[Archiv] Autorenwettbewerb #1

Adams Traum

„Fuck.“

„Fuck.“

„Fuck.“

Ein Schweißtropfen bildet sich auf seiner Stirn. Schlängelt sich langsam über seine Wange, kurz am Mundwinkel vorbei bis zum Kinn. Dort hängt er einen Sekundenbruchteil, fällt geräuschlos auf die heiße Erde Kubas. Jeder Schritt bringt ihn näher an die Kapelle. Jeder Schritt bringt ein neues,
kaum hörbares „Fuck“ hervor. Jeder Schritt bringt ihn vorbei an ausgetrockneten Palmen und verfallenen Mauern mit dem Antlitz Che Guevaras. Er hasst die heiße Sonne Mantanas. Einmal muss er noch hier sein. Kleine, baufällige Häuser standen dicht an dicht und tragen durch die offenen Fenster jedes Geräusch von innen nach außen auf die Straße. Der rauschende Ton der Fernsehgeräte, spielende Kinder, laut streitende Ehepaare, erregtes Gestöhn hier und da vermischt sich für ihn zu einer misstönigen Großstadtkakophonie. Doch mit jedem Schritt seinem Ziel näher, nimmt er die Stadt um sich herum weniger war. Sein Blick ist wie apathisch auf das Gebäude am Ende der Straße gerichtet, reibt seine Finger vor Anspannung immer wieder aneinander bis sie ganz rau sind.
„Fuck.“

„Fuck.“

„Fuck.“
Ein Mantra spukt in seinem Kopf. Zwei Monate lang hatte er im tiefsten Dschungel festgesessen. Sich am Anfang nur von Abfällen ernährt, später hätten sich selbst Schweine angeekelt von ihm ferngehalten.
„Fuck.“
Seine Gedanken fokussieren sich auf die Kapelle. Die kleine Kapelle am Ende der Straße. Als er vor der ramponierten Holztür angekommen ist, hält er inne. Seine Hand fährt in sein zerrissenes Jackett und holt seinen einzigen noch verbliebenen Besitz heraus. Ein silberner Flachmann, veredelt mit einem winzigen Smaragd auf dem Drehverschluss und den Initialen Tara A. Gallaghers auf der Unterseite. Er öffnet den Flachmann und stürzt den Inhalt in einem Rutsch hinunter. Er verzieht schmerzverzerrt das Gesicht, als sich der Alkohol durch seinen Hals brennt und Tränen steigen ihm in die Augen. Er hat Whisky schon immer gehasst.
Als er hört, wie sich die Tür der Kapelle knarzend öffnet, hebt er seinen Blick und sieht einen kleinen, dicken Mann aus dem Gebäude treten. Das weiße Hemd spannt sich um seinen massigen Körper und die lange, braune Kreuzkette hebt und senkt sich mit der Wampe des Pfarrers.
Der Pfarrer mustert ihn auffällig interessiert. Er kann es ihm nicht verübeln, ist sein Jackett doch voller Blutflecken, seine Hose zerrissen und mit Einschusslöchern überseht und seine Sonnenbrille hat nur noch ein Glas. Er hat keine Schuhe an und seine Füße sind dreckig, vernarbt und blutverkrustet. Das Auge, welches man auf Grund des fehlenden Glases sehen kann, ist weit aufgerissen und von einer Augenbraue fehlt jegliche Spur. Skeptisch bleibt der Pfarrer vor der Tür stehen.
Das sichtbare Auge zuckt, er schreckt aus dem Tagtraum auf und er sieht den Pfarrer unendlich lang und ausdruckslos an. Sein Blick fällt zurück auf den Flachmann. Ein kleiner Rest seiner Notration schwappte noch im Inneren. Er hob seine Hand und bot dem Pfarrer den letzten Rest an. Die Augen des Geistlichen weiteten sich freudestrahlend und er lacht beherzt.
Der Pfarrer geht durch die Tür ins Innere der Kapelle.
„Danke.“ Sagt er.
„Ohh! No hablo alemán!“
Er ignoriert die Worte des Pfarrers und folgt ihm. Sein Blick gleitet über die karge Einrichtung. Zerbrochenen Fenster, zerschrammte Bänke und von einem Altar fehlt jede Spur. Der Pfarrer macht es sich auf einem der hinteren Bänke gemütlich und unter seinem Gewicht ächzt sie laut auf.
„Fuck.“
Er folgt ihm. Neben dem Pfarrer wird seine ausgemergelte Statur noch deutlicher. Ihm fällt auf, wie sehr er dieser heruntergekommenen Kapelle ähnelt. Sein erster Besuch in diesem Haus Gottes liegt noch nicht lang zurück, doch fühlt es sich für ihn wie ein anderes Leben an. Die Kapelle war der schönste Ort in der ganzen Umgebung. Immer gut besucht von Bewohnern, war der Altar eine Sehenswürdigkeit an sich, die Unmengen an Touristen anlockte. Noch nie hatte er so etwas Beeindruckendes gesehen. Nie wieder würde er so etwas Beeindruckendes sehen.
Als er sich von seinen erneuten Tagträumen löst, starrt er an die Stelle, an der der Altar stand. Dort sieht man seit vier Monaten ein Symbol, das auf den Boden gesprüht wurde. Ein Währenddessen lehrt der Pfarrer den Flachmann und strahlt ihn rotbäckig an. Er achtet jedoch nicht darauf und lässt seinen Blick auf der leeren Stelle ruhen.
„There’s danger on the edge of town…“ summt er leise Taras Lieblingslied und holt tief Luft. Der Pfarrer verengt fragend die Augen.
“Fuck. Pfarrer. Jesus. Gott. Ich möchte beichten. Ich möchte dir beichten wie mein erfülltes Leben, meine Freunde, mein Besitz zu Staub wurden. Ich möchte dir beichten, dass ich alle zerstört habe, die ich berührt habe. Ich möchte dir beichten, dass niemand mehr lebt um meine Sünden zu belegen. Ich möchte dir beichten, dass Mord und Vergewaltigung nicht die schlimmsten Sünden sind, die ich begangen habe. Ich hoffe du hast viel Zeit, Pfarrer. Ich hoffe Gott hört mein Geständnis um mich danach direkt in die Hölle zu werfen um den Teufel abzulösen. Den selbst der Teufel wird sich angeekelt von mir abwenden und zurück in den Himmel wollen. Nach nur drei Jahren liegt alles in Trümmern. Städte. Menschen. Ich. “
Der Pfarrer sieht ihn immer noch fragend an und wiederholt:
„Amigo. No hablo alemán.“
Er nimmt die Stimme des Pfarrers nur als störendes Rauschen war. Fokussiert seine Sinne auf seine gesprochenen Worte. Er greift in seinen Hosenbund der von seinem Jackett verdeckt war und zieht eine schwere Pistole heraus. Der Pfarrer öffnet schreckgeweitet die Augen, ist starr vor Angst. Er legt die Waffe auf seinen Schoss und seine zum Gebet gefaltet auf die Pistole.
„Fuck. Mein Name ist Gabriel und dies, Gott, ist mein Geständnis. Für einen Tag vor drei Jahren. Für einen Traum am Grab.“
Keine Wolke verdunkelte den Augenblick, kein Regentropfen trübte den Blick. Die Sonne stand hoch am Himmel, wie um der ganzen Welt von diesem Tag erzählen zu wollen. Wie um den Anschein zu erwecken, heute wäre ein Tag wie jeder andere. Schweigend standen sie vor dem tiefen Loch im Boden. Warteten auf den Sarg. Tara stand an seiner Seite und Tränen liefen seit Stunden über ihr Gesicht. Gabriel hatte den Blick fest auf die Öffnung in der Erde gerichtet. Starr. Taub und blind für alles andere. Sein ganzer Körper fühlte sich leer an. Wie ein gefülltes Glas Wasser, das auf den Boden fällt und in tausend Stücke zerspringt. Er spürte nicht, dass Tara sich an ihm festkrallte, Angst den Halt zu verlieren. Er spürte nicht, wie die letzten Gäste der Beerdigung an ihm vorrübergingen. Er spürte nicht, wie Stunden vergingen ohne eine einzige Regung. Nur ein einziger Gedanke kreiste durch seinen Kopf. Schuld.
*
Tara hatte ihren Kopf in Gabriels Schoß gelegt. Die Augen geschlossen, denn die Sonne stand hoch am Himmel, wie um diesen Tag besonders in Erinnerung zu halten. Ihnen gegenüber
_saß Taras Bruder Adam und sah verträumt in die Sonne. Als Tara begann laut zu schnarchen, lachten Gabriel und Adam laut auf und Gabriel verfrachtete ihren Kopf vorsichtig auf ein Kissen und deckte sie mit einer leichten Sommerdecke zu. Adam sah ihm dabei zu, wie liebevoll er sich um seine Schwester kümmerte. _
_„Wann willst du es ihr sagen?“ fragte er Gabriel unerwartet. Dieser sah ihn überrascht an. Doch die Überraschung wich schnell einer tiefen Traurigkeit. _
„Fahren wir ein Stück?“
„Wie du willst.“
Gabriel stand auf, stellte sich hinter Adam und nahm die beiden Griffe des Rollstuhls in die Hand. Adam löste die Bremsen und lies sich von Gabriel schieben. Eine ganze Weile
_liefen sie schweigend durch den riesigen Park, vorbei an strahlend grünen Bäumen und Sträuchern und einer kaleidoskopartigen Ansammlung hunderter verschiedener Blumen und Blüten. _
„Wann willst du es ihr sagen?“ wiederholte Adam seine Frage.
_„Adam…“ fing Gabriel seinen Satz an und ging um Adams Rollstuhl herum. Kniete sich vor ihn und legte Adams Hand in seine. Adam spürte die Hitze die von Gabriels Körper ausging und wurde sofort rot. Sein Gegenüber zog am Rollstuhl etwas nach oben und gab Adam einen langen, warmen Kuss auf die Lippen. Adam schloss die Augen und erwiderte den Kuss. _
„Bald.“
Adam lachte leise auf.
„Gabriel, seit dem ich in diesem Mistding sitze, gibt es nichts was ich mehr begehre als dich. Aber du bist mit meiner Schwester seit zehn Jahren zusammen. Jeden Tag aufs Neue geisele
ich mich selbst und denke, dass ich zurecht in diesen Ketten gefangen bin. Und ich würde mich auch erneut zehn Jahre lang geiseln. Aber ich kann das meiner Schwester nicht mehr antun. Wir drei sind….wir drei waren schon immer unzertrennlich.“
„Ich weiß, dass du Recht hast, Adam. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment es ihr zu sagen. Ich muss mein Leben erst in den Griff bekommen.“
„In den Griff bekommen? Du meinst diese dubiosen Drogendealer die du in deinen Fällen vertreten, aber dann kalte Füße bekommen hast? Oder so etwas wie moralische Vorstellungen entwickelt hast?“
_Gabriel wich Adams durchdringenden Blick aus. Scham. _
„Gib mir etwas Zeit. Ich möchte dich und Tara nicht in Dinge verwickeln, die noch gefährlich werden könnten.“
„Was zum Teufel hast du da eigentlich getrieben?“
„Kann ich dir nicht sagen, Adam. Glaub mir einfach, dass du damit nichts zu tun haben willst.“
„Gabriel…“ Adams Stimme zitterte jetzt. „Ich liebe dich. Aber morgen musst du meiner Schwester sagen, was wir hier treiben. Lass es uns zusammen tun. Ich will dir nicht allein diese Bürde auftragen. Lass es uns ihr zusammen sagen.“
_„Morgen.“ _
„Morgen.“ Wiederholte Adam und beugte sich zu Gabriel vor um ihn erneut zu küssen. Der Kuss hielt eine Ewigkeit, eine Unendlichkeit. Es gab keinen Park. Keine Menschen. Keine Tara. Keinen Rollstuhl. In seinen Gedanken lag Adam auf Gabriels nacktem Körper und nahm die gesamte Hitze seiner Liebe in sich auf. Adam träumte und wollte sich nie wieder von Gabriel lösen.
*
_Schuld. Schuld quälte ihn vor Adams Grab. Schuld, dass er einen Fehler gemacht hatte, den er nie wieder rückgängig machen konnte. Schuld, dass er Tara belogen und betrogen hatte. Er fing an zu zittern. Ein falsches Wort war ihm damals über die Lippen gekommen. Einmal zu viel hatte er sich mit den falschen Leuten eingelassen und ihnen vertraut. Einmal zu viel wurde er Missverstanden. Die Konsequenz war Adams Grab. _
_Das Zittern wurde stärker. Setzte sich von seinen Händen über seinen ganzen Körper bis zu seinen Zehenspitzen fort. Seine letzte Kraft schwand und er fiel auf die Knie, den Kopf nach unten gebeugt. _
_„Gabriel…“ flüsterte Tara mit tränenerstickter Stimme. Doch Gabriel nahm sie nicht wahr. Gabriel würde nie wieder irgendetwas wahrnehmen. Nicht bis er das bekommen hatte was er wollte. Was er in diesem Moment beschlossen hatte. Eine Träne schlängelt sich langsam über seine Wange, kurz am Mundwinkel vorbei bis zum Kinn. Dort hängt sie einen Sekundenbruchteil, fällt geräuschlos auf die die kalte Erde des Grabes. Sein Kopf brennt. Verbrennt jegliches Gefühl. Nur ein Gedanke überlebt das Feuer. Ein Traum. Adam. Ein Traum an Adams Grab. Den Traum, jeden einzelnen zu töten, zu foltern, zu massakrieren, der nur im Entferntesten etwas mit Adams Tod zu tun hatte. _
Gabriel stand auf und drehte sich zu Tara um. Das Feuer brannte in seinen Augen.
„Fuck.“

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Werwolf nach nur einem Tag

Ich packte ein paar Sachen zusammen, zog mich an und verließ das Haus. Niemand hielt mich auf. Denn letztlich bin ich niemand. Ich musste gehen und etwas zu finden. Ich schrieb eine Nachricht an meine Mutter.
„Suche nicht nach mir.“
Mehr ließ ich nicht zurück. Ich gehöre hier nicht hin. Ich bin ein Monster, doch das sollte sie besser wissen als ich. Ich muss in die große Welt gehen und heraus finden wie ich damit leben kann.
Es ist nicht so das ich eine rebellische Phase habe oder dergleichen. Es ist etwas vorgefallen.
Ich wurde bedroht. Ich war an einem Wochenende nachts auf dem Heimweg als ein Typ mit einem Messer auf mich zu rannte und mich erstochen hat. Ja. Er hat mich erstochen. Ich blutete sehr stark, und doch schaffte ich es das Messer wieder raus zuziehen. Seltsam sind hier zwei Dinge: Ich stand noch auf den Beinen und zog mir gerade ein Messer aus dem Bauch als wäre nichts und dann noch die Tatsache das ich es Tat ohne mir überhaupt bewusst zu sein was ich gerade tat. Mein Körper zog das Messer von alleine raus. In meinem Kopf herrschte zu dem Zeitpunkt Panik. Mein Körper machte weiter in dem er das Messer auf den Boden fallen gelassen hat. Das letzte, an das ich mich erinnerte, war das ich ihn gebissen habe. Danach wachte ich ganz normal in meinem Bett auf.
Die Wunde war nicht mehr da. Erst dachte ich es war ein Traum, bis ich meine Mutter bemerkte die an meinem Bett saß und mich ansah als wäre ich ein Geist.
Sie flüsterte: „Es ist soweit. Du bist soweit.“
Der Radiowecker ging an und ich hörte die Nachrichten.
„Heute Morgen fand die Polizei eine Leiche im Wald, laut Augenzeugenberichten mit diversen Kratz- und Bissspuren die einem Tier ähneln.“
Sofort wusste ich, es war kein Traum. Erschrocken sah ich zu meiner Mutter.
„Mum, was geht hier vor?“
„Schatz, hör mir jetzt zu. Es ist alles in Ordnung. Du wirst lernen damit umzugehen. Wir bringen es dir bei.“
„WIR? Wer ist WIR?“
„Die Menschen nennen sie Werwölfe.“
„Du verarscht mich doch. Mum. Die gibt es nicht.“
„Doch. Und du bist eine von ihnen. Ich meinte… von uns.“
Mir wurde schlecht.
„Ich lass dich wohl erst mal alleine. Ich fahre zur Arbeit. Heute Abend sprechen wir nochmal.“
Das war einfach zu viel für mich. Ich legte mich erst mal wieder ins Bett. Doch nicht mal 10 Minuten später habe ich mich entschlossen zu gehen.

Mit gepackten Sachen lief ich davon. Ich ging zu Fuß. Richtung Norden in den Wald. Direkt daneben lag ein verlassener Güterbahnhof. Die Sonne ging langsam unter. Es ist Nacht.
Es verging jetzt genau ein Tag seit diesem Vorfall.
Der Mond schimmert rot. Ich wollte schlafen doch ich konnte nicht. Irgendwas sagte mir das ich jetzt in den Wald gehen muss. Es war wie ein Verlangen das ich zu stillen versuchte.
Ich ließ den Rucksack ließ ich am Güterbahnhof. Ich rannte einfach los. Ich merkte, dass ich mich übernatürlich schnell bewegte.
Doch es war mir in diesem Moment egal. Ich rannte bis ich eine Lichtung fand. Das Mondlicht strahlte rot schimmert hinein. Ein leichter Abendwind wehte durch die Büsche. Ich blieb genau in der Mitte stehen.
Danach sah ich rot leuchtende Augen rund herum aus den Büschen an der Lichtung. Alle sahen mich an.
Ich hörte Wolfsgeheul. Die roten Augen gaben sich zu erkennen.
Ein Rudel Wölfe umzingelte mich.
Dann trat eine weitere Gestalt aus den Büschen. Meine Mutter!
Sie kam näher an mich und strich mit ihrer Hand über meinen Kopf.
„Schatz, du brauchst keine Angst zu haben.“
„Mum? Wie hast du mich gefunden?“
„Wir Werwölfe sind miteinander verbunden.Und wenn ein junger Wolf erwachsen wird, schließt er sich nach einem Tag nachdem seine Kräfte zum Vorschein kommen dem Rudel an. Wir sind eine Familie.“
„Das verstehe ich immer noch nicht so ganz. Ich bin doch kein Wolf.“
Erst sah sie mich überrascht an und dann lächelte sie mich an.
„Schau mal an dir runter Kleines.“
Also tat ich dies. Ich war sehr erschrocken als ich bemerkte das ich keine Hände und Füße mehr hatte, sondern schwarze mit langem Fell bedeckte Pfoten.
„Was zur Hölle?!“
„Hab keine Angst.“
Nachdem sie das gesagt hat, transformierte sie sich in einen grauen Wolf.
Ich verstand immer noch nicht ganz, aber ich fühle mich bei dem Rudel geborgen.
Und all dies passierte an einem Tag…

