sah, strich er über die Wunde. Sie war noch nicht ganz verheilt, die Fäden deutlich sichtbar und das Rot noch nicht abgeklungen. Er konnte den Anblick nicht ertragen, zu sehr schmerzte die Erinnerung an sie. Doch sie war weg. Während er sich weg drehte und weiter fertig machte, klingelte es an der Tür. Nicht an seiner Tür, hier hatte schon lange niemand mehr nach ihm gefragt, aber die neuen Nachbarn bestellten sich oft Pakete. Der Mann beobachtete den Postboten wie er wieder das Haus verlief und trank einen Schluck Kaffee. Er hatte für den Tag nichts geplant und würde einfach nur ein wenig spazieren gehen. Solange die Sache noch nicht abgeschlossen war, war er beurlaubt worden. Trotz der überfüllten Regale und zu dicht aneinanderstehenden Möbel wirkte die Wohnung groß. Leer und groß. Niemand konnte sie füllen. Er hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen, doch was nützte Reue jetzt noch?! Es war nicht seine Schuld, doch das nagende Gefühl in ihm behauptete etwas anderes. Sie würde nie wieder durch diese Tür kommen, ihn sanft küssen und seinen Tag erhellen. Er wusste nichts mit sich anzufangen und so ließ er die halb volle Tasse stehen und ging zur Tür hinaus. Vielleicht würde er einfach irgendwo hinfahren, etwas Neues sehen, die Gegend erkunden. Versuchen zu vergessen, was sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt hat. Schlurfend nahm er die wenigen Stufen nach unten, öffnete ohne jeglichen Elan die schwere Eingangstür und ließ sie hinter sich zufallen.
Dämmerung
Da stand er nun. Ohne es zu wissen, hatten seine Füße ihn wieder an jenen Ort getragen, an dem es passierte. Unwillkürlich zwang ihn sein Körper dazu hinzusehen und die Erlebnisse dieser verhängnisvollen Nacht noch einmal in Gedanken zu erleben. Sie hatte dort gelegen, ihre Augen geschlossen. Der Geruch des austretenden Benzins hatte seine Sinne verhüllt, die Sirenen in der Ferne wirkten wie vage Hoffnungsschimmer, die ihr Ziel nie erreichen würden. Er blickte sich um und sah die leere Straße. Nichts erinnerte mehr an den Zusammenprall und doch erinnerte ihn alles daran. Er lehnte sich an einen Baum, dessen Rinde an einer Seite abblätterte. Nur noch wenige Blätter hingen an seinen dünnen Zweigen. Wie ein Blitz traf den Mann der Schmerz. Auch in jener Nacht hatte er sich an den Baum gelehnt, sah zu, wie das Auto entbrannte und sie von den Flammen verschlungen wurde. Seine Sicht verschwamm. Die Erinnerung drohte ihm zu entgleiten, ihn wie ein unheilvoller Schleier jeden Tag zu verfolgen. Die Nacht wurde greller Morgen. Die Sonne tauchte die Wiesen in warmes Licht und erhellte die Szenerie. Langsamen Schrittes machte er sich auf den Weg. Wohin, das würde die Zeit zeigen.
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