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

(K)ein Morgen wie jeder andere

Langsam öffnet er die Augen. Im Zimmer ist es dunkel, aber durch die gekippten Fenster kann er das Zwitschern eines Vogels hören. Es muss also früh am Morgen sein. Montagmorgen um genauer zu sein. Er dreht sich und greift nach dem Handy auf seinem Nachttisch. Das Licht des Displays blendet ihn, als er es einschaltet. 6:10Uhr. Noch viel zu früh um aufzustehen, aber aus Erfahrung weiß er, dass er jetzt nicht wieder einschläft. 11 Nachrichten in 2 Gesprächen bekommt er angezeigt. Er öffnet die Gruppe seiner Fußball-Freunde. Ein Video mit dem Siegtor des Spiels am Wochenende und sieben Kommentare wie „Nice“ und „Geil“ dieses ist. Das zweite Gespräch beinhaltet einige Spaßbilder seiner Kollegen. Er legt das Handy wieder weg ohne etwas zu schreiben. Mit einem murren schlägt er die Bettdecke zurück, steht auf und streckt sich. Sein Rücken tut weh von der zu kurzen Nacht. Er geht ins Bad und dreht die Dusche auf. Ein kurzer Blick aus dem Fenster. Langsam wird es hell draußen. Die schwarze Nachbarskatze schleicht durch den Gemeinschaftsgarten und beobachtet den immer noch zwitschernden Vogel. Er dreht das auf dem Fensterbrett stehende Radio an. Das ertönende Lied kennt er nicht. Es gefällt ihm nicht. Er nimmt ein Handtuch aus dem Regal neben dem Waschbecken, hängt es an die Tür der Dusche und steigt hinein. Das Wasser ist seit Tagen einen Tick zu kalt und der Druck stimmt nicht. Die Hausverwaltung weiß schon Bescheid. Morgen soll ein Monteur kommen.
Nach der Morgenhygiene geht er zurück ins Schlafzimmer und öffnet den Kleiderschrank. -Boxershorts, Socken, blaue Jeans, buntes T-Shirt, brauner Gürtel. Ein Blick in den Spiegel. Er sieht müde aus und zum Friseur muss er mal wieder. Seine blonden Haare hatte er im Bad akkurat zurecht gegelt, doch jetzt hingen sie ihm schon wieder etwas ins Gesicht. Vorsichtig zupft er sie noch einmal in die gewünschte Form. Vom Nachttisch nimmt er seine silberne Uhr und macht sie ans linke Handgelenk. 6:57Uhr. Immer noch viel zu früh. Er steckt sein Handy in die rechte Hosentasche und sein Portemonnaie in rechte Gesäßtasche. Im Flur zieht er schwarze Sneakers und eine schwarze Harrington an. An der Wohnungstür nimmt er seinen Schlüssel vom Brett und verlässt die Wohnung. Unten an der Treppe angekommen öffnet er die Haustür und erschrickt als die Nachbarskatze an ihm vorbei in den Flur huscht. „Mistvieh“ geht ihm durch den Kopf und er geht hinaus.
Mittlerweile ist es hell, auch wenn die Sonne es noch nicht über die Reihe der angrenzenden Häuser geschafft hat. Die Straße ist menschenleer. Er geht zu seinem Auto, öffnet die Tür und steigt ein. Aus dem Handschuhfach nimmt er eine Schachtel Zigaretten, nimmt eine heraus, steckt sie sich in den Mund, drückt auf den Zigarettenanzünder am Armaturenbrett, wirft die Packung zurück und schließt das Fach wieder. Eigentlich hatte er aufgehört, aber im Auto bewahrt er immer noch eine Schachtel auf falls es ihn mal überkommt. Er startet das Auto und öffnet sein Fenster. Der Zigarettenanzünder springt heraus. Er zündet die Zigarette an, nimmt einen Zug und fährt die Straße hinunter. Beim Bäcker an der Ecke hält er an. Er zieht noch zweimal an seiner Zigarette und drückt sie im Aschenbecher aus. Er holt sich ein Brötchen und einen Kaffee. Die Bedienung ist neu. Freundlich. Hübsch. Zurück in seinem Auto kommt schon wieder das Lied aus dem Bad. Es gefällt ihm immer noch nicht. Scheint wohl der neuste Hit zu sein, wenn der jetzt öfter läuft. Er fährt los. 7:15Uhr. Er nimmt einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Die neue Bedienung hat den Zucker vergessen.
An der nächsten Kreuzung biegt er links ab. Zur Arbeit muss er quer durch die Stadt. Mit dem Auto dauert es fast doppelt so lang, aber öffentliche Verkehrsmittel mag er nicht. Zu viele Leute. Zu viel Verspätung. Er biegt in einen Hinterhof ein und parkt sein Auto. Scheinbar ist er der Erste. Nur der das Fahrrad des Kollegen der Frühschicht steht angeschlossen in der Ecke. Er nimmt den Kaffeebecher aus der Halterung und steigt aus. Auf dem Weg zum Hintereingang wirft er den Becher in einen Müllcontainer. Er öffnet die Tür geht hindurch und lässt sie hinter sich ins Schloss fallen. Er geht eine Treppe hoch und durch eine Tür in die Büroräume. Es ist wirklich noch niemand da. Er geht in die Küche. Er nimmt die Kanne aus der Kaffeemaschine, schüttet die Reste vom Vortag ins Waschbecken und füllt neues Wasser in die Maschine. Auch der Kaffeefilter vom Vortag ist noch in der Maschine. Er entsorgt ihn im Mülleimer und legt einen neuen ein. Er gibt neun Löffel Kaffeepulver in den Filter, klappt den Deckel zu und drückt den Einschalter. Er geht an seinen Schreibtisch und fährt seinen Computer hoch. 8:30Uhr. Er klickt sich durch ein paar neue E-Mails. Reiseunterlagen für den Flug nach Los Angeles nächste Woche. Informationen über neue Produkte verschiedener Firmen. Spam. Er geht in die Küche und holt sich eine Tasse des durchgelaufenen Kaffees mit einem Löffel Zucker. Durch das Fenster sieht er, dass die ersten Kollegen eintrudeln. Er geht zurück an seinen Schreibtisch. Zwei seiner Kollegen kommen durch die Tür und grüßen ihn. Er nickt ihnen zu und schaut wieder auf den Bildschirm. Die Kollegen werfen sich einen Blick zu und gehen in die Küche. Er nimmt sich den Kopfhörer, der auf seinem Computer liegt, setzt sich diesen auf und beginnt mit den Recherchen für den heutigen Tag.
Jemand tippt ihm auf die Schulter. Er zuckt leicht zusammen, dreht sich etwas genervt um und blickt in das Gesicht einer Kollegin. Wiederwillig zieht er den Kopfhörer von den Ohren in den Nacken. In 10 Minuten wäre er dran. Wo er denn bleibe. Er schaut auf die Uhr im unteren rechten Eck seines Bildschirms. 10:18Uhr. Er murmelt eine kurze Entschuldigung, setzt den Kopfhörer ab und legt ihn auf den Computer. Dann klickt er mit der Maus. Noch ein Klick. Und noch einer. Dann rattert der Drucker der neben seinem Schreibtisch auf der Fensterbank steht. Er schaltet den Bildschirm aus, erhebt sich aus seinem Stuhl und entnimmt die beiden Blätter, die der Drucker grade ausgespuckt hat. Eigentlich wäre er heute gar nicht dran gewesen, aber der Kollege, der im Plan stand hatte sich am Vortag kurzfristig krank gemeldet. Da er morgens schon etwas länger nicht ran musste, hatte es ihn getroffen. Die Zeit hatte natürlich nur für eine semi-gute Vorbereitung gereicht, aber meistens konnte man sich eh nur grob an einem roten Faden entlanghangeln.
Er folgte seiner Kollegin in den angrenzenden Raum. Ein weiterer Kollege war schon da und fummelte etwas an der Technik zurecht. Er grüßte ihn knapp und legte seine Vorbereitung auf den hier aufgestellten Schreibtisch. Auf einem Bildschirm lief ein Timer. Noch 6 Minuten 32… 31… 30 Sekunden. Die Kollegin kam mit einem Döschen und einem Pinsel auf ihn zu, tupfte ihm dreimal durchs Gesicht und verschwand wieder. Etwas genervt schaute er auf den Schreibtisch. Er hatte seinen Kaffee vergessen. Ein Blick auf den Timer. 4 Minuten 48… 47… 46 Sekunden. Er ging noch einmal ins Büro und nahm sich seine Tasse vom Schreibtisch. In der Küche füllte er die Tasse mit noch etwas Kaffee und ging dann zurück. 1 Minute 25… 24… 23 Sekunden. Er schaute in einen kleinen an der Wand hängenden Spiegel. Er sieht immer noch müde aus, aber nach zwei Tassen Kaffee fühlt er sich schon besser. Er setzt sich an den Schreibtisch, legt die beiden Blätter für den Ablauf zurecht und weckt den Laptop der vor ihm steht aus dem Ruhemodus. Der Kollege der noch mit ihm im Raum ist, kommt zu ihm und legt ihm ein Mikrofon an. 11… 10… 09 Sekunden. Er murmelt etwas ins Mikro. Auf einem Zweiten Bildschirm neben dem Timer erscheinen die Buchstaben OK und die Zahl 4.118. Auf einem dritten Bildschirm sieht er sich selbst zur Kontrolle. Er nimmt einen Schluck vom Kaffee. Ein Grinsen legt sich ihm ins Gesicht. Er hat den Zucker vergessen. “Vielleicht wird heute ja doch nicht so ein schlimmer Tag” denkt er. Alles ist bereit. 4… 3… 2… 1… Er schaut in die vor sich aufgebaute Kamera, lächelt und sagt mit fester Stimme: , Moin moin und herzlich willkommen zu MoinMoin, eurer Morning Show auf RBTV!“

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Nicht genug Klebeband

Arvin drang mit seinem Raumschiff durch die unbekannte Atmosphäre. Es ruckelte ein wenig, doch sie brauchten nicht lange, schon waren sie der Planetenoberfläche näher gekommen. Unter ihnen erstreckte sich karges Land, auf dem man nichts Genaueres erkennen konnte. Keine Dörfer oder Städte, keine Wälder, nicht mal eine Ansammlung von toten Bäumen oder Gestein. Arvin blickte betrüb hinab „Was ist das für ein langweiliger Planet? Hier finden wir bestimmt keine Ersatzteile, geschweige denn Zivilisation…“. Sein metallischer Freund klickte zur Antwort und zuckte mit den kleinen Ärmchen, die er im Innenraum an den Wänden trug.
„Ich weiß,“ seufzte er „ein Versuch ist es Wert.“ Sie steuerten tiefer auf den Boden zu und erblickten einen kleinen dunklen Fleck, der sich bewegte. „Siehst du das?! Das gucken wir uns genauer an!“ sagte Arvin aufgeregt und drückte auf’s Triebwerkpedal. Als sie näher kamen, erkannten sie, dass ein menschenähnliches Wesen, mit violetter Haut, ein leeres Ruderboot an einem Seil hinter sich her zog. „Wozu hat er hier ein Boot?!“ fragend schaute Arvin auf ihn herunter.
Das Raumschiff setzte sanft auf den Boden auf und überprüfte die Atmosphäre. „Genug Sauerstoff um normal zu atmen, perfekt.“ Das Cockpit klappte auf und mit einem Satz war Arvin draußen, prüfend stapfte er auf der Stelle, der Boden war überraschend hart. Dann schaute er sich nach dem Wesen um, sie waren nur ein paar Meter neben ihm gelandet. „Hey“ sein metallischer Freund rollte langsam hinter ihm her. „Warum ziehen Sie hier ein Boot?“ „Warum ziehen Sie keins?!“ gab das Wesen zurück. Arvin ignorierte diese seltsame Antwort und widmete sich der wichtigeren Frage. „Wo finde ich hier die nächste Zivilisation?“ Lachend schüttelte das Wesen seinen Kopf. "Gehen Sie einfach in diese Richtung.“ Er zeigte hinter sich „Gehen Sie so lange, bis sie auf riesig aussehende Steine treffen, dort gibt es einen Ramschladen.“ „Sind Sie sicher?! Ich habe mir die Gegend von Oben angeguckt…“ Er legte den Kopf schief. „Gehen sie einfach in diese Richtung!“ Arvin zuckte mit den Schultern, bedankte sich und stieg wieder in sein Cockpit. Das Wesen zog jetzt noch kräftiger am Seil und fing deutlicher an zu schwitzen. „Warum nur zieht er hier ein Boot, ich verstehe das nicht…“, nuschelte Arvin in sich hinein und startete die Schwebedüsen. Sie setzten vom Boden ab und begaben sich in die Richtung, in die das Wesen gezeigt hatte. „Hält das Klebeband eigentlich noch, was ich um deine Kabel gemacht habe?“ Klick klick. „Ok, dann lass uns diesen Laden schnell finden, aber wo nur, ich kann schon diesen violetten Typen nicht mehr sehen.“ Arvin drückte sich an die Scheibe „Mist…alles um uns herum sieht gleich aus…“.
Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs ob Stunden oder doch nur Minuten konnten sie gar nicht sagen, es schien eine Ewigkeit zu dauern. Arvin frage seinen metallischen Freund immer wieder, ob er auch nicht im Kreis fliegen würde, dieser verneinte, schien sich aber dennoch unsicher zu sein. „Ich habe Hunger und…wie lange hältst du noch durch?“, quengelte er leise. Da wedelten die kleinen Ärmchen schon um ihn herum und die Scheinwerfer blinkten deutlich in eine Richtung. In der Ferne konnte man die wagen Schemen von Felsen erkennen. Arvin ist vor Verzweiflung schon im Kreis gegangen, jetzt schmiss er sich freudig in seinen Stuhl zurück und drückte die Knöpfe am Steuerknüppel durch. Mit dem festen Ziel vor Augen verging die Zeit viel schneller und Arvin hoffte dass dieser Laden überhaupt etwas Brauchbares für sie hatte. Als sie näher kamen, türmten sich die Felsen wie tiefe schwarze Schatten über ihnen auf. Der Laden war nicht schwer zu erkennen, er war zwar in die Steinwände eingelassen, hatte aber wohl so viel Plunder, das er ihn vor die Tür geschüttet hatte Arvin setzte sein Raumschiff ab und schaute sich das Gerümpel näher an. Er fing an in einem Berg aus Metallschrott zu wühlen und fischte erfolgreich ein paar Kabel heraus. Triumphierend hielt er sie hoch und grinste seinen metallischen Freund an. Im Laden sah es nicht besser aus als Draußen. Überall lag Zeug herum, die Regale quellten über und der Geruch passte sich dem Ambiente an. An der Kasse entdeckte er eine Kühltheke und dahinter ein schmieriges Lebewesen. Arvin schritt auf die Theke zu und seine Augen fingen an zu leuchten, dort stand eine ganze Palette an Eiern! „Die Kabel hier, ähm, den Schokorigel und die Eier.“ Das Lebewesen tippte etwas in seine Kasse, Arvin bezahlte und schritt mit den Kabeln und den vorsichtig balancierten Eiern aus dem Laden.
„Guck was ich gefunden habe!“ rief er freudig seinem Raumschiff zu „Jetzt gibt es wieder Omeletts!“ Klick klick. „Ja und die Kabel habe ich auch dabei.“ Lächelnd stieg er ein und packte die Eier in den Kühlschrank. Währenddessen steuerte sein metallischer Freund langsam zwischen die Felsen. Auch wenn sie bedrohlich wirkten, fühlte er sich hier sicherer.
Arvin zog sich seinen Werkzeuggürtel an und fing an, außen am Schiff eine Platte ab zu schrauben. Nun begutachtete er das Klebeband, das schon halb abgewickelt hing. „Da haben wir ja noch mal Glück gehabt“, sagte er lachend und begann das Alte gegen das Neue zu ersetzen. Nach getaner Arbeit schraubte er die Platte wieder fest, streckte sich, gähnte und schob sich den Schokoriegel rein. „So, alles fertig. Und zum Frühstück gibt es Omeletts!“
Am nächsten Morgen stand Arvin auf und schlurfte müde in die Küche. Noch in Boxershorts öffnete er den Kühlschrank und tastete nach den Eiern, doch da war Nichts. Ungläubig blicke er hinein. Leer. Arvin schaute sich um „Hast du die Eier schon raus genommen?“
kl-ick kl-ick. „Achso, du bist gerade erst aufgewacht…komisch ich hätte schwören können…ach, ich ziehe mich erst mal an und dann gucken wir, ob das Kabel gehalten hat.“ Draußen schraubte er wieder die Platte los, doch da war wieder das alte kaputte Kabel mit dem Klebeband, was ihm im Wind spöttisch zu winken schien. Arvin konnte seinen Augen nicht trauen „Weißt du was?! Das war bestimmt der Ladenbesitzer, erst lässt er alles bezahlen und dann holt er es sich in der Nacht wieder, dem werde ich’s zeigen!“ Mit dem Schraubenzieher in der Luft wedelnd stapfte er los. Aber um die Ecke des Felsens war kein Laden, nicht mal ein Schrottteil lag auf dem unberührten Boden. Arvin strich die Felswände entlang. „Der war doch Gestern noch da…was wird hier gespielt?“ Immer noch leicht wütend und verwundert ging er zurück, drückte das Klebeband noch einmal fest, schraubte zu und setzte sich ins Cockpit. „Ach man, der Laden ist weg, genau wie mein Geld…dein neues Kabel übrigens auch…lass uns hier abhauen, wir suchen uns eine Raststätte.“ Sein Raumschiff schmiss die Motoren an, fing aber an, das Cockpit aufleuchten zu lassen und blieb bei einer orangenen Farbe. Der Motor war wieder aus. „Was ist los, gehts dir nicht gut?“ Müde hebte sich ein Ärmchen und die Scheinwerfer leuchteten flackernd auf. „So ein Mist, das liegt aber nicht am Kabel, oder?“ Klick-klick. „Gut, Bordcomputer! Was ist das hier für ein Planet?“ Der Computer neben dem Cockpit blätterte in einem Buch, hielt an einer Seite inne, zeigte sie Arvin und deutete auf einen markierten Text:
Der Planet „Ulnrugna“, auch bekannt als „Ulgna“ ist bei Reisenden sehr beliebt. Durch die glatte Oberfläche und die Weiten des Nichts lockt er seine Besucher an. Wenn sie dort etwas kaufen, verschwindet es am nächsten Tag, genau wie ihr Geld. Dies sind beliebte Taschenspielertricks. Sie müssen zu „einem Tag“ gehen und es um Vergebung bitten, nur so bekommen sie ihr Hab und Gut zurück. Folgen sie einfach den Wesen mit den Booten, sie gehen immer zu „einem Tag“.
„Zu einem Tag? Machen die Wesen mit den Booten eine Zeitreise, oder was?“ Arvin verdrehte die Augen. „Dann müssen wir wohl das Wesen mit seinem Boot wieder finden, und dich muss ich wohl ziehen…“ Draußen am Cockpit band Arvin ein Seil fest und band es sich um die Hüfte. „Rollen kannst du aber noch, oder?!“ Müdes Scheinwerferaufleuchten, mehr bekam er als Antwort nicht. „Gut, dann gehen wir mal.“ Mühsam machten sie sich auf den Weg. Da der Boden aber kaum Unebenheiten aufwies, kamen sie besser voran als gedacht. Es dauerte auch gar nicht lange, da fanden sie das violette Wesen mit seinem Boot wieder. „Hey, du bist ja noch unterwegs“, rief Arvin ihm entgegen. Das Wesen blickte kurz zu ihm und wandte sich dann wieder nach vorne. „Jetzt ziehen Sie ja auch ein Boot.“ „Ein Schiff!“ „Aha, wollen Sie mir Gesellschaft leisten?!“ „Ja“, zögerte Arvin „Du gehst doch zu diesem sogenannten Tag, da muss ich auch hin.“ „Ahh…lass mich raten, ihnen wurden ihre Sachen gestohlen?“ „Genau.“ „Und jetzt wollen sie sie zurück holen?“ Das Wesen fing an tief und laut zu lachen. Arvin guckte es finster an „Was genau ist denn dieser eine Tag?“ Das Wesen verstummte plötzlich. „Nicht was, sondern wer…“ „Und wer ist das?“, wiederholte Arvin jetzt genervt. „Psst. Darüber darf man nicht sprechen, geh einfach mit und sieh, was passiert, dann darfst du bei einem Tag vorsprechen.“ Schweigend gingen sie nebeneinander her. Arvin wusste nicht in welche Richtung sie gingen und sah nichts, außer dem sandigen Boden.
Doch nach einiger Zeit gesellte sich ein neues Wesen mit einem Boot dazu und in der Ferne konnte man weitere erkennen. Das Raumschiff begann leicht zu zittern. „Es scheint zu spüren, dass es gleich beginnt“, sagte das violette Wesen ruhig. „Aber was…“ Arvin sprang zurück, der Boden begann zu beben und vor ihnen tat sich ein Spalt auf, der sich durch den Sand schlängelte. Dann gab es plötzlich einen lauten Knall, der das Raumschiff in Panik versetzte und es wie wild Lichtsignale an allen Seiten einschalten ließ. Arvin ging einen Schritt zurück und legte eine Hand auf das Cockpit. Aus dem Boden schob eine riesige runde Steinplatte hervor die laut krachend den Riss wieder verschloss. Sie hatte mehrere Meter Durchmesser, alte bröckelige Säulen zierten den Rand und in der Mitte befand sich eine kleine Erhöhung. „Ähm…ist das jetzt der…eine Tag?“, fragte Arvin zögerlich, der vor Schreck seinen metallischen Freund umklammerte. „Psst, jetzt kommt’s“, raunte das Wesen und ging auf die Knie. In der Mitte der Platte bildete sich blauer Nebel und plötzlich, stand dort eine Frau. Sie war komplett rot, von ihrer Gesichtsfarbe, bis zu ihrem bodenlangen Kleid. Ihre Arme schienen bis zum Boden zu reichen und dazu ruhten auf ihren Schultern ruhten neun identische Köpfe. Alle öffneten gleichzeitig ihre Augen und blickten in die Runde. Arvin blieb wie angewurzelt stehen, fasziniert von diesem Anblick. Die Augenpaare richteten sich ruckartig auf ihn. „Wer seid Ihr, dass ihr es wagt, nicht nieder zu knien?“, sprach die rote Frau mit fester und hallender Stimme. Arvin blickte sich kurz um. „Ich knie vor niemanden!“, sagte er bestimmend, zwinkerte ihr aber zu. Angewiedert verzog sie ihre Gesichter. „Ich bewundere deinen Mut, wer auch immer du sein magst. Warum bist du hier?“ „Ich bin Arvin, Abenteurer, mein Raumschiff startet nicht mehr und die Kabel und die Eier die ich bezahlt habe sind weg.“ „Warum kommt Ihr dann zu mir?“ „Gebt mir die Sachen wieder und macht mein Schiff klar!“ sagte Arvin ernst. „Für wen hälst du mich eigentlich?“ fauchte sie „Eine Hexe oder sowas Ähnliches…“, grinste er belustigt. „Jetzt reichst! Du verbeugst dich nicht, zeigst mir gegenüber keinen gebührenden Respekt und forderst meine Kräfte für sinnloses Zeug. Hinfort mit dir!“. Sie streckte ihre Arme aus, hob ihre neun Köpfe und ihre Augen leuchteten in einem blauen Licht. Arvin wurde angehoben, das Cockpit öffnete sich und er wurde hineingesetzt. Sein metallischer Freund fing an zu wackeln, zu leuchten und zu klicken. Arvin konnte sich nicht dagegen wehren und musste hilflos zusehen. Jetzt wurde sein Raumschiff angehoben und der Boden entfernte sich unter ihnen. Er konnten kaum noch die runde Plattform erkennen, bis sie langsam aus der Atmosphäre gedrückt wurden. Im All angekommen hörte die Kraft auf zu wirken und Arvin atmete erleichtert auf, genauso wie sein metallischer Freund die die Lämpchen auf grün schaltete.
Er schaute noch mal zurück, guckte finster, rief der roten Frau etwas hinter her und presste den Mittelfinger an die Scheibe „Die hat mich um mein Omelett gebracht!“

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Full Circle Bohnenmann

Jeden Morgen, aß K seine Bohnen.
Denn jeden Sonntag wurde er von einem Nachbarn damit versorgt.
Natürlich war K nicht der Einzige der beschenkt wurde, der ältere Herr versorgte regelmäßig die Menschen in kleinerem Umkreis mit Essen aus dem Garten.
Ablehnen kam K gar nicht erst in Frage, denn was ihm dort aufgetischt wurde schmeckte unglaublich köstlich. Nun, das lag vielleicht auch daran, dass er ein ziemlich begeisterter Koch war und dieses Hobby hätte für ihn als Student um einiges teurer ausgesehen, wenn er nicht wöchentlich seine Rationen abbekommen hätte.
Im Grunde sah jeder Tag ähnlich aus. Morgens gegen 10 bereitete er sich seine Bohnen zu, denn einen besseren Start in den Tag konnte er sich gar nicht ausmalen. Er bürstete sein strubbeliges Haar, packte seine Sachen und verbrachte den Tag in der Uni bis ihm sein Nebenjob ein wenig Ablenkung verschaffte und Abends kochte er sich dann erneut etwas Feines von den Leckereien die er auf Vorrat daheim hatte.
Des Öfteren hatte K sich schon überlegt dem netten, alten Mann eine Freude zu bereiten, denn wirklich bedankt hatte er sich bisher noch nie für diese lieben Gesten. Mittlerweile war es mehr zu einer stillschweigenden Routine ausgelaufen, ein mildes Nehmen ohne etwas zu Geben und auf diesem Gedanken konnte K nicht mehr herumsitzen.
K schaltete den Fernseher ein und überlegte was er denn tun könnte und schließlich entschied er sich den älteren Herren zum Essen einzuladen und ihn zu bekochen. Von dieser Idee begeistert, durchstöberte er einige Rezepte in Gedanken und wägte ab welches Gericht wohl angebracht wäre. Doch nach einer Weile drangen die lauten Rufe des Kommentators eines Fußballspieles zu ihm durch und ohne zu zögern schaltete er den Bildschirm wieder aus. Sport war einfach nicht sein’s, aber dass musste es auch gar nicht sein, denn er könnte auch einfach später wieder einschalten.
Mit einem roten Stift markierte K sich den kommenden Sonntag in seinem Kalender und setzte dann seinen Alltag fort.
Schließlich war der Tag gekommen an dem er seinen Plan in die Tat umsetzen würde. Er schälte die Kartoffeln, kochte die Bohnen, wusch das Gemüse und briet das Fleisch an. Pünktlich um die Zeit, an der es immer an seiner Wohnungstür geklingelt hatte, war K fertig geworden und mit dem Ergebnis ziemlich zufrieden. Doch die Zeit verging und ging und niemand klingelte. Das Essen kühlte ab und K begann sich zu fragen, ob der nette Herr heute nicht kommen würde. Als über eine Stunde vergangen war, entschloss er sich ihn daheim besuchen zu kommen denn es war unglaublich ungewöhnlich das vertraute Klingeln nicht zu hören.
Zwei Türen weiter stand das zeitlose, kleine Haus, doch kein Licht schien darin zu brennen und auch keine Menschenseele schien sich darin aufzuhalten. K klingelte selbst, mehrmals, doch niemals wurde ihm geantwortet. Er lief hinter das Haus um in den Garten zu sehen, denn es könnte ja etwas passiert sein, doch selbst dort schien sich alles in friedlicher, menschenleerer Ruhe zu befinden, bis auf eine junge Frau die selbst am Zaun stand und in den Garten blickte.
K näherte sich und fragte sie, ob sie denn wisse was aus dem alten Mann geworden war. Erst in diesem Moment hatte er auch realisiert, dass er nicht mal seinen Namen gekannt hatte.
Die blonde Frau drehte sich zu ihm. „Nein, ich weiß es nicht. Er bringt mir wöchentlich Kartoffeln und als er es heute nicht mehr tat, war ich sehr verwundert.“, nach diesem Satz ging sie.
Seit diesem Tag, hatte niemand mehr an einem Sonntag Nachmittag an Ks Tür geklingelt.
Es war erschreckend mit was für einer Selbstverständlichkeit er den Mann mit den Bohnen betrachtet hatte und nun wo er nicht mehr kam, hinterließ er eine Lücke. Aber so schien es nicht nur K zu ergehen, sondern auch allen anderen Menschen die regelmäßig Vorräte von ihm erhalten hatten. K hätte wenigstens gerne gewusst, was ihn dazu angetrieben hatte die Nachbarschaft mit Essen zu versorgen und was der Grund dafür war, dass er es nun nicht mehr tat.
Es vergingen einige Wochen bis eines Tages wieder jemand vor Ks Tür stand.
Ks kleine Wohnung war erfüllt von einem lieblichen Duft von Zitrone, Sojasoße und Hähnchen, Kartoffeln und Bohnen und als er die Tür öffnete, bekam er augenblicklich von seinen Besuchern Komplimente geschenkt. Tatsächlich war es so, dass K die gesamte Nachbarschaft zum Essen eingeladen hatte, zumindest die Wenigen, die wie er ebenfalls versorgt wurden. Es waren sowohl alte, als auch junge Menschen, Frauen als auch Männer, alle von unterschiedlicher Natur und doch platzierten sie sich gemeinsam irgendwo in dieser schmalen Wohnung, wo der Platz es zuließ, und kosteten das Essen dass aus den noch übrig geblieben Lebensmitteln des alten Herren bestand. Sie redeten über Gott und die Welt, lachten, tranken und aßen und überhäuften K immer wieder mit Lob für seine Kochkünste wo er doch nur ein Student war mit wenig Zeit und Geld.
Es war das erste Mal dass er die Menschen wirklich sah, die in seiner Nähe wohnten und interessant war es allemal. Doch tatsächlich wusste niemand, was mit dem alten Mann passiert war und es stellte sich auch heraus das sonst niemand etwas genaueres je über ihn gewusst hatte.
Das Essen bekam einen bitteren Nachgeschmack.
Doch als Tribut an seine Dankbarkeit, lies K sich den Tag gut ergehen und genoss seine letzten Bohnen.
Der Alltag trat wieder ein und bald waren alle besonderen Vorkommnisse vergessen. K war immer noch Student, arbeitete Abends, kochte sich gerne etwas Feines und zockte daraufhin vor dem Schlafen gehen noch etwas bevor er im Bett seine Tag Revue passieren lies. Selbst sein Morgenritual konnte er beibehalten, denn sein Vorrat an Bohnen war wieder randvoll. K hatte sich entschlossen, auch wenn er nicht die Zeit für alles hatte, zumindest die Bohnenstauden im Garten des alten Mannes zu pflegen und zu ernten und diese dann unter den Nachbarn zu verteilen. Die Gesten des netten Herren würden nicht mehr in die Selbstverständlichkeit abrutschen, so viel war sicher. Und niemand würde mehr auf die leckeren, roten Bohnen verzichten müssen, so viel war ebenfalls sicher.
Und bald würde sicher auch der Tag kommen, an dem der Bohnenmann von seiner Dankbarkeit erfahren würde.
Lieber zu spät als nie.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Wie eine Mutter “Verstecken” spielt

Ich bin ein Kind. Und ich werde immer ein Kind bleiben. Ich meine, ich kann das (meistens) ganz gut verstecken.
Zum Beispiel vor den anderen Müttern im Kindergarten, wenn ich mit ihnen diese typischen „mein-Kind-ist-das-aller-tollste“-Gespräche führen muss. Natürlich ist mein Kind das aller-tollste und das dürfen gerne alle Mütter wissen.
Im Supermarkt frage ich meinen Sohn oft, was wir denn alles einkaufen müssen. Meistens antwortet Oskar: „Zucker“ oder: „Käse“, beides für Fremde wahrscheinlich nur relativ gut zu verstehen. Er ist ja erst zwei. Einmal antwortete er: „Bier“. „Bier“, so laut, dass man es sicher in der gesamten Gemüseabteilung hören konnte. Ich versuchte mich den entsetzten Blicken der anderen Kunden zu entziehen und sagte: „PAPIER?“ Oskar: „BIHIER tu Papa!“ - mein Kind IST das aller-tollste!
Als Oskar ein Jahr alt wurde, habe ich schon ein riesiges Tamtam um seine kleine Feier gemacht. Mein Mann meinte, ich solle mich nicht so verrückt machen. „Es ist Oskars erster Geburtstag. Er bekommt das alles doch gar nicht richtig mit. Wahrscheinlich ist das einzige, was er mitbekommt eine unruhige Nacht, weil am Tag so viel Trubel war.“ meinte Robert scherzhaft.
Ich habe die Wohnung hübsch dekoriert. Das heißt, ich habe das Chaos auf den Regalbrettern in die Schränke (mit Türen!) gestopft und ordentlich Staub gewischt. Unsere Familien und liebsten Freunde waren eingeladen. Neben dem Esstisch haben wir noch eine Bierbank gestellt und alles hübsch eingedeckt. Schon Tage vorher habe ich die Torten und Kuchen gebacken.Oskar war begeistert. Den ganzen Tag hat sich alles und jeder nur um ihn gedreht.
Erinnern kann Oskar sich daran sicher nicht. Dafür war er zu klein. Aber so ist das doch am Geburtstag, oder? Ein Geburtstagskind darf machen was es will, essen was es will, bekommt Geschenke und muss nicht - wie sonst üblich - bei der Hausarbeit mithelfen. Es muss überhaupt nur tun, was es mag. Und Kuchen essen. Viel Kuchen, den das Geburtstagskind natürlich nicht selbst backen musste. Es darf an diesem einen Tag im Jahr jedem seiner Lieben, mit den unmöglichsten Forderungen, ganz gewaltig auf den Sack gehen. Und niemand darf sich beschweren! Auch wenn das bedeutet, dass Schokoküsse durchs Wohnzimmer fliegen. Jedes „mein-Kind-ist-das aller-tollste“-Kind bekommt das so beigebracht.
Ich bin ein Kind. Ich war früher das aller-tollste! Und an meinem Geburtstag bin ich sogar ein bockiges Kleinkind, das den Po abgeputzt bekommen möchte. Wochenlang vorher erwähne ich immer wieder unterschwellig, was ein gutes Geschenk ist oder welchen Kuchen ich gerne esse. In der Hoffnung nur das Richtige zu bekommen. Je älter ich werde, desto mehr „Vorarbeit“ ist nötig. Drei Wochen lang habe ich Robert bequatscht, dass er sich an meinem Geburtstag frei nehmen soll. Damit ich ausschlafen kann. Bis 7 Uhr. Spätestens dann würde Oskar so laut nach mir schreien, dass man ihn aus einem Bunker heraushören würde. Mein Bequatsche muss zu unterschwellig gewesen sein. Er hat natürlich nicht frei.
Ich bin ein bockiges Kleinkind. Aber ich kann das gut verstecken.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Ein Tag der nicht kommen will
Monster, Schlurfer, Beißer oder wie auch immer sie genannt werden sollen, sind nun
seit fünf, fast sechs Monaten auf Straßen, in Häusern, in Kanalisationen… quasi überall.
Nur wenige, kleine und immer noch unsichere Unterschlüpfe haben sich gebildet, doch
auch sie wurden immer wieder abgerissen oder viel mehr niedergerissen.
Es mussten von jedem, der in dieser Welt leben will, Dinge getan werden, auf die er
oder sie nicht stolz sind. Anfangs fiel es wohl jedem schwer ein so menschenähnliches
Wesen zu töten… doch mit der Zeit wurde nun mal jeder abgestumpfter und
gefühlloser.
Eine Gruppe von vier Leuten ist nun in einer Stadt, ihr letztes kleines Camp überrannt
von diesen Viechern. Die Stadt scheint wie alle anderen vollkommen herunter
gekommen. Eigentlich wollten die Vier ein wenig essen suchen und sich vielleicht drei
oder vier Stunden aufs Ohr hauen, doch es kam anders als sie dachten.
Allesamt in eine Sackgasse gehend, um nach Vorräten zu suchen, spürten sie alle
zeitgleich einen Schlag auf dem Hinterkopf und gingen zu Boden.
Aus dem ungewollten Schlaf erwachend schaut sich Benn, ein eher kleiner,
schmächtiger junger Mann um und bemerkt, dass ihm jegliche Sachen geklaut wurden,
lediglich vier Flaschen Wasser und vier Konservendosen wurden der Gruppe gelassen.
Langsam und leise bewegt sich Benn zu den immer noch Bewusstlosen. “Hey,” flüstert
er, “wach doch auf. Hey Dyter, steh auf.” Langsam öffnen sich die blauen Augen des
blonden, kräftigen Wuschelkopfes: “Verdammt, wo… was ist passiert – was ist mit den
anderen?” Kommt benommen aus seinem Mund. “Sie liegen auch alle noch… verdammt
was ist passiert?! - Weck du Dan ich wecke Hurt.” Ohne große Probleme werden auch
die beiden anderen der Gruppe geweckt. Der eine, Hurt, eher dicklich mit einer
Halbglatze und der andere, Dan, athletisch mit dunklen Haaren.
“Nun kommt… wir müssen weiter.”, meint Benn und stiehlt sich an die Straße zurück.
Die anderen drei folgen ihm. Es ist erstaunlich ruhig. Er sieht sich nach rechts und links
um und gibt gerade das Signal zum Rechts-Gehen, da erschallt plötzlich eine schrille und
alles durchdringende Stimme so laut, dass man sie wohl noch außerhalb der Stadt hat
hören können, der Schrei kam aus dem Gebäude neben Benn oder der Gruppe. “NEEIN
– NEIN VERDAMMT NEIN! SO HELFT MIR DOCH!! WARUM KANN MIR DENN NIEMAND
HELFEN?! HALT BITTE DURCH CARL… bitte!”, die anscheinend weibliche Stimme wird
langsam leiser und nur noch ein Wimmern ist zu hören.
“Leute wir müssen dahin verdammt… sie braucht Hilfe.”, führt Dan sofort fordernd an.
“Man alter was ist den falsch mit dir… wir können nicht helfen! Sie hat die ganze
verdammte Stadt auf sich gezogen, du bist doch wirklich irre. - Los jetzt, weiter erdammt.” “Dan man… das geht nicht, das ist doch ein verdammter Mensch!” “Bei
aller Liebe Benn, aber wir können uns nicht darum kümmern, wir wurden gerade
verdammt nochmal ausgeraubt, wir müssen eine Bleibe für heute Nacht suchen, denn
es ist mittlerweile verdammter Nachmittag!” “Meine Fresse… dann gehe ich allein.”
Benn macht sich zielgerichtet, aber leise zu dem zehn Meter entferntem Eingang auf
den Weg. Er schaut nur kurz links die Straße hinunter und sieht ein an die Wand
gefahrenes Auto, geht dann jedoch weiter. Anscheinend haben sich Dyter und Hurt nun
auch entschieden ihm zu folgen, widerwillig schließt sich auch Dan an.
Die Tür steht offen und das Wimmern der Frau ist immer noch aus dem ersten Stock zu
hören. Alle restlichen Türen, die anscheinend zu Apartments führen, stehen offen und
sind gut einsehbar, lediglich eine der Türen ist verschlossen. Benn schleicht die Treppen
hoch und kann schon nach den ersten Schritten nach oben die Frau erkennen, die
elendig zusammengefallen vor einem Loch sitzt. “Hey… was ist passiert, was ist los?” Die
Frau schaut ohne auch nur bemerkt zu haben, dass sie angesprochen wurde, in das
Loch, vor dem sie sitzt, hinein. Nun kommen auch Hurt und Dyter nach oben.
Gemeinsam treten sie an das Loch… ein scheußlicher Anblick tut sich auf. Ein Junge…
wohl ihr Junge, schaut die drei mit aufgerissenen Augen und einem schmerzverzerrtem
Blick an. Fünf Stahlstreben, die in Fundamten verbaut sind, ragen durch seinen Körper.
“Er… er sagte er könne allein nach Sachen suchen. Er sagte es wäre kein Problem… ich
bin Schuld daran, ich bin zu sehr an das alles hier gewöhnt.” Die Frau greift an ihren
Bund und holt ein kleines, aber anscheinend scharfes Taschenmesser aus der Tasche. Sie
setzt an ihrer Kehle an und zieht durch. Auch der letzte Schrei von Benn kann nichts an
ihrem Fallen ändern. Sie kippt nach vorn in das Gleiche Loch wie ihr Sohn, ein widerlich
einprägendes Geräusch, als würde man einem Hähnchen die Knochen brechen, nur viel
Mit dem Geräusch und dem Schrei von Benn kommt nun auch Dan nach oben gejagt
“VERDAMMTE SCHEIßE, was ist den hie…” Er stockt und begreift den Anlass. Benn kann
die Tränen nicht halten. “Kommt!”, fordert Dan energisch auf, “Wir müssen jetzt
gehen.”
Keiner leistet Widerstand, Dyter, Hurt und vor allen Dingen Benn sind jedoch sichtlich
angeschlagen.
Sie verlassen das Haus. Immer noch sind nirgends die Viecher zu sehen. “Dort vorne, das
Auto werde ich mir vornehmen, passt bitte auf.” Er zeigt auf das Auto, das auch schon
vorhin, an die Wand gefahren, dort stand. Die anderen nehmen seine Forderung
stillschweigend hin. Gekonnt kann Dan einige Sachen aus dem Auto fischen: Eine Tüte
Chips, eine Soda Dose, eine Packung Kaugummis und den Autoschlüssel. Dan wirft die
Sachen, bis auf den Schlüssel, Dyter zu. Er ist für das meiste Tragen zuständig. Dan
klemmt sich den Schlüsselbund zwischen die Finger, sodass er eine Art Schlagring hat. “Passt auf, dort hinten kommen zwei… sucht eine Tür in die wir können.” Die meisten
Türen scheinen zu fest vernagelt, jedoch lässt sich eine öffnen. Mit einem kräftigen Ruck
schmeißt sich Dyter gegen diese und sie öffnet sich für ihn ohne Probleme.
“Los schließt die Tür und sucht hier nach Brauchbarem.” Sagt Hurt. Ohne groß
nachzudenken tritt Dyter ein Bein von dem eher morschen Tisch im Zimmer ab. Dan und
Benn durchsuchen die Schränke, wobei Hurt auf die Tür aufpasst. Sie finden zusammen
einen Dosenöffner, einen Teller und eine Gabel. Gerade als sie ihre “Beute”
präsentieren wollen, öffnet sich die Tür sturmartig und ein massiver und großer Mann
stürzt Hurt um. “Hey… tut mir leid. Ich will keinen Stress. Ich suche…” “Was suchst du?!”
baut sich Dan auf. “Ich suche meine Frau und meinen Sohn… sie müssen hier irgendwo
sein.” “Deinen Sohn… d… deine Fr… Frau?!” Benn fällt auf die Knie. “WIESO STAMMELST
DU SO?! HAST DU SIE GESEHEN?! VERDAMMT WO SIND SIE DU DUMMES
ARSCHLOCH?!” Obwohl Dyter ihn versucht aufzuhalten, sprintet er durch den kleinen
Raum und hievt Benn mit nur einer Hand in die Luft, um ihn dann gegen die Wand zu
drücken: “WO SIND SIE?! SAG ES MIR?!” Er holt aus und der erste Schlag geht auf das
Gesicht von Benn. Im gleichen Moment lässt er ihn fallen und will sich gerade
umdrehen, doch auch er fällt, denn während des Umdrehens wird ihm von Dyter mit
voller Wucht und einer Art Kampfschrei, das Tischbein ins Gesicht gehauen.
Vollkommen bewegungsunfähig liegt er dort auf dem Boden. Benn liegt neben ihm,
kommt jedoch schnell wieder zu sich. Sein Augenlid blutet. Mit zusammengekniffenem
Auge schaut er sich um… “Verdammte scheiße…” Ist das Einzige was ihm über die
Lippen kommt. “Geht schon… ich beende es für ihn.” - “Nein… lass ihn einfach liegen
verdammt.” “Benn bitte… geh einfach. Was hat es für ihn für einen Sinn, aber auch für
uns? Geht einfach, ich komme sofort nach.” Dyter und Hurt senken kurz den Blick und
weisen Benn dann mit raus. Widerwillig folgt ihnen nach draußen.
Den bewegungslosen Körper durchsuchend findet Dan ein passables Messer, eine
weitere Wasserflasche und ein Familienfoto. Das Messer legt er dem Mann an den Hals,
atmet kurz durch und zieht mit einem Ruck durch, dann wischt er das Messer an den
Klamotten des Mannes ab. Dan steht auf und geht ebenfalls aus dem Raum, lässt
allerdings die Tür offen.
Schnell findet die Gruppe wieder zusammen. “Hey Hurt, fang!” Dan wirft Hurt den
Schlüssel zu. “Ein bisschen leiser Leute!” Versucht Hurt klarzumachen.
Nach einigen hundert Metern und vielen offensichtlich verriegelten Türen erreichen alle
zusammen das Ende der Straße, hin und wieder hörten die Vier noch Geräusche, doch
keines konnten sie wirklich zuordnen. An der Ecke zu der nächsten Straße fängt Dyter auf einmal an zu reden “Seht ihr das da
vorn… die Tür steht offen. Vielleicht können wir dort ja etwas für die Nacht finden.”
“Gut kommt.” Dan geht wieder voraus.
Mit dem Messer bewaffnet durchsucht er mit den anderen im Schlepptau das
Erdgeschoss. “Wehe ihr dreht euch um. Ich habe eine Waffe.” Hören die Vier eine…
weibliche Stimme hinter sich sagen, “Los legt eure Sachen auf den Boden.” “Hey… wir…
wir wollten nur über Nacht eine Bleibe haben…” “Man Benn, jetzt halt den Rand, sie will
nicht verhandeln, sie will unser Zeug.” “Da hat der Herr recht. Und jetzt den Scheiß auf
den Boden!” Langsam legen alle ihre Sachen auf den Boden. Messer, Schlüssel, Teller,
Flaschen, Dosen, Kaugummis, Holzbein. “Setzt euch!” Fordert die Frau, “Du da vorne…
Geh in das Zimmer direkt hier links rein, nur Benn und der große Blonde bleiben hier.
Setzt euch an die Heizung. Hier Benn du bindest den großen an die Heizung.” Sie wirft
ihm ein Seil vor die Füße.
“Gut und jetzt kommst du her, aber rückwärts.” Ein kurzes Ratschen und schon hat sie
Benn die Handgelenke mit einem Kabelbinder befestigt, “Und jetzt Abmarsch auch in
den Raum rein. - Ich komme jetzt mit der Waffe an der Schläfe von Benn zu euch rein.
Wehe irgendjemand versucht was Dummes! Also setzt euch auf den Boden.” Wie
angekündigt schreitet sie in den Raum hinein und wie verlangt sitzen alle Beide auf dem
Boden. “Verdammt was musst du für einen kranken Fetisch haben…” “Halt die Fresse!”
Mit diesen Worten wirft sie Benn in die Ecke und wirft Dan ein Seil zu. “Hier fessel’ du
den Dicken an die Kommode.” “Klar…”
“Und jetzt steh du auch auf und komm rückwärts zu mir!” “Natürlich…” Gibt sich Dan
gefügig. Bei ihr angekommen und stehengeblieben… ZACK – dreht sich Dan um und
rammt der Frau die Gabel in den Hals. Ein Schuss aus ihrer Waffe löst sich und Dan stößt
einen Schrei aus. Er und die Frau gehen zu Boden…
“DU HURE!” Brüllt er den ausblutenden Körper an, “Das ist meine verfickte Schulter!”
Das Gesicht verziehend steht Dan wieder auf und holt sich das Messer aus dem
Eingangsflur, um alle anderen loszuschneiden. “Durchsucht sie noch und dann verpissen
wir uns!” - “Ich sehe oben noch nach Verbandszeug oder so!” - “Halt die Fresse Hurt…
reiß ihr einfach die scheiß Kleider von den Titten und verbinde mich damit… der scheiß
Schuss wird mehr als nur die ganze Stadt angelockt haben!”
Aus der Tür raus macht sich die Gruppe sofort auf den Weg aus der Stadt raus. “Isn
Durchschuss… das passt schon!” “Dyter halt die scheiß Fresse und geh anstatt zu gucken
verdammt.”
Nach einigen hundert Metern außerhalb der Stadt stoppt die Gruppe wieder, es ist
mittlerweile Abend geworden. “Dyter… kannst du mich bitte noch einmal verbinden, die
Scheiße hat durchgeblutet” “Klar. - Hebt bitte schon mal Kuhlen aus.” Nach einiger Zeit und als beinahe die Sonne untergeht, sind die Kuhlen für jeden
ausgehoben, etwa 20 bis 30 Meter abseits der Straße.
“Was ein verdammter Scheiß Tag…!” “Das kannst du laut sagen Dan.” “Und wie ich das
kann. Lasst bitte morgen etwas essen…” “Geht klar.” Wird einstimmig beschlossen.
Sie haben es ein weiteres Mal geschafft. Sie haben noch einen Tag in der Hölle überlebt,
wenn auch nur knapp, aber das ist nun mal mittlerweile normal. Es ist schwer zu sagen,
ob sie stolz darauf sein können es gemeistert zu haben, aber… sie haben es und das ist,
was jetzt erstmal zählt.
Nun liegen sie da, in der dunklen und äußerst ruhigen Nacht und träumen wohl von alle
dem was sie auch an diesem Tag gesehen haben, was ihnen niemals wieder aus dem
Kopf gehen wird, sei es der Junge, die Mutter oder was auch sonst.
Doch vor allen Dingen, warten sie, auf den einen Tag der nicht kommen will.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Heute war ein wunderschöner Tag. Es war Ende Frühling und das spürte man auch. Die Vögel sangen freudig ihre Lieder und es war beinahe so, als ob sie die Schönheit eben dieses Tages beschreiben würden. Am azurblauen Himmel waren nur vereinzelt Wolken zu sehen, die regelrecht wie Watte aussahen und die freundlich scheinende Sonne am Firmament schmückten. Eine leichte Brise wehte durch die Vorstadthausreihen und brachte den süßlichen Geruch der prachtvoll blühenden Blumen aus den Vorgärten mit sich.
Ich atmete noch kurz diese reine Luft und genoss noch einmal den herrlichen Anblick, der sich mir bot, bevor ich mich in meinen Wagen setzte, um zur Arbeit zu fahren. Selbst die Straßen, die an diesem Tag leerer waren als üblich, sahen heute schöner aus. Ich konnte meinen Blick kaum von ihnen abwenden, während ich an jedem anderen Tag wohl lieber die Landschaft, an der ich vorbeisauste, betrachtet hätte. Aber heute war es anders, ich genoss den Anblick des harten Teers unter meinen Reifen geradezu und fuhr langsamer als sonst, um die Strukturen und Muster im Straßenbelag zu finden. Mein Herz raste geradezu vor Begeisterung für diese heimliche Schönheit, die, wie es sich anfühlte, keiner außer mir erkannte und dieses Gefühl versetzte mich in bloße Euphorie. Heute war ein wunderschöner Tag.
Obwohl die Autofahrt länger dauerte als sonst, kam ich eine halbe Stunde zu früh mit einem breiten Grinsen im Gesicht im Büro an; anscheinend hatte ich mich wieder nach der Uhr in meinem Schlafzimmer gerichtet, die stehengeblieben war und deren Batterien ich immer noch nicht ausgetauscht hatte. Immerhin hatte dieser Irrtum die positive Wirkung, dass ich pünktlich bei der Arbeit war, ohne auf den Genuss der sich mir darbietenden Schönheit verzichtet gemusst zu haben. Der Uhrzeit entsprechend waren nur vereinzelt Leute im Büro, denen ich wie jeden Tag ein Lächeln und ein „Guten Morgen“ schenkte, was heute noch wärmer und freundlicher war. An meinem Arbeitsplatz angekommen fing ich aber noch nicht sofort an, zu arbeiten. Zuerst räumte ich meinen Schreibtisch auf, legte den Haftnotizzettelblock rechts neben meine Tastatur und die Stifte, die über den Tisch verstreut lagen, kamen wieder in den Schreibtischbutler, den mir Tom zur Beförderung geschenkt hatte. Ich betrachtete ihn genauer; er war schwarz und matt, mit einer rauen Oberfläche, bei deren Berührung man das Geräusch der darauf kratzenden Fingernägel deutlich wahrnehmen konnte. Mir war das zuvor noch nie aufgefallen, aber nun, da ich es so deutlich hörte, klang es geradezu wie Musik. Ich begann, die Melodie meines Lieblingsliedes nachzukratzen und musste kichern. Nie zuvor hatte es sich so schön angehört wie in diesem Moment.
Als ich mein Lied fertiggespielt hatte, war es schon voller im Büro, aber es war noch immer vor Arbeitsbeginn. Ich beschloss, nun meinen allmorgendlichen Ritualen nachzugehen und erst einmal Kaffee zu kochen, bevor ich meinen Bericht für den letzten Monat, der heute fällig war, Sophie. Sie lächelte breit und sagte, halb schwärmend, halb seufzend: „Wie immer sind Sie der Einzige, der seinen Bericht pünktlich abgibt. Und dazu immer so umfassend. Wenn doch nur alle so engagiert wären wie Sie.“ Ich nickte ihr zu und holte mir eine Tasse Kaffee, wobei mir Frank beim Eingießen auf die Schulter klopfte und sich für das Kaffeekochen, das ich jeden Morgen übernahm, bedankte. Auch ihm nickte ich zu und antwortete: „Keine Ursache.“, während ich nun der Arbeit an meinem Schreibtisch nachgehen wollte. Diese ging mir heute noch leichter von der Hand und ich hatte sogar Spaß daran, genoss sie förmlich, genauso wie das Geräusch der Tasten, wenn ich sie sanft anschlug. Es war tatsächlich ein wunderschöner Tag.
Bevor ich mich versah, waren die acht Stunden auch schon vorbeigegangen und ich machte mich auf den Heimweg. Der spätnachmittägliche Verkehr hinderte mich allerdings daran, erneut die Schönheit der Straßen zu bewundern, sodass ich stattdessen die Autos betrachtete. Mal hatten sie einen matten, mal einen glänzenden Lack, mal hell, mal dunkel, blitzend sauber, leicht verstaubt, es gab so viele Variationen und alle waren besonders auf ihre ganz eigene Art und Weise. Leider konnte ich die Autos nie länger betrachten, weil sie immer zu schnell weg waren, aber das war auch gar nicht schlimm. Diese vielen, kleinen Eindrücke hatten mich so sehr verzaubert wie es ein großer wohl nicht gekonnt hätte. Nie zuvor erlebte ich einen so wunderschönen Tag.
Zuhause angekommen nahm ich erneut den Duft vom heutigen Morgen wahr. In ihm lag nun auch etwas anderes, dieser Geruch vom einbrechenden Abend verlieh der Luft eine angenehme Note, die mich dazu einlud, mein Abendessen diesmal draußen auf der Terrasse einzunehmen. Dem Wetter entsprechend wollte ich etwas Leichtes und Gesundes, aber Sättigendes zu mir nehmen und entschied mich deshalb für eine Gemüsepfanne. Also zerkleinerte ich die Zutaten, wobei mir dabei auffiel, wie schön es sich anhörte, Gemüse zu schneiden; das immer wieder ins Fruchtfleisch eindringende, scharfe Messer führte geradezu eine Symphonie vor, deren Musik allein für mich gespielt wurde. Das Zischen des Öls in der Pfanne, wenn die Zutaten sanft angebraten wurden und die Aromen, die dabei freigesetzt wurden, versetzten mich in einen Rausch, sodass ich mein Abendessen sogar beinahe hätte anbrennen lassen. Ich richtete mein Menü, so perfekt wie es mir möglich war, an, um dessen Zauber noch länger zu erhalten und zur Geltung zu bringen. Passend dazu öffnete ich auch meinen besten Rotwein, den ich seit Jahren für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte und der so teuer gewesen war, dass es mich an jedem anderen Tag abgeschreckt hätte, auch nur einen Tropfen davon zu mir zu nehmen, aber heute war die perfekte Gelegenheit, um ihn zu trinken. Heute war wirklich ein wunderschöner Tag.
Draußen nahm ich dann mein Abendessen zu mir und genoss noch einmal die Schönheit eben dieses Tages, der sich nun langsam seinem Ende näherte. Die Schmetterlinge tanzten in der Luft und aus der Ferne konnte man schon ein leichtes Grillenzirpen wahrnehmen. Der vorhin noch so blaue Himmel bestand nun aus einem Farbenspiel aus gelb, rot und violett und schien, als hätte man ihn gemalt. Die Farben gingen ineinander über ohne erkenntliche Grenzen und so konnte ich nicht anders als über dieses prächtige Machwerk Mutter Naturs zu staunen. Dann beschloss ich, dass es Zeit war, wieder ins Haus zu gehen, spülte mein benutztes Geschirr ab und stellte die halbvolle Flasche in den Kühlschrank. Ich vergewisserte mich, dass alles sauber war und öffnete dann die Schublade meines Sideboards. Dieser entnahm ich den darin verwahrten Revolver und auch er schien heute noch schöner zu sein als sonst. Ich führte ihn an meine Schläfe und in dem Moment, bevor ich abdrückte, gab es nur zwei Gedankengänge in meinem Kopf: 1. Wie würde wohl das Farbspiel meines Blutes auf dem Parkett aussehen? Und 2. Heute war in der Tat ein wunderschöner Tag, um zu sterben.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Tagesleben

Inhaltsangabe:
Ein Mann überlebt einen Flugzeugabsturz und treibt auf dem offenen Ozean. Was geht ihm durch den Kopf? Wird er es schaffen? Und was ist das Wesen, das ihn unbedingt in die Tiefe ziehen will?

Meine Geschichte:
Wenn ich den Kopf leicht nach hinten
lege und meinen Atem anhalte, dann trete ich in die Vergangenheit;
dann kann ich in den Momenten der Stille zwischen den dumpfen
Schlägen meines Pulses ein fernes und immer leiser werdendes
Rauschen und Knirschen hören, das von tief unten zu mir herauf
dringt, solange ich das drängende Brennen meiner Lungen ignorieren
und das elementare Bedürfnis meines Körpers nach Sauerstoff
verdrängen kann; doch wenn ich dann endlich meinem Körper nachgebe
und hektisch die verbrauchte Luft ausstoße, vertreibt das Geräusch
meines Atems aus meinen Ohren all die anderen feinen, leisen und
trübsinnigen Töne aus der Tiefe.
Jedes Mal, wenn ich die Luft erneut
anhalte und in die Ruhe zwischen den Herzschlägen lausche fällt es
mir schwerer, etwas von der sich verflüchtigenden, langsam
undeutlich und verschwommen werdenden Vergangenheit zu erhaschen und
zumindest für einen kurzen Moment noch bei mir zu halten. Bald ist
es fort, und mein Blick ins Gestern trübt sich.
Am Anfang waren die Geräusche noch
näher gewesen und unter das Rauschen hatte sich neben anderen Lauten
ein grollendes Dröhnen gemischt, das aber rasch verstummt war und
Platz gelassen hatte für Spekulationen, während ich die Dinge um
mich herum betrachtete.
Das Stofftier neben mir, ein kleiner
Affe, das ich sehen konnte, wenn ich den Kopf leicht nach links
wandte, war dunkel und fleckig von Blut, Benzin und Öl, der ehemals
weiche Stoff war verschmutzt und wurde immer dunkler, während es
sich vollsog und immer tiefer im Wasser lag. Von all dem Treibgut,
das um mich herum von den sanften Wellen bewegt wurde, mochte ich
dieses dreckige Ding am liebsten.
Es war nicht so nichtssagend wie die
kleinen und großen Plastikteile, die formlos, halb zerschmolzen,
halb zerbrochen, herumdümpelten; oder so langweilig banal wie die
zerfetzten und verbrannten Kleidungsstücke die auf der Oberfläche
trieben; und auch nicht so grausig und furchtbar wie die
verstümmelten Körper, die hin und wieder an mich stießen und die
ich dann entsetzt von mir wegschob.
Es war einfach ein lustiger kleiner
Affe, den jemand mit geschickten Händen aus Stoff geformt hatte und
der bestimmt mal von kleineren, unschuldigeren Händen herumgetragen
worden war. Vielleicht war er ein Geschenk gewesen.
Mit der Zeit versanken immer mehr
Gegenstände – die Plastikteile, die Kleidungsstücke und zum Glück
auch die entstellten Körper – bis zuletzt nur noch der kleine
aufgedunsene Affe sacht neben mir auf den Wellen schaukelte.
Immer, wenn ich aus der Vergangenheit
zurückgekehrt war und die Augen aufgeschlagen hatte, hatte ich nach
meinem freundlichen Begleiter gesehen und mich vergewissert, dass er
mich noch nicht verlassen hatte; und lange Zeit war er bei mir
geblieben. Aber als die Sonne am Rand der Welt aufgegangen war und
den Himmel mit einem hellen Glühen und Strahlen erfüllt hatte, war
auch der kleine Affe aus Stoff schließlich versunken. Es war, als
hätte er nur darauf gewartet, dass die Sonne endlichen aufgehen
würde; als hätte er mich durch die schrecklich finsteren Stunden
vor dem Morgengrauen begleitet, um danach, als sein Dienst erfüllt
war, endlich loszulassen und befreit von jeder Last hinab zu sinken.
Und so trafen mich die ersten
Sonnenstrahlen eines neuen Tages allein, mitten in einer riesigen
Lache aus regenbogenschillernden Schlieren Benzins treibend, auf der
sich kräuselnden Oberfläche eines leeren und gesichtslosen Meeres;
und meine Rettungsweste begann in strahlendem Signal-Orange weithin
sichtbar zu leuchten.
Inzwischen steht die Sonne höher und
ich gönne meiner Lunge und meinen Gedanken eine Pause, indem ich
hinauf in den raumlosen Himmel starre und in seinem grenzenlosen Blau
versinke. Ich lasse mich in dem Himmel ebenso treiben, wie ich mich
im Wasser treiben lasse.
Ich habe die übliche Position
eingenommen, die man in solch einer Situation einnehmen soll:
Mein alter Sportlehrer in der Schule
hat es immer den Seestern genannt, bei dem man seine Arme und Beine
vom Körper abspreizt um so den Auftrieb zu verbessern und weniger
Kraft für das Schwimmen aufwenden zu müssen. Er war ein dummer,
lauter und grausamer Mann mit Halbglatze und haarigem Nacken gewesen,
der uns Kinder geschunden und gequält hatte, wo er nur konnte. Aber
mit diesem kleinen Trick hat er recht gehabt, und so lasse ich mich
als orange leuchtender Seestern mit weit ausgestreckten Armen und
Beinen vom Wasser und meiner Rettungsweste tragen und von den Wellen
sacht schaukeln.
Weiter weg von mir steigen einige große
Blasen an die Oberfläche und zerplatzen mit einem leisen Plopp –
es ist der letzte Rest Luft aus dem Flugzeug, der den langen und
beschwerlichen Weg nach oben geschafft hat.
Ich habe einen Kloß im Hals, als ich
daran denke, dass das Wrack inzwischen den Meeresboden erreicht haben
muss und ich somit das Rauschen des Wassers, das während des
Hinabsinkens an ihm vorbei strömt, nicht mehr hören kann. Die
Blasen verraten mir, dass sich mein Tor in die Vergangenheit
geschlossen hat, dass die Geräusche der sinkenden Trümmer – das
Zeugnis des Geschehenen, das mich hierher gebracht hat – für immer
verstummt sind. Meine letzte Verbindung zu ihr,
die zusammen mit dem Flugzeug versunken ist.
Die Endgültigkeit dieser Erkenntnis
erschlägt mich und salzige Tränen rinnen über mein Gesicht in das
noch salzigere Wasser.
Bald versiegen meine Tränen wieder und
die Hitze des neuen Tages wischt ihre Spuren aus meinem Gesicht,
nichts als getrocknetes Salz hinterlassend.
Es ist ein heißer Tag und die Sonne
sendet unerbittlich ihre grausamen Strahlen zu mir herunter, aber
zunächst störe ich mich nicht daran, denn sie wärmt meinen Körper,
der knapp unter der Wasseroberfläche dahintreibt. Von Zeit zu Zeit
ändere ich meine Position und bewege meine Arme und Beine, um die
Blutzirkulation anzuregen; dabei trete ich im Wasser und merke an den
Füßen, wie kalt es unter der warmen Oberfläche wird. Fröstelnd
lehne ich mich dann wieder zurück und treibe als großer Seestern
weiter dahin, allein mit meinen Gedanken.
Hin und wieder spiele ich mit dem
Gedanken, die Signalpfeife auszuprobieren, die an der Rettungsweste
baumelt, aber ich kann mich nicht dazu aufraffen, die allumfassende,
friedliche Stille zu stören, die mich umgibt. Im Wasser höre ich
nichts als die Geräusche meines eigenen Körpers, das sanfte Wispern
meines Atems, das stete pulsieren meines Herzens, das fast unhörbare
Strecken und Knirschen meiner Muskeln und Sehnen – und wenn ich den
Kopf aus dem Wasser hebe, verstummen sogar diese Laute.
Es ist eine friedliche Welt durch die
ich treibe.
Während die Sonne höher steigt und
anfängt mich zu blenden, sodass ich schließlich ein Stück von
meinem mitgenommenen Hemd abreiße und mir über die Augen lege,
frage ich mich, wieso ich keine Angst spüre. Vielleicht stehe ich
unter Schock, oder ich klammere mich unbewusst an die Hoffnung, dass
ich trotz allem noch gerettet werden kann, obwohl ich weiß, wie groß
der Ozean ist und dass eine unsichtbare Meeresströmung mich
wahrscheinlich bereits Kilometer von der Absturzstelle weggetragen
hat. Aber womöglich ist auch das Gegenteil der Grund – das
absolute Fehlen jeglicher Hoffnung auf Rettung oder Besserung, denn
eigentlich bin ich bereits beim Aufprall des Flugzeugs auf das Wasser
gestorben.
Zusammen mit ihr…
Ich habe den Geruch ihrer Haare
in der Nase und spüre die Weichheit ihrer Haut, während ich
an sie denke – und obwohl ich weiß, dass es sich dabei um
Einbildungen handelt, lächele ich und das Herz wird mir einen Moment
leichter; fast vergesse ich, wo ich mich gerade befinde.
Aber dieser Zustand hält nicht lang
an, denn plötzlich spüre ich, wie sich ein großer, rauer Körper
an mir reibt. Er ist unbemerkt zu mir gekommen, von unten, aus den
bodenlosen Weiten einer anderen Welt, hat sich an mich
herangeschlichen und die Lage abgeschätzt, bis er sich vergewissert
hatte, dass es sicher sei, diesen ersten Vorstoß zu wagen, um sich
mir unvermittelt anzunähern.
Meine Finger ertasten eine lange spitze
Flosse und Sandpapierhaut, dann ist der Körper wieder verschwunden
und ich reiße das Stück Stoff von meinen Augen, obwohl ich weiß,
dass ich außer Wellen nichts werde entdecken können. Das Wesen
lauert unterhalb der Oberfläche.
Ich beruhige mich nach dem ersten
Schrecken schneller als ich es gedacht hätte und registriere ein
neues, bis dahin unbekanntes Geräusch. Es ist ein feines,
blubberndes Zischen und kommt von meiner rechten Seite – dort, wo
mich das Tier gestreift hat. Nach einigem Suchen finde ich die Quelle
des Geräuschs und eine neue Erkenntnis wächst in mir heran:
Das Zischen stammt von einem kleinen
Riss in meiner Rettungsweste, aus der nun langsam aber stetig die
Luft entweicht, die zahnbewehrte Haut des Hais hat sie aufgerissen.
Jetzt weiß ich, dass ich den nächsten Tag nicht mehr erleben werde,
aus der bloßen, leicht zu verdrängenden Ahnung wurde Gewissheit.
Aber traurig oder erschüttert bin ich deswegen nicht.
Dieses Wesen ist ein Fremdkörper, ein
ungerufener Gast in meinem friedlichen Kosmos der Stille, eine
ungebetene Quelle der Unruhe in meiner Welt zwischen dem endlosen
Blau des Himmels und dem tiefen Blau des Meeres. Doch ich kann den
Hai nicht vertreiben und so lasse ich es schließlich zu, dass er
Teil meiner Welt wird.
Ich lasse einfach die Stunden an mir
vorüberziehen, während der große Körper unter mir seine Bahnen
zieht und mich hin und wieder behutsam streift und die Sonne langsam
gen Westen wandert. In den Momenten, in denen mir der Hai ganz nah
ist, zeigt er sich mir in seiner ganzen Größe; seine graue Haut ist
von Narben zerfurcht und eines seiner Augen ist blind und tot. Er ist
alt, aber noch nicht kraftlos und so werden seine Berührungen immer
fordernder und drängender und wachsen sich mit der Zeit zu groben
Stößen aus. Es kommt mir so vor, als würde das Tier langsam
ungeduldig werden; als würde es nur darauf warten, dass ich endlich
aufgebe, die Verschlüsse meiner immer schlaffer werdenden
Schwimmweste öffne, sie abstreife und mich von ihm in die Tiefe
ziehen lasse. Aber diesen letzten Tag lasse ich mir nicht nehmen.
Bald, – verspreche ich dem
ungeduldigen Wesen – darfst du mich mitnehmen. Aber noch nicht.
Lass mir diesen letzten Tag, bis die ersten Sterne am Himmel
erscheinen, dann komm mich holen; dann darfst du mich zu ihr
bringen auf den Grund des Meeres.
Und tatsächlich verhält sich der Hai
danach ruhiger. Er begnügt sich damit, neben mir, knapp unter der
Oberfläche zu schwimmen und gemächlich seine Kreise zu ziehen.
Die Haut meines Gesichts brennt und
fühlt sich straff gespannt an, als wäre sie geschrumpft und drohe
zu reißen, weshalb ich hin und wieder den Kopf unter Wasser tauche,
um sie etwas zu kühlen.
Jedes Mal kommt dann der Hai näher
heran, so als wolle er mich frühzeitig mitnehmen, als würde er mein
Untertauchen aus Vorschnelligkeit missverstehen. Wenn ich dann den
Kopf wieder aus dem Wasser hebe und blinzelnd zur Sonne blicke, die
sich zielstrebig dem Horizont im Westen annähert, meine ich eine
gewisse Niedergeschlagenheit in den Bewegungen des Tieres ausmachen
zu können, während es auf seine gewohnte Kreisbahn zurückkehrt.
Bald jedoch taucht die Sonne den Himmel
in leuchtendes Rot und nun weicht der Hai nicht mehr von meiner
Seite, er weiß, dass mein Tag bald endet, dass meine Zeit bald
gekommen ist.
Ein letztes Mal lasse ich meine
Gedanken schweifen und lausche mit angehaltenem Atem in die Stille
der Tiefe; jetzt höre ich kein fernes Rauschen mehr.
Mit den ersten Sternen öffne ich die
Verschlüsse meiner Rettungsweste und streife das schlaffe Stück
Stoff von mir ab.
Ich leere meine Lungen und tauche hinab
in die dunkle, kühle Schwärze; der Hai ganz nah bei mir.
„Komm zu mir“, sagt er mit ihrer
Stimme und zieht mich sanft immer tiefer und tiefer.
Und als der Monde aufgeht bin ich
bereits verschwunden, und nur ein signal-orangener Fetzen treibt
einsam auf dem großen und stillen Meer.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Wie man erfolgreich seine Heimat verlässt

7:35 Uhr
Der Wecker schreit mich an. Weil meine Augen sich so vertrocknet anfühlen, habe ich Angst, dass sie zu Staub zerfallen, falls ich sie öffnen sollte.
Ich entscheide mich, sie zu zu lassen.

7:55 Uhr
Dumpfes Klopfen.

7:56 Uhr
Starkes Klopfen. Und ich höre meinen Namen. Jemand schreit ihn.
Es ist schon fast ein Kreischen.

7:57 Uhr
Ich entscheide mich zu antworten.

„Ja?“

„Willst du nicht langsam mal aufstehen?!“ Ja, es war definitiv ein Kreischen.

Ich murmelte. „Warum nochmal?“

Eigentlich wusste ich es. Ich wusste, dass ich an diesem Tag losfahren würde. Umzug, Auszug. Was auch immer. Die Sachen waren seit Tagen gepackt. Die Pläne schon seit Monaten gemacht. Ich hatte mich nach längerem Grübeln, Verzweifeln und schlaf-geringen Wochen dazu entschieden erst einmal wegzugehen. Die Stadt, in der ich groß geworden bin, hielt mich ab vom Denken und Entscheiden.
Darum entschied ich mich damals, ganz originell (ich weiß), ins Ausland zu fahren. Weg von immer-den-gleichen Menschen. Immer-den-gleichen Häusern. Immer-der-gleichen Luft. Immer-den-gleichen Gedanken und Gesichtern. Natürlich auch von meinen Eltern. Endlich eigenständig sein, weil „ich bin jetzt achtzehn, ich bin groß und mit der Entgegennahme meines Abitur-Zeugnisses überkam mich auch die Weisheit.“ Und seitdem wusste ich, wie der Hase läuft.
Ich wusste, wie man lebt. Vor allem wusste ich es besser als meine Eltern.

„Schwing’ deinen Arsch hoch!“

Ich drückte mich aus meiner Matratze hoch und öffnete meine Augen. Sonderlich hell war es aber noch nicht. Vielleicht irrten sie sich in der Zeit?
Meine Mutter betrat mein Zimmer und zog meine Jalousien hoch. Die Sonne berührte den Rand meiner Dachfenster und der Strahl, der mein Zimmer erhellte und mich endgültig weckte, machte den Staub sichtbar, der aufwirbelte, wenn man sich in meinem Raum bewegte. Ups.
Mürrisch steuerte ich aus meinem Zimmer auf das Bad zu.

8:02 Uhr
Ich dusche, mehr oder weniger freiwillig. Mehr: da meine Haare mir durch den nächtlich angesammelten Schweiß und dem ständigen Plätten, da ich auf dem Rücken schlafe, an dem Schädel kleben. Weniger: weil es verdammt noch mal erst kurz nach acht ist…?!

8:06 Uhr
Unfreiwillig abtrocknen. Ich hasse es mich abzutrocknen. Wenn ich meine eigene Wohnung habe, hole ich mir definitiv einen massiv großen Föhn.

„Unser letztes gemeinsames Frühstück.“ Meine Mutter schniefte. Sie schniefte wirklich. Das schreibe ich nicht, damit es sich besser anhört. Echtes Schniefen. Verrückt.

Ich konnte nur zustimmend Brummen. Wenn ich sentimental geworden wäre, so wäre ich an diesemTag sicherlich nicht losgefahren.
Ich schaute auf den Tisch. Er war ganz gut gedeckt. Es war schon etwas mehr los als sonst. Honig, Pflaumenmus, Gauda, Stinke-Käse, Quittengelee, Jagdwurst, frisches Mett, normale Salami, Salami mit Pfeffer, Salami mit Kapern, gekochter Schinken, geräucherter Schinken, Butter mit Salz, Butter ohne Salz, Butter mit Öl – oh man, wer sollte so viel Butter essen?
Meine Mutter nahm die frisch aufgebackenen Brötchen aus dem Ofen. Sie rochen so wie immer. Neben dem Essen kamen, wie immer, die gleichen Themen auf den Tisch. Und ich aß mich, wie immer, in der gleichen Reihenfolge durch den Aufschnitt.

9:30 Uhr
Habe den Kofferraum geöffnet und erst jetzt realisiert wie mickrig mein Besitz doch ist. Und den allerwertvollsten lasse ich zu Hause.

Ich legte den ersten Gang ein. Ich winkte ihnen.
Sie standen dort wie ein angebrochenes Kit-Kat, das man mit beiden Hälften zurück in die Verpackung gelegt hatte, weil man auf einmal doch keine Lust mehr auf sie hatte. Mir tat plötzlich alles Leid. Dass ich groß geworden bin, dass ich mein Abitur geschafft hatte, ohne weitere Anläufe, dass ich mich nicht für ein Studium in der Nähe entschieden hatte, dass ich keine Ausbildung machen würde, nicht dort wohnen würde. Nie wieder dort wohnen würde.
Ich winkte ihnen und dem Haus. Und dem Garten. Und dem Baum im Garten mit der Schaukel dran. Die in meinen Gedanken, immer noch von dem letzten Mal als ich auf ihr meine Beine weg streckte und anwinkelte, hin- und herschwang.
Ich kurbelte mein Fenster runter.

„Keine Sorge, ich komme zurück!“ Sagte ich mehr zu mir selbst, als es irgendjemanden zu versprechen.

10:25 Uhr
Ganz schön busy auf der Autobahn. Ich gucke alle fünf Minuten auf meine Uhr. Die Zeit fühlt sich trotzdem nicht unter Druck gesetzt und geht es gemütlich an.

10:30 Uhr
Wann will ich eigentlich meine erste Pause machen?

10:35 Uhr
Bin gerade an der Raststätte vorbeigefahren, an der meine Eltern früher immer für mich anhalten mussten. Ich war die Art von Kind, die, obwohl sie „direkt vor dem Losfahren noch einmal auf Toilette waren“, urplötzlich mal mussten.

10:40 Uhr
Ich hoffe, meine Kinder werden mal weniger anstrengend.

10:45 Uhr
Habe gerade überlegt, ob ich noch einmal den ganzen Weg zur Raststätte zurückfahre, da ich urplötzlich das Gefühl habe, dass ich meine Blase nicht mehr lange dicht halten kann. Aber habe seitdem schon zirka 20 Kilometer hinter mir…

Während der Fahrt dachte ich über viele Dinge nach. Plante Sachen bis ins kleinste Detail, um sie eine halbe Stunde später wieder über den Haufen zu werfen. Machte mir Gedanken über den finanziellen Part der Reise. Schrieb in meinem Kopf schon zehntausend Briefe an all meine Freunde und Bekannten von den entferntesten Orten. Obwohl mir noch nicht einmal genau klar war, wo ich in drei Monaten sein würde. Diese Tatsache hatte sich in den ersten hundert Kilometern von einem unheimlich geilen Freiheitsgefühl in beängstigende Ungewissheit verwandelt.
Mein Leben war noch nie so planlos. Und planlos leben wäre super. Wenn man das in unserer Gesellschaft nicht so arg verachten würde.
Man muss doch einen Plan haben. Man muss wissen was man will. Am besten schon mit sechzehn. Oder dann halt spätestens mit achtzehn. Okay, du machst noch ein freies Jahr? Dann halt mit neunzehn.
Oder wenn es überhaupt möglich wäre.
Früher war jeder Tag strukturiert. Ich wusste am Abend davor genau, wann ich am Morgen danach aufstehen würde. Was ich essen würde. Mit welchen Themen ich mich beschäftigen müsste. Wann meine Eltern nach Hause kämen. Wann es Essen gäbe. Wann ich schlafen würde.
Alles, was ich in den letzten sieben Jahren erlebt hatte, war ein Spiel vorprogrammierter Züge des Lebens mit immer den gleichen Gesichtern verschiedenster Mitspieler. Selbst, dass ich den ein oder anderen Freund dazugewann oder verlor, war total voraussehbar.
Und das alles realisierte ich erst während einer mehrstündigen Fahrt ins Ungewisse.

13:14 Uhr
Meine Tankanzeige blinkt.

„Das macht dann drei Euro und fünfzig Cent.“ Räuspern. „Drei EURO und fünfzig CENT.“

Ich schüttelte mich aus meinen Gedanken wach. Der etwas zu klein für sein Gewicht gewachsene Mann streckte mir mittlerweile schon seine Hand entgegen. Ich lächelte und kramte Kleingeld aus meinen Hosentaschen. Er nahm es schnaubend an.
In meinem Kopf hatte sich während der Fahrt eine Art Tunnel errichtet, aus dem ich schlecht wieder entfliehen konnte. Wörter, Sätze, Texte flogen durch ihn hindurch. Als würde ich einen Aufsatz schreiben, in dem ich jetzt erst einmal mein Leben reflektieren würde.
Ich hatte mein Auto mit Benzin gefüllt und danach noch einen Abstecher bei den Toiletten und den Burgern gemacht. Meine Blase war nun wieder geleert und der Burger duftete herrlich fettig aus der Tüte zu meiner Nase hoch.

„Danke.“

Ich nickte und lächelte noch einmal extrem, in der Hoffnung, dass der kleine pummelige Verkäufer es mir nicht übel nehmen würde. Falls ich je dort wieder einmal essen würde. Falls er dann noch dort arbeiten würde. Nur zur Vorsicht.
Ich schlenderte an den besetzten Plätzen vorbei zu einer Couch mit Tischchen, gerade so viel Platz wie für eine einzelne Person nötig war. Mich. Die anderen Gäste waren eher nicht allein. Neben mir ernährten sich noch ein Pärchen mit Baby, zwei Rentner und eine Großfamilie mit vier kleinen, lauten Kindern ungesund.

„Hihihihi, Ahhhhhhhh. Ahhhh, Hiiiiiii! HEY! UH!“ So die Kinder.

Mir war das in meinem Alter natürlich alles zu laut. Genervt beobachtete ich wie der eine kleine Junge dem einen noch kleineren Mädchen an den Haaren zog. Mein Blick wanderte zu den verantwortlichen größeren Menschen, die aber nur genüsslich ihren Burger mampften. Bis das Mädchen schrie. Die Mutter sprang wie vom Blitz getroffen auf und schleuderte ihren Kopf Richtung Kinder.

„MA-XI-MILI-AAN!“

Die Art, wie sie beinahe zeitlupenartig seinen Namen aussprach, versetzte mich sofort in meine Zeit des Testen der Grenzen zurück. So wie man mir erzählt hatte und anhand vorheriger aufgeführter Beispiele, Stichwort Toiletten-Geschichte, hatte ich die Sache auch gut drauf gehabt.

„Zieh der Mira nicht an den Haaren! Und überhaupt könnt ihr eure Lautstärke mal runterschrauben! Hier sind noch andere Leute.“ Sie schaute sich bedeutend in dem kleinen Raum um.

Mir wurde schlagartig bewusst, dass für mich ab jetzt niemand mehr plötzlich aufspringen würde. Mir meine Fehler aufführen würde. Oder überhaupt bemerken würde, wann ich mich falsch verhalte. Etwas falsch einschätze oder sehe. Oder mir sagen würde welches das beste Waschmittel sei.
In der Zeit, die zwischen meiner letzten Prüfung und heute morgen um 7 Uhr 35 lag, hatte ich nichts gemacht. Wenig erzählt. Und genau so wenig gedacht. Einfach mal entspannt. Natürlich mit Ausnahme der paar Tage, die ich genutzt hatte, um für diese Reise zu planen. Ich hatte mir nicht den Kopf über Verantwortung zerbrochen.

17:52 Uhr
Habe Deutschland erfolgreich verlassen. Fühle mich meiner Heimat sehr entfernt. Eventuell zu weit.

18:00 Uhr
Komische Straßenschilder. Ich muss mich sehr konzentrieren. Die Frau im Radio spricht so schnell als würde sie vor den Wörtern fliehen. Ich stelle auf CD um.

Der Fahrtwind durchströmte meine Haare. Ich schüttelte mich – der Fahrtwind würde meine Haare durchströmen, wenn ich nicht hundertdreißig auf dem linken Fahrstreifen einer Autobahn gefahren wäre und mich deshalb entschieden hätte das Fenster geschlossen zu lassen. Stattdessen blies mir die Lüftung gut Sauerstoff ins Gesicht.
In ein paar Stunden würde ich in Calais ankommen. Ich würde auf die Fähre fahren und auf die See Richtung Dover reisen. England war mein erstes Ziel. Der Gedanke dahinter war, dass ich erst einmal mein Englisch stabilisieren wollte. Dann würde ich vorbereitet sein für den Rest der Welt. Also für den Rest der Welt, den ich bereisen wollte.
Während ich an wunderschönen Landschaften vorbei fuhr, von denen ich nur ein Drittel wahrnahm, hatte ich das Gefühl, dass ich alle Zweifel und Unstimmigkeiten hinter mir ließ. Und ich ganz unabhängig und gleichzeitig eins mit den ganzen anderen Menschen auf der Straße war. Ich lächelte die tiefstehende Sonne an. Dieser Moment war so filmreif kitschig, dass ich mich im Nachhinein fast für ihn schäme.
Ich fuhr noch eine Weile gut gelaunt vor mich hin und freute mich über lustige Kennzeichen-Kombinationen.

22:23 Uhr
Pünktlich bei der Fähre gelandet. Steh jetzt in einer Schlange. Vor mir stehen noch zehn Autos. Bin aufgeregt. Entscheide mich die Musik lauter zu stellen.

22:25 Uhr
Habe die Musik wieder leiser gestellt. Mir ist ganz mulmig im Magen.

22:27 Uhr
OK! Mir ist immer noch übel. War der Burger schlecht?

22:28 Uhr
Ich glaube, ich bin einfach jetzt schon seekrank.

Ich parkte das Auto auf dem Platz, der mir zugewiesen wurde. Schnell kramte ich alle wichtigen Sachen vom Beifahrersitz zusammen und sprang heraus. Die Menschenmassen strömten in Richtung einer Tür, die offensichtlich an die oberen Decks führte.
Ich hatte das Gefühl, dass alle meine Aufregung teilten.
Sie waren meine Begleiter des ersten Tages einer Reise. Zur Festigung. Selbstfindung. Zum Entdecken. Und obwohl ich niemanden dieser Leute kannte, hatte ich das Gefühl, sie würden mich stützen und mir helfen. Ich hatte unheimliches Vertrauen. Mir wurde wohler.
Als ich endlich das Deck betrat und auf den Hafen gucken konnte, begannen meine Augen feucht zu werden.
Diese Reise war auch ein sehr langer Abschluss mit meinem vorherigen Leben.

Und dann rief ein Kind neben mir. „Tschüss Deutschland!“ Voll das Bild zerstört.

„Das ist nicht Deutschland, Schätzchen!“

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Der vergessene Tag

“Heute ist der Elfte. Alle sagen zwar, heute ist der Zwölfte, aber das stimmt nicht.
Ich kann es auch beweisen. Weil gestern der Zehnte war, muss heute der Elfte sein, weil nämlich der Elfte
nach dem Zehnten kommt. Das war schon immer so. Die Anderen müssen sich irren.”
“Nein Peter. Heute ist der Zwölfte. Es steht auch hier in dieser Zeitung, die ich dir
mitgebracht habe. Ich kann verstehen, wenn du mir nicht glauben willst, aber der Zeitung
wirst du doch wohl glauben.”
Der Arzt legte die Zeitung in die Mitte des Tisches, wo der Patient sie hätte erreichen können.
Er sah den Arzt an. War es eine Falle? Was würde die Zeitung ihm sagen?
Er überlegte, rutschte auf seinem Stuhl hin und her, bis er es nicht mehr aushielt. Seine Hand
schnellte nach vorn wie der Kopf einer Schlange, die nach einem besonders fetten Mungo
schnappt.
Dort stand es, ganz klein in der rechten oberen Ecke. Zwölf. Er schloss die Augen, zählte bis
Elf, als wäre es ein Gebet, und öffnete sie dann wieder. Immer noch. Zwölf.
“Aber… Das muss ein Fehler sein. Lassen sie mich da anrufen. Ich werde ihnen erklären, dass
sie einen Fehler gemacht haben. Das kann so nicht stimmen. Heute ist der Elfte.”
“Nein Peter. Lass gut sein. Die Zeitung irrt sich nicht. Ich möchte das du versuchst, zu
verstehen, dass heute der Zwölfte ist. Gestern war schon der Elfte. Wir können nicht zweimal
nacheinander den Elften haben.”
“Aber… Nein! Ich meine … Ich… Ich… weiß nicht.
Heute ist der Zwölfte?”
“Ja Peter. Heute ist der Zwölfte. Gestern war der Elfte, also muss heute der Zwölfte sein.”
“Aber…”
“Nein Peter.” Der Arzt unterbrach ihn. Ganz sanft und ruhig, um ihn nicht aufzuregen.
“Ich habe dir gesagt welcher Tag heute ist. Der Pfleger hat es dir gesagt und nun auch die
Zeitung. Ich möchte dich bitten, mir zu glauben. Es würde mich sehr freuen, wenn du mir das
glauben könntest. Kannst du das?”
Der Patient rutschte wieder auf seinem Stuhl hin und her. Sein Blick wanderte über die
schneeweißen Wände auf der Suche nach einem Kalender. Niemals hing ein Kalender an den
Wänden und es ist ihm bisher nie aufgefallen, dass dort keiner hing.
Doch jetzt, wo er ihn suchte, fehlte er.
“Bitte glaube mir. Ich will dir nichts Böses, wenn ich dir sage, dass der Zwölfte ist. Und
eigentlich ist es doch auch egal, oder Peter?”
Er sah in die freundlichen, ehrlichen Augen des Arztes. Der stachelige, rotbraune Bart hob
sich zusammen mit seinen Mundwinkeln zu einem sanften Lächeln.
“Ja. Ich denke heute ist der Zwölfte. Sie werden wohl Recht haben.”
Nachdem sie das schneeweiße Zimmer ohne Kalender verlassen hatten, brachten Arzt und
Pfleger den Patienten in sein Zimmer.
Ruhig auf seinem Bett liegend mit einer Zwölf in seinen Gedanken, überlegte der Patient wo
von es alles zwölf Dinge gab.
Zwölf Stunden eines Tages. Zwölf Monate eines Jahres. Zwölf Eier in einer Packung.
Außerhalb seiner Gedanken und seines Zimmers, den Flur hinunter gehend, sprachen Pfleger
und Arzt miteinander.
“Ich hätte nie gedacht, dass er ihnen das abnimmt.”, sagte der Pfleger. “Ich hätte mir bestimmt
nicht so einfach einen ganzen Tag wegnehmen lassen.”
Ruhig, als würde er mit einem Patienten sprechen, erwiderte der Arzt:
“Doch, das hätten sie.” und ging einen anderen Weg.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Säulen

Ein Frösteln durchzuckte seinen Körper. Er zog die Beine näher an sich und drehte knurrend den Kopf Richtung Boden. Doch das Licht fand seinen Weg in seinen Traum. Helle Flecken wechselten sich hinter seinen Augenlidern mit der Dunkelheit ab. Taumelnd tauchte er aus dem Schlaf an die Oberfläche des Erwachens.
Er blieb noch einen Augenblick mit geschlossenen Augen liegen und fühlte die feinen Härchen der Decke an seinem Gesicht und den Fingern. Endlich erreichten auch die ersten Geräusche sein Bewusstsein. Das feine Säuseln des Windes und ein gleichmäßiges Schaben. Bevor er die Augen öffnete, stellte er es sich vor: Sie, am Eingang, gebeugt über das Fell des gestern Erlegten, ihr energisches Hin-und Her, unterbrochen nur durch das Säubern der Klinge.
Er rappelte sich auf, zog grunzend das Fell an die Wand und rollte es dort zusammen. Die Härchen seiner Haut stellten sich auf, er fröstelte. Der Herbst nahte.
Als er an den Eingang trat, sah sie auf. Sie wechselten einige Worte, sie reichte ihm ein Stück Trockenfleisch und er wandte sich kauend der Grasfläche vor ihm zu. Sein Gang führte ihn einige Meter weit entfernt zu einem tiefen Erdloch, wo er sich erleichterte. Er legte die Hand an die Stirn und sah auf die Ebene, die vor ihm lag und die ihm so bekannt war. Er schaute in den Himmel und erblickte einige Schwalben, die, kaum auszumachen, am Sichtrand ihren Tanz vollführten. Es würde ein schöner Tag werden.
Er stieg hinunter zum Fluss und tauchte seine Hände tief ins Wasser. Er betrachtete sie, die mit Lichtflecken übersät waren und im Wasser zu schwanken schienen. Die Sehnen waren fest und er sah das Spiel seiner Muskeln, als er seine Hände zu einer Schale formte, bevor er sich einen Schwall Wasser ins Gesicht warf. Er leckte die Tropfen von seinen Lippen und wandte sich erneut seinem Zuhause zu.
Sie war gerade dabei, das Fell von den Pflöcken zu befreien und klaubte dabei die letzten Reste Fleisch herunter. Er sah einige Schweißperlen auf ihrem Rücken und ihrem gewölbten Bauch, hörte ihr angestrengtes Atmen. Sie würde noch den ganzen Tag mit dem Hirsch beschäftigt sein. Die Fleischstücke, die im hinteren Teil unter einigen Felsblöcken lagen, mussten noch getrocknet und das Feuer zum Räuchern geschürt werden. Sie musste den ganzen Tag Holz heranschleppen und die Fliegen verscheuchen.
Er drehte ihr den Rücken zu, ging zu dem kleinen Regal an der seitlichen Wand, nahm den Feuerstein und seinen ledernen Beutel an sich. Er ergriff den leichten Speer daneben und legte sich die dünne Decke um. Er wollte heute einen weiten Weg zurücklegen. Ihm würde warm werden.
Er rief ihr einige Wort zu, als er ins helle Sonnenlicht hinausging. Ein leichter Wind strich über seinen Oberkörper, als er sich nach rechts wandte und den Weg in Richtung des Wasserfalls einschlug. Seine Beine führten ihn den Weg entlang, den er schon so oft gegangen war. Er verfiel in den leichten Trab, den er immer einschlug, wenn er allein durch die Wildnis zog. Sein Atem ging gleichmäßig, er beobachtete die Äste rechts und links, die an ihm vorbeizogen, die kleine Lichtung zwischen den Stachelbeersträuchern, die Amseln, die zeternd seinen Weg kreuzten.
Als er das Grasland erreichte, verlangsamte er seinen Gang und schaute sich aufmerksam um. Der Wind bewegte das Gras, als würden Millionen Insekten es im Gleichklang bewegen. Er verließ den alten Pfad, dem er bisher gefolgt war und begann wieder zu traben. Der Speer lag locker in seiner Hand und das Gras gab ein sachtes Geräusch von sich, wenn er mit seinen Beinen an ihm vorbeizog. Er bereute nun kurz, dass er die Decke mitgenommen hatte, doch er wusste, später am Tag würde sie ihm gute Dienste tun.
Gleichmäßig bewegte er sich durch die weite Ebene. Dohlen und Raben stoben auf, ansonsten regte sich kein Lebewesen in der Nähe. Er trabte schnurgerade in Richtung der Sonne, die schon fast ihren Zenit erreicht hatte. Seine Hand fuhr in den kleinen Beutel, zog ein Stück Trockenfleisch heraus, führte es zum Mund. Er sah sich um, doch nichts hatte sich verändert. Bald verschwand der Hügel seines Zuhauses am Rand des Horizonts, überall nur noch Sonne und wogendes Gras. Er beschleunigte kurz seine Schritte und stieß ein glucksendes Lachen aus. Doch dann erinnerte er sich an sein Ziel und kehrte wieder zu seinem bisherigen Tempo zurück. Er würde seine Kraft noch brauchen.
Der Boden wurde unebener und das Gras spärlicher. Zwischen den Grasbüscheln lagen Geröll und kleine Steine, die ersten seltsamen Gegenstände lagen vereinzelt herum. Einige gaben leise heulende Geräusche von sich, wenn der Wind durch sie hindurch pfiff.
Er blieb nicht stehen und behielt seinen trabenden Gang bei, doch sein Blick wanderte von der weiten Sicht über die Landschaft zum Boden vor ihm. Er wurde aufmerksamer, sprang über kantige Steine und die spitz aussehenden Gegenstände. Er hatte schon oft einen von ihnen aufgehoben, doch keinen Nutzen darin entdeckt. Nun sah er sie nur noch auf seinem Weg an, als sie nach und nach mehr wurden und schließlich häufiger zu sehen waren als die letzten vereinzelten Grasbüschel. Die Gegend um ihn herum war grau geworden, nur manchmal blitzen einige der seltsamen Gegenstände im Sonnenlicht kurz auf oder gaben ihre wispernden Stimmen von sich.
Er suchte nun immer öfter den Horizont ab, wann würde es auftauchen? Er war erschöpft.
Dann endlich, weiter rechts als er vermutet hatte, sah er den ersten. Eine kleine Erhebung in der flachen grauen Landschaft. Er wandte sich ihr zu und beschleunigte seinen Schritt. Seine Hand umfasste fester den Speer und er lief gebeugt weiter. Die Erhebung wuchs vor ihm auf, während er sich flink wie ein Luchs näherte. Er starrte gebannt auf sein Ziel. Plötzlich blieb er stehen und lauschte. Doch nur der Wind war zu hören. Er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte und er konnte nicht verhindern, dass seine Schritte schneller wurden.
Die Erhebungen waren nun gut zu erkennen. Wie Säulen ragten sie schwarz in den Himmel. Je näher er kam, desto mehr von ihnen tauchten in seinem Blickfeld auf. Einige waren gerade wie gemeißelte Blöcke, andere waren oben spitz und schief und sahen aus wie geborsten, abgesägt oder zersplittert. Alle von ihnen trugen tausende Löcher, die wie Augenhöhlen dunkel in die Ebene blickten. Unten zwischen den Säulen lagen große Blöcke, auch sie unkenntlich in ihrer Form, aufgehäuft und eingekeilt.
Der Boden veränderte sich ein weiteres Mal. Seine Füße berührten nun flachen, harten Boden, das Geröll war verschwunden und er stieß erleichtert einen Atemzug aus. Hier und da waren Risse im Stein, auch Geröll lag umher, doch dies konnte er leicht umgehen.
Er erreichte bald die erste Säule. Langsam schlich er weiter und duckte sich, so tief er konnte. Er spürte seinen Atem, merkte, wie der Schweiß ihm den Rücken hinunterlief.
Er erreichte ein steinernes Dach, davor einige der seltsamen Gegenstände, doch diese waren nun so groß, dass er um sie herum gehen musste. Die Gegenstände waren von brauner Farbe, doch an einigen Stellen sah er, dass sie früher einmal eine andere Farbe besessen haben mussten. Er näherte sich einem von ihnen und blickte durch eine Öffnung hinein, Leere. Ein muffige Geruch schlug ihm entgegen und er wandte sich ab. Sein Ziel lag irgendwo im Inneren zwischen den Säulen, das wusste er.
Der Weg wurde immer beschwerlicher. Die großen Blöcke versperrten seine Richtung, mehrmals kletterte er einen Block mühsam hinauf um dann zu erkennen, dass es hier kein Weiterkommen gab. Er versuchte, die direkte Nähe zu den Säulen zu vermeiden, doch bald musste er Wege an ihnen entlang suchen, um voranzukommen. Seine Gedanken waren voll Schrecken. Bei jedem Geräusch verharrte er regungslos und lauschte. Er duckte sich hinter Steinen und den seltsamen Gegenständen, lag minutenlang unter einer zerbrochenen Platte zwischen wilden Kräutern und horchte mit weit aufgerissenen Augen. Als er weiter rannte, sah er sein Ziel: Eine der kleineren Säulen, halb auf die Erde gedrückt, wie ein Baum, der vom Blitz getroffen ein letztes Mal neue Blätter sprießen lässt. Er verließ die letzte Deckung vor der Säule und huschte über den davor liegenden freien Platz.
Da hörte er sie.
Er blieb wie erstarrt stehen und lauschte. Kein Zweifel, sie hatten ihn entdeckt. Er kauerte sich zusammen, blickte hektisch in alle Richtungen, lähmende Furcht. Sie kamen.
Er hatte sie schon früher beobachtet, hatte gesehen, wie sie seinen Sohn erwischt hatten, seine gellenden Schreie, die zwischen den Säulen widerhallten. Er schloss die Augen. Damals war er ihm gefolgt, dem furchtlosen Jungen, der den Erzählungen nicht glauben wollte, musste mit eigenen Augen sehen, dass es eine Welt neben ihrer Welt gab, andere Menschen, die sich nicht hatten trennen können von ihrem Leben in der Vergangenheit, die nicht wahrhaben konnten, dass es vorbei war, ein für alle Mal, die in der Stadt zurückgeblieben waren, nach dem Es passiert war, seit über hundert Jahren, nicht gelernt hatten, sich selbst zu versorgen, nur darauf warteten, dass einige von den Restlichen, den Anderen, wie er einer war, gezwungen waren, zurückzukehren. Wie jetzt, um seinen Sohn zu retten.
Er schlug die Augen wieder auf, konnte die Erinnerung nicht ertragen. Doch nun wiederholte sich das Bild, wieder kamen sie langsam auf ihn zu, in ihrer zerschlissenen Kleidung aus der Vergangenheit, ein Durcheinander von allem, was ihnen geblieben war von damals, zerrissene Hosen, Kleider, Röcke, einige trugen sogar noch Hüte, er erblickte einen mit einem Motorradhelm. Auch ihre Waffen die Waffen einer anderen Zeit, Gewehre, Revolver, Schlagstöcke. Er wusste, dass die Waffen kein Feuer mehr spien, schon seit er klein war, konnten sie es nicht mehr, doch fürchten musste er sie trotz allem. Sie waren viele und sie hatten den Kreis um ihn fast geschlossen.
Er stand auf. Drehte sich, suchte mit Blicken den Anführer, erblickte einen Mann mit einem langen Mantel und stechenden Augen. Er erhob seine Stimme in der alten Sprache und hoffte, dass sie ihn noch verstehen würden.
Der Kreis hatte sich geschlossen, es wurde still. Nur seine Stimme tönte zwischen den Säulen. Er sprach von seiner Not, seiner Frau und dem Kind, das sie erwartete, der Medizin, die im Krankenhaus direkt vor ihm war, dem Schrecken der letzten Geburt, ihrem Zustand danach und seiner Angst damals. Er hob die Stimme und erinnerte an die Zeit vor der Katastrophe, vom Zusammenleben aller Menschen, von der Hilfsbereitschaft, der gemeinsamen Sache und ihrem fürchterlichen Untergang. Seine Stimme tönte laut zu ihm zurück, er redete von dem Wild, dass er jagen konnte, den Fertigkeiten der Wildnis, die er ihnen beibringen konnten, damit sie diesen verfluchten Ort endlich verlassen konnten, der Schönheit der Welt außerhalb der Säulen, dem Sonnenlicht, dem Wind zwischen den Hügeln und dem Gluckern des Flusses.
Der Schatten zwischen den Säulen wurden länger. Er merkte, wie seine Stimme schwächer wurde. Seinen Blick hatte er nicht abgewandt vom Mann im Mantel, er starrte ihn an, als er auf die Knie sank und seine Stimme in ein Flüstern überging. Er blickte nach Westen, doch seine Augen erblickten keine Sonne mehr, sie war zwischen den Säulen verschwunden. Er hörte auf zu sprechen.
Der Mann im Mantel sagte leise ein Wort, das er nicht verstand.
Sie kamen langsam auf ihn zu.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

26,8 Jahre

Ein Mann saß auf einem Stuhl in der Einöde. Bis zum Horizont sah man nur rötlichen Staub, der gelegentlich vom Wind aufgewirbelt wurde und es war unmöglich zu sagen, was der Mann vorhatte oder worauf er wartete. Er wusste es tatsächlich selbst nicht so richtig.
Er saß einfach da und schaute in den Himmel, in dem man nur ein paar dünne Wolkenfetzen erkennen konnte, während der feurige Stern unbarmherzig glühend seine Bahn zog.
Am späten Nachmittag schließlich, vernahm er ein Geräusch. Ein lautes Donnern schallte über ihn hinweg und der Mann - Toben war sein Name - stand auf. Ein dunkler Punkt war weit über ihm zu erkennen, der schnell immer größer wurde. Toben berührte den Stuhl und er faltete sich zu einem handlichen Würfel zusammen, den er in seinen Rucksack steckte. Dann wartete er.
Was nun ein paar Minuten später passierte, konnte man beruhigt erstaunlich nennen. Ein Raumschiff der Größe eines Kleinfamilienhauses landete vor ihm. Das war aber weniger erstaunlich, weil es sich um ein Raumschiff handelte, sondern eher, weil es ein nagelneues zu sein schien. Die Außenhülle war sauber und lackiert, hatte keine Dellen, Kratzer oder mit Metallplatten überschweißte Stellen. In Anbetracht dessen, mit wem er hier verabredet war, war ihm das suspekt. Für gewöhnlich reiste sie mit den billigsten Schrottkisten, mit denen sie aus unerfindlichen Gründen ihr Ziel immer unbehelligt erreichte.
Toben hatte sich immer geweigert in so einem Kasten mitzufliegen. Er fürchtete darin einen grausamen Tod zu finden und es am Ende doch immer getan, obwohl er es hasste. Diesmal hätte die Entscheidung eigentlich viel einfacher sein sollen, doch es war ihm völlig klar, dass es hier unmöglich mit rechten Dingen zugehen konnte.
Eine Luke öffnete sich an der Seite des Schiffes und eine Leiter kam herruntergefahren. Über ihm stand die verrückte und einzigartige Chloe.
“Na.”
Toben schüttelte fragend den Kopf. “Kannst du mir das irgendwie erklären?”
“Erst, wenn du an Bord bist.”
“Besteht die Möglichkeit, dass ich das bereuen werde?”
“Jap.”
“Könnte es sein, das ich von ein paar mies gelaunten Typen gefangen genommen, gefoltert und dann getötet werde?”
“Definitiv.”
“Hast du irgendeinen Plan?”
“Sicher, den erzähle ich dir, sobald wir im Orbit sind. Also los!”
Er machte auf der Stelle kehrt und marschierte davon. Er ging lieber eine Woche durch die Wüste als an Bord dieses Schiffes. Wozu brauchte sie ihn überhaupt? Für gewöhnlich musste er dafür sorgen, dass nichts unterwegs kaputt ging. Dieser Raumer schien makellos zu sein.
“Ach komm, warte doch mal!”, rief sie. “Ich habe einen Androiden!”
Er blieb stehen und legte den Kopf ungläubig zur Seite und wurde sauer.
“Hast du nicht!”
“Schau her.”
Er drehte sich widerwillig um. Es war unfassbar, aber da war wirklich ein Androide, wo zuvor Chloe gestanden hatte. Und noch dazu einer der neuesten Generation.
“Was zum… wo hast du das alles her?”
“Komm an Booooord”, sang sie verführerisch.
Fiese, unfaire Frau, dachte er. Sie hatte es wieder geschafft.
Kurz darauf saß er auf einem der Sitzplätze direkt hinter dem Cockpit, neben dem Androiden. Während Chloe damit ausgelastet war sie vom Planeten zu manövrieren, knetete Toben nervös seine Hände und schielte immer wieder zu der intelligenten Maschine hinüber.
“Du also… äh… du bist also ein A.I.A.? Version 4.2, oder?”
Der Androide drehte ihm auf so ungelenke und starre weise das Gesicht zu, dass es ihm kalt den Rücken runterlief.
“Das ist korrekt. Und du bist ein Mensch, männlich”, gab er selbst mit einer monotonen, männlichen Stimme zurück.
Toben nickte eifrig. “Ja! Haben sie bei dir auch schon eines der neuen, künstlichen, neuronalen Hirne verbaut?”
“Auch das ist korrekt, zusammen mit einem Cube-Core und einem Speicher, der alle nötigen Kernheuristiken von MIVAC enthält.”
“Das ist ja unglaublich! Ich habe leider nie einen Androiden getroffen, mich aber immer sehr dafür interessiert. Eure Fähigkeiten sind einfach… und eure Kraft! Wie stark bist du? Warte! Hast du auch die… Kernheuristiken… von…”
So langsam dämmerte ihm, was der Roboter zu ihm gesagt hatte. Ein breites Grinsen erschien auf dem künstlichen Gesicht. “Du hattest mit allem recht.”, lachte er. “Wirklich mit allem.”
Chloe gackerte ebenfalls auf ihrem Pilotensitz und Toben spürte wie er rot anlief.
“Ihr habt mich verarscht! Du bist kein scheiß emotionsloser Roboter, sonder ein richtiger A.S.I.A.! Eeech, ich hätte da bleiben sollen, das ist mir zu blöd.”
“Ach komm, war doch nur ein kleiner Scherz.” Er gab ihm einen freundlichen Klapps gegen den Arm. “Ich heiße übrigens Feynman.”
“Toben, aber das weißt du sicher schon. Also… erzählt mir einer von euch, wo dieses Schiff herkommt und was ich hier soll?”
Die anderen beiden wechselten Blicke. “Nun ja, ich hatte vor dieses Schiff zu stehlen und du lagst auf einer möglichen Fluchtstrecke. Da dachte ich, falls ich einen fähigen Techniker brauche…”, erklärte Chloe.
“Was? Du hast einen Androiden. Was kann ich, das er nicht kann? Wieso muss ich überhaupt mit?”
Sie blieb ihm eine Antwort schuldig, denn etwas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
“Unsere neuen Freunde sind da.”
Toben schaute auf die Scheibe des Cockpits , die gleichzeitig ein Bildschirm war. Wenn er sich nicht verguckte, wurden sie von fast zwanzig Raumschiffen abgefangen und zu seinem schrecken erkannte er auch eines der Modelle.
“Das sind Reißer und nur das Militär hat solche Dinger! Was hast du getan?”, fragte er entsetzt. Chloe zuckte nur mit den Schultern.
“Nichts, nur dieses Schiff gestohlen.”
Währenddessen kam ein Funkspruch, der sie dazu aufforderte, sich zu ergeben.
“Jaha, wahrscheinlich. Muss ein sehr wichtiges sein. Weißt du was passiert, wenn die auf ernst machen?”
“Wenn ihnen das Schiff so wichtig ist, werden sie wohl kaum auf uns schießen. Der Antrieb ist eh gleich aufgeladen, dann sind wir weg.”
“Ich würde sagen: Das ist ist eine solide, logisch gültige Schlussfolgerung und ich bin ein Computer.”, warf Feynman ein.
“Das ist alles kein Scherz mehr. Was ist wenn etwas gefährliches an Bord ist? Dann würde ich uns auch lieber zerstören, als es dieser Frau zu überlassen!” Er zeigte auf Chloe und war sich damit sicher, alle Gegenargumente zerschlagen zu haben.
Wieder eine Warnung über Funk und diesmal klang sie sehr bedrohlich.
“Sie machen ihre Waffen scharf.”, sagte Feynman. “Chloe, mach dich bereit, die meinen es wirklich ernst.”
Toben schluckte schwer.
“Sie feuern! Los!”
In leichter Panik schlug Chloe ihre Hand aufs Pult und auf den Knopf für den Sprungantrieb, in der Hoffnung, dass er genug Saft bekommen hatte. Unmittelbar folgte ein fürchterlicher Schlag gegen Tobens Kopf und ihm wurde schwarz vor Augen. Er kämpfte damit bei Bewusstsein zu bleiben. Aus der Ferne drang eine Stimme zu ihm. Erst schwach, doch dann verstand er etwas und ein synthetisches Gesicht erschien direkt vor seinem eigenen.
“… du mich hören? Toben? Ah, da bist du ja.”
“Was w- das?”, brachte er nur irritiert hervor. “Sind wir tot?”
“Androiden kommen wohl kaum ins Totenreich, also denke ich eher nicht.”, hörte er Chloe geschwächt sagen. Auch sie hatte es erwischt.
“Dem Computer zufolge sind wir gesprungen. Wenn ich mir aber so die Sensordaten ansehe, kann das nicht ganz stimmen.”
“Sprich Klartext, Feynman.”
“Okay, ich hab mal alles geprüft und durchgerechnet. Es wird euch nicht gefallen. Die Sensoren sind etwas unpräzise, aber offenbar bewegen wir uns mit ungefähr 0,999999994815162342 facher Lichtgeschwindigkeit.”
“Das ist unmöglich. Wir hätten springen müssen. Du hast doch den Sprungknopf gedrückt?”
“Nun… es könnte sein, dass ich vor Schreck mehrere Knöpfe erwischt habe…”
“Selbst wenn, es hätte uns zerschmettern müssen.”
Der Androide hob einen Finger. “Anscheinend verhindert ein Kraftfeld, dass das passiert.”
“Toll, da hat wohl jemand an alles gedacht. Dann gibt es bestimmt auch irgendwo einen Ausschalter.”
Feynman schüttelte den Kopf und hielt seine Hand demonstrativ gegen die Rückwand der Kabine. “Nach dem Start hat sich das Antriebssystem abgeschottet. Ich kann keine Eingaben mehr machen oder Befehle zusenden. Es gibt nur regelmäßig ein paar Messwerte aus. Demnach wird das Kraftfeld nach ungefähr… einem Tag nachgeben.”
“Und dann?”, fragte Toben, der die Antwort bereits ahnte.”
“Dann ist entweder eine Systematik verbaut, die das Schiff stoppt… oder wir lösen uns in unsere Einzelteile auf.”
“Dieser Ausflug wird einfach immer schlimmer, ich will in meine sichere Wüste zurück.”
“Das kannst du auch noch, wenn dieser Flug hier vorbei ist. Wir würden dann vermutlich auch nicht mehr gesucht werden. Also wenn wir das überleben, natürlich.”
“Wie meinst du das?”, fragte Chloe. “Ach, Zeitdilatation…”
“Richtig. Bei der Geschwindigkeit vergeht die Normzeit knapp zehntausend mal schneller, als für uns. Das heißt nach unserem Tagesausflug sind für alle anderen fast siebenundzwanzig Jahre vergangen.”
Toben klappte der Mund auf und er starrte Feynman ungläubig an. “Siebenundzwanzig Jahre… “
“Nicht mal ich kann ausrechnen, wie weit fortgeschrittener die Technologien sein werden.”
“Ey, das ist doch super! Ich wollte schon immer mal ‘ne Zeitreise machen. Außerdem haben wir dann auch gleich ein Schiff. Ein Neuanfang.” Chloe glühte regelrecht vor Vorfreude.
“Falls wir überleben. Und man kann nur in eine Richtung Zeitreisen, also gibt es kein zurück. Außerdem ist das nicht genug Zeit, dass uns jede Person und jede Datenbank garantiert vergessen haben wird.”, erklärte Toben und bremste ihren Elan. “Also können wir nichts tun, als zu warten?”
Feynman nickte und setzte sich wieder auf seinen Platz. “Ich fürchte ja.”
“Gut, nützt ja alles nichts.” Mit diesen Worten klappte er seinen Sitz nach hinten und schloss die Augen. Fünf Minuten später war er eingeschlafen und gab regelmäßig ein leises Pfeifen von sich.
“Er regt sich die ganze Zeit auf und beschwert sich, kann aber einfach einschlafen, obwohl wir bald verrecken könnten.”, flüsterte Chloe kopfschüttelnd zu Feynman, der nur mit den Schultern zuckte.
Den restlichen Tag schliefen sie, überprüften die Messwerte oder unterhielten sich. Dabei lag der Fokus besonders auf Spekulationen über die Zukunft. Den beiden Menschen fiel vor allem auf, als wie außergewöhnlich sich Feynmans Intellekt herrausstellte. Er vereinte Kreativität mit der Fähigkeit, viele komplizierte Berechnungen anstellen zu können.
Schließlich näherten sie sich dem entscheidenden Punkt.
“Schnallt euch an. Ich rechne damit das genau so gebremst wird, wie beschleunigt wurde - das heißt, wenn alles funktioniert. Mehrere Dutzend Mikrosprünge im Bruchteil einer Sekunde.”, empfahl ihnen Feynman.
Dann ging ein zittern durch das Schiff. “Es ist soweit.”
Toben’s Gedanken rasten. Waren das seine letzten Momente? Eingesperrt mit einer Irren und einer Maschine, die wertvoller und fähiger war als tausend Menschen? Aber was hatte er schon zu verlieren… er hatte keine Familie, sein Job war schlecht bezahlt und er langweilte sich oft. Das war auch der Grund, weshalb er sich immer so leicht zu solchen Abenteuern hat überreden lassen. Vielleicht war er diesesmal zu neugierig gewesen und bezahlte jetzt dafür. Das Schiff erbebte erneut, dieses mal heftiger. Dann nochmal, direkt gefolgt von einem üblen Knall und Schlag, ähnlich schon wie beim Start.
Wie sich herrausstellte, hatte es tatsächlich eine Automatik gegeben.
“Ein Glück…”, seufzte Toben.
“Den Sternkonstellationen nach sind wir wie erwartet circa siebenundzwanzig Lichtjahre weit gereist. Also springen wir wie abgemacht nach Mintauri? Kara sollte groß genug sein, um eine Vorstellung vom Jetzt bekommen zu können.”
“Habe die Koordinaten bereits eingegeben.”
“Drück bitte diesmal nur den richtigen Knopf!”
“Ja, ja…”
Sie mussten noch etwas warten, um den FTL abkühlen zu lassen. Dann sprangen sie. Sie landeten erfolgreich in dem knapp dreißig Lichtjahre entfernten System und nahmen mit den Sublichttriebwerken Kurs auf Kara.
Doch als sie näher kamen fiel ihnen auf, dass etwas nicht stimmte.
“Was ist das?”
Chloe zeigte auf den Planeten und Toben schnallte sich ab, um sich nach vorne beugen zu können.
“Kannst du was erkennen, Feynman?”
Die Augen des Androiden waren wesentlich besser.
“Feuer… die Städte stehen in Flammen. Und das da…”, er zeigte woanders hin “… das sind Schiffe der Vereinten Flotte. Sie sind schwer beschädigt und ohne Energie.”
“Sie wurden angegriffen! Es gibt niemanden, der so was schaffen könnte.”
Feynman hob wieder seinen Finger. “Du meinst es gab niemanden. Wir haben nur ein Viertel der Galaxie kartographiert.”
“Dieser Tag toppt echt alles”, sagte Toben emotionslos. “Was machen wir jetzt?”
“Wir machen weiter, würde ich sagen. Als erstes brauchen wir was zu essen. Ich habe Hunger.”
“Zur Not könnt ihr euch ja gegenseitig essen”, scherzte Feynman.
Toben seufzte. Was solls, dachte er. Was soll jetzt noch spannendes passieren.

* A.S.I.A. - Artificial Sentient Intelligence Avatar
* FTL - umgspr. für Überlichttriebwerk

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Im Saal der fliegenden Bücher

„Derek, Derek!“, rief Melanie aufgeregt. Das kleine Mädchen flitzte die enge, mit Teppich bekleidete Treppe hinauf. „Flauschig“, nannte sie diese und brachte damit regelmäßig ihre Familie zum Schmunzeln. Eilig klopfte sie an die Zimmertür ihres großen Bruders.
Bevor dieser auch nur „nein“ rufen konnte, hatte sie die Tür schon aufgestoßen und hielt Derek jetzt eine zerfledderte Ausgabe des „Evening Standard“ vors Gesicht. „Das hab’ ich heute gefunden.“, verkündete sie stolz.
Derek, in seiner Ruhe gestört, riss seiner Schwester mürrisch die Zeitung aus der Hand und suchte den fantastischen Fund, den sie angekündigt hatte. „Ich hab’s sogar eingekreist. In Rot.“
In der unteren rechten Ecke, fast vollständig zwischen Werbung für Handytarife verborgen, stand eine kleine, kursiv gedruckte Annonce:
_besuchen Sie _
die weltberühmte Ausstellung
Saal der fliegenden Bücher
noch einen Tag im Tate
an der Londoner South Bank
„Gehst du mit mir dahin? Bitte bitte!“, fragte Melanie mit großen Augen.
Derek rümpfte die Nase. „Was soll denn das sein? Klingt öde. Verzieh dich, ich muss lernen!“
Und damit warf er sie raus. Die Zeitung flog hinterher und landete auf ihrem Kopf. „Du bist so gemein!“, schrie sie die Tür an, die mit einem Knall zugefallen war. Ihr Bruder konnte ein richtiger Idiot sein. Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust und zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Mutter und Vater waren in London unterwegs und sie, mit acht Jahren die Jüngste der Familie, durfte nicht ohne Begleitung in die Stadt fahren. Von Lewisham, der nächsten Haltestelle, brauchte man ungefähr 20 Minuten nach London Bridge. Von da konnte sie eigentlich schon laufen, oder mit der Northern Line nach Southwark fahren. Trotzdem hielten es ihre Eltern für zu gefährlich, alleine durch Central London zu laufen. Mr. Und Mrs. Wilmshurst waren in diesem Punkt sehr streng. Aber, und das war jetzt das Wichtigste: Sie waren gerade nicht da!
Nachdem Melanie die wichtige Anzeige wiedergefunden und die Zeitung, die ihre Finger mittlerweile mit billigem Toner blau verfärbt hatte, zerknüllt und vor Dereks Tür gelegt hatte, machte sie sich auf die Suche nach einer Oyster Card. Mit der blauen Checkkarte konnte sie schnell an ihr Ziel gelangen, ohne vorher am Automaten eine Fahrkarte ziehen zu müssen.
Glücklicherweise wurde sie schnell auf dem Schlüsselbrett fündig.
Eilig packte Melanie ihren Rucksack. Es war kurz nach neun. Der Tate würde um zehn öffnen und sie wollte möglichst viel von der Ausstellung sehen.
In ihre dunkle Harry-Potter-Tasche wanderte eine Wasserflasche, Kekse, der Haustürschlüssel und „The Horse and its Boy“, ihr Lieblingsbuch. „Wer weiß? vielleicht kann ich es auch zum Fliegen bringen.“, überlegte sie leise.
Das abgegriffene, braune Buch der Narnia-Reihe gehörte zu ihren wertvollsten Besitztümern. Es war das Erste, das sie je gelesen hatte.
Seit ihrem sechsten Geburtstag verschlang Melanie alles Geschriebene, das sie in die Hände bekam. Sie liebte Bücher, so sehr, dass ihr Bruder manchmal scherzhaft behauptete, sie „sei im falschen Jahrhundert geboren worden“. Das blonde Mädchen schüttelte dann ihren Kopf, sodass ihre Zöpfe hin- und herschwankten. „Vielleicht leben in diesem Jahrhundert einfach die falschen Menschen!“, gab sie dann frech zurück und streckte ihm die Zunge raus. Und selten hatte Derek dafür ein Comeback parat.
Melanie überprüfte noch einmal, ob sie alles dabei hatte und stahl sich dann leise aus der Tür. Der Tag hatte grau und eintönig begonnen, doch als sie in der Bahn saß, brach die Wolkendecke mit einem Mal auf. Das Mädchen lehnte sich im Sitz zurück und starrte aufgeregt aus dem Fenster. Das gleichmäßige Rattern des Zuges und die typisch englische Stille im Waggon machte sie ein wenig schläfrig…
Aber einschlafen konnte sie jetzt nicht! Sie hatte ihr Ziel klar vor Augen. Der Saal der fliegenden Bücher wartete auf sie. Und heute war der letzte Tag, an dem sie ihn besuchen konnte. „Next Stop: London Bridge.“, tönte die weibliche Ansagerstimme aus den Lautsprechern. „Please Mind the Gap between the train and the platform.“
Es war Samstag und nicht wirklich viel los. Unter der Woche war der Zug stets mit Pendlern vollgestopft, doch heute waren nur wenige Leute unterwegs. Melanie stieg aus und schloss sich dem kleinen Strom an, der an den blauen Flügeltüren stoppte. Nach kurzem Piepen des Kartenlesers bewegte sich der Strom weiter. Kurz blieb Melanie vor dem „Shard“ stehen, dem Wolkenkratzer, der sich tatsächlich wie eine übergroße Scherbe in den Himmel bohrte.
Die Glasoberfläche glitzerte im Licht der Vormittagssonne, als würde das riesige Gebäude ihr zuzwinkern.
Melanie riss sich vom Anblick los und begann ihren Weg durch die engen Gassen, die zur South Bank führten. Hier waren die Wege auf einmal überfüllt mit Touristen, lauten, unhöflichen, mit Kameras ausgerüsteten Menschen, die viel Geld bezahlten, um einen Ort zu sehen, den täglich tausende Menschen sahen und Fotos von Sehenswürdigkeiten zu schießen, die es schon aus jedem Blickwinkel und jeder Tageszeit mindestens eine Million Mal gab. Melanie konnte mit Touristen nichts anfangen. Sie waren Fremdkörper in einem sonst sehr ruhigen Ökosystem, mit wenig Sinn für örtliche Etikette. Und so quetschte sie sich durch die träge Masse der Besucher, vorbei an Shakespeares Globe und der Millenium Bridge, die sie jedes Mal aufs Neue an Harry Potter erinnerte.
Und schon stand sie vor dem Tate Modern, dem Museum, das früher ein Elektrizitätswerk gewesen war. Dementsprechend imposant ragte es in die Höhe, mit dem gigantischen Turm genau in seiner Mitte. Melanie hielt sich nicht lange auf, kämpfte sich weiter durch die Touristenmassen und gelangte schließlich in den zweiten Stock, wo sich die Ausstellung befinden sollte. Das weiß der Wände wurde immer wieder unterbrochen von Projektionen und Infotafeln, aber keine Spur vom Saal der fliegenden Bücher.
Melanie wanderte den Korridor ein paar mal suchend auf und ab, konnte aber nirgendwo einen Hinweis auf die Ausstellung finden.
Gerade wollte sie resigniert aufgeben, als ihr plötzlich ein kleiner Seitengang auffiel. Komisch. Den musste sie wohl zuvor übersehen haben. Gespannt schlüpfte sie in den schmalen Gang, an dessen Ende eine große, mit Schnitzereien verzierte Tür stand. Rechts davor saß auf einem kleinen Hocker ein Mann. Als Melanie vorsichtig näher kam, merkte sie, dass er leise schnarchte. Melanie räusperte sich. „Hallo?“, fragte sie laut. Der Mann schreckte aus seinem Schlaf hoch und schaute sie verwundert an. „Hallo junge Dame. Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er verschlafen, aber freundlich. Er hatte ein Doppelkinn, seinen Kopf zierte eine Halbglatze und er trug eine Brille mit kreisrunden Gläsern. Er kam ihr bekannt vor, sehr sogar. Verwundert sah sie ihn an. „Ist das hier der Eingang zum Saal der fliegenden Bücher?“, fragte sie. Der Mann lachte freundlich. „Ach so. Ich dachte nicht, dass die tatsächlich noch jemand sehen will. Weißt du, diese Ausstellung gibt es schon seit 16 Jahren, seit das Museum eröffnet wurde. In der ganzen Zeit hat kaum ein Mensch je den Weg hierher gefunden. Deshalb habe ich beschlossen, sie für einen letzten Tag zu besuchen…“
„Ich muss ehrlich gestehen, ich habe bis heute noch nie davon gehört.“, sagte das Mädchen. „Ich bin übrigens Melanie. Und du?“
Der freundliche Mann nahm ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Clive. Ich bin zwar eigentlich auch nur Besucher, aber ich kenne die Ausstellung schon lange. Komm herein, ich führe dich herum.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür und bedeutete Melanie, einzutreten. „Diese Ausstellung dient seit jeher einem Zweck: Den Wert der Literatur zu feiern. Ich habe das Gefühl, dass Geschriebenes heutzutage immer mehr an Bedeutung verliert. Das ist absolut grässlich, findest du nicht?“, meinte Clive. „Absolut!“, pflichtete ihm Melanie bei.
Der Raum war in Dunkelheit gehüllt, bis der Künstler einen Schalter umlegte und das kleine Mädchen sprachlos zurückließ. Im sorgfältig arrangierten Licht sah man zahllose Bücher, die sich schwerelos im Raum zu bewegen schienen. Sie bewegten sich auf und ab und schienen hin und wieder in der pechschwarzen Decke zu verschwinden, die wie ein schwarzes Loch über dem Saal hing. Die Wände waren mit griechischen Säulen verziert. Es war wunderbar. „Können in diesem Raum alle Bücher fliegen?“, fragte Melanie aufgeregt. Clive hob eine Augenbraue. „Wie meinst du das?“, fragte er zurück. Wie aufs Stichwort kramte das Mädchen jetzt ihr Lieblingsbuch hervor und reichte es Clive. Der lächelte. „Ein wundervolles Buch.“, verkündete er.
„Du hast es gelesen?“
„Fast. Ich habe es geschrieben.“
Wie bitte?
„Aber… aber…dann bist du ja C.S. Lewis. Das geht doch gar nicht.“, stammelte sie.
Der alte Mann sah ihr über den Rand seiner Brille in die Augen. Dann sagte er: „Stimmt. Eigentlich ist das völlig unmöglich. Und trotzdem stehe ich hier. Melanie, ich bin aus einem ganz besonderen Grund hier. Ich habe diesen einen Tag nicht umsonst ausgewählt. Es ist der eine Tag, den ich noch einmal auf dieser Erde verbringen kann, um jemandem von der Magie der Worte zu erzählen. Das ist der eigentliche Zauber dieses Saals.
Es ist eine völlig abstrakte, ganz und gar magische Ausstellung, die allein durch Vorstellungskraft und Worte zusammengehalten wird.“
„Ich verstehe das nicht.“, meinte Melanie verwirrt.
„Dann will ich es dir ganz einfach erklären. Hast du schon einmal von einer Giraffenschildkröte gehört?“, fragte Clive. „Nein. Wieso?“, fragte Melanie zurück. „Ich auch nicht. Und trotzdem weißt du ganz genau, wie sie aussehen würde, oder?“
Und wirklich. Als Clive das Wort gesagt hatte, war in ihrem Kopf sofort das Bild eines Schildkrötenpanzers entstanden, aus dem ein langer, gelb-braun-gefleckter Hals guckte. Sie kicherte. „Siehst du? Mit Worten kann man alles erschaffen. Und jetzt lassen wir dein Buch fliegen, ja?“, lächelte der Autor. Melanie klatschte entzückt in die Hände, als er das Buch öffnete, sodass die beiden Hälften wie zwei Flügel aussahen, und es schließlich in der Luft losließ. Sofort fing es an, zu flattern und gesellte sich zu seinen Geschwistern, die überall im Saal ausgelassen herumflogen.
Der Tag ging viel zu schnell vorbei. Melanie und ihr Lieblingsautor setzten sich auf eine Marmorbank und sahen den Büchern beim Spielen zu. Dabei erzählte Melanie ihm von all den Büchern, die sie verschlungen hatte und Clive gab ein paar Vorschläge zum besten, was sie noch lesen könne.
Der Abend nahte und Melanie wurde zunehmend schläfriger. „Clive?“, fragte sie gähnend. „Was ist denn, Fräulein Sonnenschein?“, gab dieser lächelnd zurück. „Kann ich durch Worte auch meinen Bruder dazu bringen, nicht immer so gemein zu sein?“, wollte sie nun wissen.
Clive sah eine Weile nachdenklich in die Ferne.
Dann sagte er schließlich: „Auch wenn es dir manchmal nicht so vorkommt: Für deinen Bruder bist du das Wichtigste, was es auf der Welt gibt. Du hättest sehen sollen, wie er als kleiner Junge geweint hat, als er dich zum ersten Mal im Arm hielt. Er hat dir deinen Namen gegeben, weißt du? Und eigentlich kann er überhaupt nicht böse auf dich sein. Im Moment scheint er ein bisschen gestresst, vor allem wegen der Schule…“
„Woher weißt du das?“, fragte Melanie erstaunt. C.S. Lewis lächelte geheimnisvoll. „Gib ihm ein bisschen Zeit. Und vergiss nie, welche Macht in Worten steckt.“
Melanie blinzelte ein paar Mal und streckte sich auf der Bank zum Schlafen aus. Sie gähnte noch einmal herzhaft und schlief dann ein. Clive nahm seine Brille ab und steckte sie in seine Hemdtasche. Dann deckte er das Mädchen mit seinem Jackett zu und verschwand leise.
„Melly? Melly!“
Melanie öffnete verwirrt die Augen. Sie lag auf einer Bank im Hauptflur des Tate. Neben ihr stand Derek, außer Atem und aufgeregt. „Melly! Mein Gott, habe ich mir Sorgen gemacht!“, rief er und drückte die kleine Schwester an sich. „Manmanman, mach das nie wieder, ja? Ich fahre dich auch überall hin, wo du willst. Mama und Papa sind schon ganz außer sich…“
Melanie kuschelte sich müde an die Schulter ihres Bruders und murmelte zufrieden. „Was sagst du? Lass uns nach Hause gehen, Melly…“, meinte ihr Bruder leise. Das Mädchen hob noch einmal den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: „Weißt du, was eine Giraffenschildkröte ist?“
„Nein. Hab ich noch nie gehört.“, antwortete Derek und grinste aufgrund des komischen Bildes.
„Aber du siehst sie, oder?“

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Das Paket

»Öffnet ihr es nun oder nicht?« Sie blickte die beiden auffordernd mit ernstem Gesicht und verschränkten Armen an, so wie sie es immer tat, wenn sie sich unsicher fühlte.
»Nur zu.« antworte Tim mit einem herausfordernden Grinsen, das mehr in den Ecken seiner Augen als an seinen Lippen wirkte.
»Ich werde das sicherlich nicht öffnen!« entgegnete sie aufgebracht.
»Warum nicht?«
»Och, naja, zum einen habe ich gerade meinen Brieföffner verlegt und zum anderen steht da fucking nochmal »Don’t Open, Dead Inside!« drauf!« fuhr sie Tim an, wobei die letzten Wörter fast in ein Schreien übergingen.
»Keiner öffnet das, klar?« sagte Joel beruhigend zu den beiden anderen und blicke zunächst Nara und dann Tim ins Gesicht. Er richtete seinen Blick wieder auf das Paket, das auf dem Tisch zwischen ihnen stand. Es war ein gewöhnliches Paket aus einem gewöhnlichen hellbraunen Karton, verschlossen mit gewöhnlichem Paketklebeband. Das einzig Ungewöhnliche war die mit einem schwarzen Edding und in Versalien geschriebene Botschaft auf der Oberseite des Pakets: »Don’t Open, Dead Inside«. Adressiert war es an die Bewohner ihres Hauses, ein Absender fehlte jedoch auf dem etwa fußballgroßen Paket.
»Was machen wir denn sonst? Rufen wir die Polizei?« fragte Nara.
»Nein, die halten uns doch für verrückt.« ergänze Tim. »Wir liefen das Ding einfach selbst bei den Bullen ab, dann ist es deren Problem. Sollen die das doch öffnen und mit Cthulhu kämpfen. Wir könnten schnell Martins Roten Baron nehmen und die Sache ist für uns erledigt.«
»Quatsch, wir fahren doch wegen so etwas nicht zu den Bullen. So wie du fährst, würden die dir wahrscheinlich deinen Führerschein schon abnehmen, bevor wir überhaupt da sind.« Joel schüttelte den Kopf, schien aber auch keine andere Idee zu haben, was sie nun tun sollten.
»Wenn wir wenigstens wüssten, von wem das Paket ist.« bemerkte Nara, noch immer mit verschränkten Armen.
»Ja…« stimmte Tim zu und sagte dann plötzlich: »Halt mal, hier steht eine Adresse.« Er beugte sich ein wenig näher zum Paket vor und kniff die Augen zu, als ob er einen nur schwer lesbaren Text entziffern wollte. »P. Sherman, 42 Wallaby Way, Sydney.«
»Oh man, du bist ja so witzig!« fauchte ihn Nara an und stieß ihn ein Stück zur Seite.
Die drei blickten eine Weile nachdenklich auf das Paket herunter. Nach einer Weile sagte Tim grinsend: »Vielleicht ist ja Schrödingers Katze drin.«
»Ja, oder Tom Hanks Ball ›Wilson‹.« erwiderte Nara amüsiert.
»Oder Olli Schulz.« sagte Tim lachend.
»Oder ein MacGuffin.« sagte Nara zwinkernd.
»Das wäre aber ziemlich lahm.« entgegnete Tim. »Was war eigentlich noch mal in dem Paket in ›Sieben‹ drin?«
»Keine Ahnung mehr…« sagte Nara mit grübelndem Gesicht und fragte dann: »Gab es nicht auch mal bei den Simpsons Kisten, die in Paralleluniversen geführt haben?«
»Das war bei Futurama. Aber vielleicht ist da ja auch deine Aufnahmebestätigung für Hogwarts drin.«
Nara kniff böse ihre Augen zusammen. »Die kommt mit einer Eule, du…«
»Habt ihr dann jetzt alle popkulturellen Referenzen durch?« unterbrach Joel die beiden genervt.
»Vielleicht ist da ja auch das abgesaugte Fett von Joels Mutter drin.« erwiderte Tim halblaut.
»Hatten wir nicht gesagt: Mutter-Witze nur noch, wenn sie gut sind?« fragte Nara.
»Sag mal, haltet ihr das alles für einen verdammten Witz?« fuhr Joel die beiden an.
»Mein Gott, was soll denn schon Schlimmes drin sein?« fragte Tim.
»Möglicherweise eine Paketbombe? Oder Milzbrand?« entgegnete Joel aufgebracht.
»Korrekt. Und vorsichtshalber weisen die Terroristen auf den tödlichen Inhalt ihrer Postsendung hin, nicht dass sie hinterher noch Ärger mit ihrer Versicherung bekommen.«
»Gut. Dann öffne es doch.« forderte Joel Tim auf.
»Das habe ich damit auch nicht gesagt…« erklärte Tim kleinlaut und wich ein Schritt vom Paket weg.
»Aber Tim hat nicht Unrecht.« sagte Nara. »Jeder kann diesen Mist da drauf gekritzelt haben. Das muss gar nichts bedeuten. Und wir bekommen hier Schiss, nur weil vielleicht der kleine Sohn vom Paketboten in seiner Langeweile die Pakete verziert hat.«
»Nun.« sagte Joel. »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir glauben, dass sich damit jemand nur einen schlechten Scherz erlaubt hat. Dann sollten wir das Paket jetzt öffnen. Oder wir glauben, dass es gefährlich ist. Dann sollten wir uns vielleicht nicht gerade in der Nähe von dem Ding aufhalten.« Joel schien in den Gesichtern der anderen beiden lesen zu wollen, wofür sie sich entscheiden. Schließlich fragte er: »Also?«
»Öffnen.« sagte Tim und scheiterte bei dem Versuch, dabei entschlossen zu klingen.
Nara schluckte, verschränkte wieder die Arme und setzte ihr ernstes Gesicht auf. Schließlich sagte sie leise »Öffnen.«, was jedoch mehr nach einer Frage als nach einer Antwort klang.
»Alles klar.« sagte Joel.
Keiner der drei rührte sich. Nach einer quälend langen Zeit sagte Tim schließlich: »Glücklicherweise treffen wir ihr alle Entscheidungen nur mit der größten Überzeugung und Tatkraft.« Daraufhin trat er langsam etwas näher zum Tisch und führte seine seine rechte Hand zu dem Paket. Die Zeit schien mit jedem Zentimeter, den er sich dem Paket näherte, langsamer zu vergehen. Obwohl er die Situation vollkommen lächerlich fand, schien seine Hand ein wenig zu zittern. Die beiden anderen beobachteten ihn angespannt und schienen sich auf alles vorzubereiten.
Tims geöffnete, inzwischen sichtbar zitternde Hand bewegte sich vorsichtig zu einer Ecke des Pakets, an der er es näher zu sich heran ziehen wollte. Sein Daumen berührte die eine Seite, seine übrigen Finger die andere Seite des Pakets, als sich im Innern des Pakets etwas zu bewegen und gegen den Karton zu schlagen schien. Er zuckte blitzschnell zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Stelle, an der kurz zuvor noch seine Hand lag.
»Hat sich das Paket gerade bewegt?« fragte Joel, der erschrocken auf das Paket starrte.
»Da… ist etwas drin.« flüsterte Tim mit trockenem Mund. Es klang, als ob er für das Aussprechen jedes einzelnen Wortes einer großer Anstrengung bedurfte.
»Willst du uns verarschen?« fragte Joel und blicke Tim böse an.
Wütend und fassungslos schrie Tim ihn an: »Was?«
»Dieselbe Scheiße hast du doch auch beim Gläserrücken abgezogen!«
»Pass mal auf.« entgegnete Tim, immer noch wütend. »Erstens war das damals Martin und zweitens habe ich mich eben mehr erschreckt als ihr!«
Nara stimmt ihm zu: »Das Ding hat sich wirklich bewegt… glaube ich.«
»Also ich fasse das nicht nochmal an.« sagte Tim kopfschüttelnd mit Blick auf das Paket.
»Also wenn da etwas Lebendiges drin ist, wissen wir jetzt immerhin, dass es nicht Schrödingers Katze ist.« sagte Nara trocken.
Joel sagte resignierend: »Warten wir einfach auf Martin. Immerhin ist das Paket ja an alle Bewohner adressiert.«
»Ja, wo ist der eigentlich? Wieso nimmt der ein Paket an und öffnet es dann nicht?« fragte Tim.
»Was?« Joel schaute Tim schockiert an. »Martin ist doch noch in Hamburg. Ich dachte, du hättest das Paket angenommen?«
»Nein.« sagte Tim kopfschüttelnd und blickte die beiden anderen verzweifelt an. »Es stand schon vorher da.«
»Alles klar.« sagte Joel und stieß ein böses Lachen aus. »Nicht nur, dass wir hier ein offenbar tödliches Paket haben, das sich bewegt. Es weiß noch nicht mal jemand, wie es hier hergekommen ist?«
Wieder starrten die drei auf das Paket, inzwischen aber deutlich verängstigter. Nach einer langen Pause murmelte Tim mehr zu sich, als zu anderen: »Vielleicht ist da ja Martin drin…« Die beiden anderen starrten ihn fassungslos an. »Ich…« Tim stotterte. »Ich mein ja nur… sein Kopf… würde da reinpassen…«
»Wow.« sagte Nara kopfschüttelnd. »Das ist wirklich ein Tiefpunkt. Selbst für dich.«
»Irgendjemand treibt hier ein krankes Spiel mit uns.« sagte Joel.
Plötzlich hörten sie, wie ein Schlüssel in ihre Haustür gesteckt wurde und sich die Tür langsam zu öffnen begann. Ein Mann erschien in der Tür, die er leise hinter sich schloss. Er kam langsam und vorsichtig näher und schien die drei noch nicht bemerkt zu haben. Er schien entkräftet und hatte rote Augen, sein Haar war zerwühlt. Die drei wichen vor ihm zurück, als ob sie sich nicht in seiner Gegenwart aufhalten dürften.
»Martin…« begann Nara, einerseits erleichtert, ihn zu sehen, und andererseits schockiert, ihn so zu sehen.
Martin hielt sich eine Hand vor den Mund und blickte sie an, wobei es wirkte, als ob er sie nicht richtig wahrnehmen würde. Er schaute in dem Zimmer umher und blieb mit seinem Blick an dem Paket auf dem Tisch hängen. »Nein!« schrie er. »Nein, nein, nein!« wiederholte er, immer lauter und verzweifelter schreiend. Er sank entkräftet in einen Sessel und begann völlig enthemmt an zu weinen. Seine Tränen suchten sich ihren Weg durch die Finger, mit denen er seine Augen beschirmte.
Joel kam auf ihn zu. »Martin. Was ist los?« Joel sah ihn mit einem Blick an, den sie bei ihm noch nie gesehen hatten. Noch nie hatte Joel so verängstigt ausgesehen. Martin reagierte jedoch nicht. Er blieb weiterhin in dem Sessel sitzen und weinte zitternd. Joel wollte ihm die Hand zur Beruhigung auf die Schulter legen, konnte jedoch die Kraft dazu nicht aufbringen.
Plötzlich sagte Tim: »Ich weiß, was in dem Paket ist.«
»Weil wir es schon längst geöffnet haben.« sagte Nara mit der gleichen plötzlichen Klarheit.
Die drei drehten sich wieder zum Tisch um, auf dem das geöffnete Paket stand. Mechanisch gingen sie auf das Paket zu. Es war leer.
»Ich hätte es verhindern können…« murmelte Martin.

Während er das Geschenk vorsichtig in das Paket legte, las sie die Karte laut vor: »Alles Gute, Bruderdude. Da du unglücklicherweise an deinem Geburtstag deine Prüfung hast und ich deine Fahrfähigkeiten kenne, hat Sookie dir zum Trost extra noch ein paar von ihren weltbesten Keksen gebacken. Lass mir und den anderen ein paar übrig. Sollte es unerwartet doch noch mit dem Lappen geklappt haben, weißt du ja, wo du den Schlüssel für den Roten Baron findest. Oder du wartest damit auf mich, ist ja nur ein Tag. Liebe und Hass, Martin.« Sie blickte ihn an. »In der Karte schwärmst du von meinen Keksen und außen aufs Paket schreibst du, dass sie giftig sind?«
Martin lächelte sie an. »Ach, das mit dem »Dead Inside« ist doch nur ein Scherz. Das werden die schon richtig verstehen, keine Sorge.«

»Wegen einem Tag. Wäre ich einen verdammten Tag früher gekommen.« sagte Martin zu sich selbst.

»Oh man, ich liebe diese Keske!« Tim hatte das Paket erst halb geöffnet, langte aber bereits mit seinem Arm in das Paket und zog die Tüte mit den Keksen heraus.
»Was soll der Spruch?« fragte Joel und wies auf die mit Edding geschriebene Botschaft auf dem Paket.
»Was weiß ich.« erwiderte Tim und schob sich bereits einen Keks in den Mund. Mehrere Krümel fielen aus seinem halb geöffneten Mund, als er ergänzte: »Wahrscheinlich irgendeine Referenz aus einer seiner dummen Serien. Game of Thrones vielleicht.« Er riss das Paket ein Stück weiter auf und angelte die Karte heraus. Er überflog sie grinsend und sagte dann zu den beiden anderen: »So, damit ist es offiziell! Ich darf seinen Roten Baron fahren! Wer kommt mit ins ›Two Whales?‹ Ich lade ein!«
»Was? Als ob er dich den Baron fahren lässt!« sagte Joel und zog ihm die Karte aus den Fingern, um sie selbst zu lesen.
»Also ich werde mit dem Ding sicherlich nirgendwo hinfahren.« erwiderte Nara abwehrend. »Ich bekomme ja schon halbe Zusammenbrüche, wenn Martin mit dem Ding fährt. Es gibt nur einen Menschen auf der Welt, der die Schrottkarre halbwegs beherrscht und selbst bei dem bin ich mir nicht sicher.«
»Ich bin mit Martin in dem Ding gefahren, seit er es sich hat andrehen lassen. Ich beherrsche das Ding besser als er!«
»Du hast es aber nie selbst gefahren.« entgegnete Joel.
»Jetzt darf ich es aber. Heute 8:23 Uhr auch staatlich genehmigt. Also was ist jetzt mit euch?«

»Nein.« Tim schüttelte den Kopf. »Du bist nicht Schuld.«

»Tritt mal ein wenig auf die Bremse.« sagte Joel erregt.
»Ich versuch’s doch!« sagte Tim panisch.
»Ich dachte, nur die scheiß Kupplung ist im Arsch?«
»Ja, eigentlich schon. Aber die Bremse reagiert jetzt auch nicht mehr!« Sie sahen, wie Tim mit einem Fuß panisch auf die Bremspedale trat.
»Oh Gott, halt an!« schrie Nara hinter ihnen.
»Das Ding blockiert!« schrie Tim zurück.
»Brems!« schrie nun auch Joel, bevor sie an der Biegung endgültig von der Straße abgekommen waren und mit vollem Tempo auf den Baum zurasten.

Tim spürte wie die Realität stärker wurde. Wie er, der längst keine Realität mehr war, verdrängt wurde. »Du bist nicht Schuld!« wiederholte er schreiend. Martin reagierte nicht. Er konnte ihn nicht hören, ihn nicht wahrnehmen. Tim war nicht bei ihm. »Du bist nicht Schuld!« schrie er ein letztes Mal, bevor die Realität mit voller Kraft in das Zimmer flutete, es ausfüllte und Martin allein zurück blieb.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Der Tunnel

Frank legte sich in sein hartes Bett. „Ein Tag noch“, dachte er, bevor er einschlief. Dies war zumeist sein letzter Gedanke nach einem harten Tag und einer noch härteren Nacht. Das Graben war zu seinem einzigen Lebenssinn geworden. Der Tunnel, der sich unter seinem Bett versteckte, war selbst vor der Vollendung sein einziger Ausweg.

Er konnte sich nicht mehr erinnern wann er mit dem Graben angefangen hatte, obwohl er die Zeit vor dem Tunnel durchaus nicht vergessen hatte. Die ersten Monate waren schwer gewesen und er hatte niemanden gefunden der ihm aushalf oder ihn anleitete. Also hielt sich Frank zurück, blieb so unauffällig wie er nur sein konnte, und wurde trotzdem nicht selten zum Opfer auserkoren. Es war wenig überraschend, dass der Gedanke an eine Flucht bereitwillig in seinem angsterfüllten Bewusstsein aufkeimte. Die Flucht war nur ein Hoffnungsschimmer, eine Reflexion der leuchtenden Versprechungen des Tunnels, wie er später feststellen würde. Doch ein Schimmer reichte aus, um sich am Leben festzuklammern.

Die anderen Gefangenen lachten ihn aus, wenn er sie darauf ansprach. Noch nie sei jemand geflohen, sie würden ihn garantiert erwischen, was wolle er überhaupt da draußen. Selbst die Wärter amüsierten sich nur, wenn sie ihn überhörten, anstatt sich besorgt zu zeigen und ihn zu ermahnen. Frank gab nicht auf und brütete über dieses eine Wort – Flucht – bis die Lösung von alleine zu ihm kam. Er war im Hof und saß, wie immer, am Rand und beobachtete die Anderen. Er sah niemanden direkt an, ließ vielmehr seinen Blick, beim Versuch die kleine Welt zwischen den Zäunen als Ganzes zu erfassen, schweifen. Da fielen ihm zwei stämmige Männer auf, die mit ihren Füßen emsig den Boden beackerten. Sie arbeiteten prustend und keuchend und die Vertiefung in der harten Erde wuchs weiter. Ein Wärter war inzwischen ebenfalls auf sie aufmerksam geworden und ihm gefiel nicht was er sah. „Hey“, schrie er, den Zeigefinger anklagend erhoben, “lasst den Scheiß.“ Die Männer blickten unbeeindruckt zu ihm auf, sahen sich an und gingen achselzuckend davon. Frank erfuhr nie warum sie gegraben hatten, und der Vorfall wiederholte sich nicht. Aber eine Idee war geboren – der Tunnel. Noch in der selben Nacht schaute er sich in seiner kleinen Zelle um, bis er sich auf eine Stelle im tiefen Schatten seines Bettes festlegte.

Bei seinem Werkzeug konnte er nicht wählerisch sein. Es gab keine Werkstatt, wo die Gefangenen tagsüber beschäftigt wurden, und keiner von ihnen durfte in der Krankenstation oder der Kantine arbeiten. Auf geschmuggelte Waren konnte er ebenso nicht zurückgreifen, denn er hatte keine Kontakte. Er kannte niemanden, auch wenn er mittlerweile all ihre Namen und von ihren Geschichten wusste.
Frank hatte das Glück, dass zu seiner Zeit noch Besteck aus Stahl verwendet wurde. Viele Jahre später würde der Stahl Aluminium weichen, und noch später billigem Plastik. Dann wäre Frank’s Plan womöglich zum Scheitern verurteilt gewesen, aber zu seiner Zeit hatte er alles um seine Idee alleine zu verfolgen. Als er den ersten Löffel verstohlen in seine Unterhose gesteckt hatte, hatte er gezittert, und in dieser ersten Nacht hatte er lange gezögert bis er zum ersten Schlag ansetzte. Der Stahl drang ein und die Wand krümelte darunter weg, doch das Geräusch dieses ersten Schlages erschien ihm so laut, dass er zurückschreckte und den Rest der Nacht mit pochendem Herzen im Bett verbrachte. Der Schall hallte lange in seinen Ohren nach.

Von Nacht zu Nacht war er mutiger geworden, arbeitete eifriger und länger. Die Umrisse des Tunnels wurden sichtbar und schon bald war eine großflächige Vertiefung entstanden, die er lächelnd in der Dunkelheit abtastete. Je tiefer sie wurde, umso selbstbewusster wurde er. Der Gedanke an die kommende Nacht erhellte seine Tage und er wunderte sich manchmal ob es je einen glücklicheren Gefangenen gegeben hatte.

Den Schutt loszuwerden, der sich unter seinem Bett anhäufte, war erstaunlich einfach gewesen. Er stopfte sich jeden Morgen die Hosentaschen voll und entleerte sie heimlich, wenn er im Hof auf der abgelegensten Bank saß. Äußerlich behielt er seine Gewohnheiten bei, wenngleich jeglicher Respekt oder gar Angst vor den Wärtern stiller Verachtung gewichen war. Sie waren träge, unaufmerksam und zu selbstsicher, fast schon selbstgefällig. Trotz allem achtete er darauf nie die Vorsicht zu vernachlässigen und die Anderen so zu unterschätzen wie sie ihn. Er versteckte immer seine Handflächen und die Blasen, die in jeder Nacht erneut aufplatzten, und so war aus der flachen Vertiefung in der Wand ein schulterbreites Loch geworden.

Die Anderen bemerkten weiterhin nichts, doch sie spürten vielleicht eine Veränderung in Frank und ließen ihn in Frieden. Der neue Häftling kam ihnen da gerade recht. Es war ein junger Mann, ungefähr so alt wie Frank als er damals eingetroffen war. Die Jugend war nicht das einzige was Frank wiedererkannte. Der Junge war unerfahren, scheu und die Angst sprach aus seinen unruhigen Augen. Selbst sein schmächtiges Aussehen erinnerte ihn an sein jüngeres Ich, und er empfand zu seiner Überraschung mehr als nur einen Hauch von Mitleid. Seine Mitgefangenen fühlten anders. Sie schikanierten und terrorisierten den Neuen wie und wo es nur ging. Frank beobachtete und sah wie wenig von seinen Rationen in der ersten Woche übrig blieb. Er wusste auch wie sich die blauen Flecken anfühlten, die sich unter seinen Klamotten versteckten.
Als er sich nicht mehr zurückhalten konnte, war gerade eine Gruppe von Männern um den Neuling herum handgreiflich geworden. Frank visierte den Größten von ihnen an, der den gnadenlosen Hieb in seine Flanke nicht kommen sah. Die Anderen rissen ihre Augen auf und wichen erstaunt zurück. Frank hatte genug Zeit, um einem Weiteren einen Kinnhaken zu verpassen, bevor sie sich auf ihn stürzten. Er brachte noch einige zu Boden, ehe die Wärter ihn retteten. Der Junge hatte wie angewurzelt zugesehen.

Frank verbrachte eine Woche im Krankenbett, eine weitere in Isolation. Die Verletzungen waren schmerzhaft, aber sie machten ihm nichts aus. Die Zeit ohne seinen Tunnel verbringen zu müssen kam ihm hingegen wie eine weitere lebenslängliche Strafe vor. Er schritt durch die winzige Zelle und seine Hände tasteten die Wand nach den vertrauten unregelmäßigen Kanten des Tunnels ab. Diese vergebliche Suche trieb ihn zur Verzweiflung und beinahe zum Wahnsinn.
Als er in seine Zelle zurückkehren durfte konnte er die Nacht kaum erwarten. Er beschloss nie wieder etwas zu riskieren, was seinen Tunnel in Gefahr bringen könnte. Am nächsten Tag kam der Junge, um sich bei ihm zu bedanken, und Frank nickte nur abweisend ab. Er zog sich von nun an noch weiter zurück. Nur nachts wurde er aktiv, kroch immer tiefer in die Dunkelheit und rammte sein verschlissenes Werkzeug gegen die graue Wand bis ein weiteres Stückchen herausbrach. Später legte er sich ermüdet ins Bett und hoffte, dachte, glaubte, dass er nur noch einen Tag überstehen musste, bevor er die Wand endlich durchbrach.

So vergingen die Nächte und Tage für Frank und der Tunnel wuchs. Sein Werkzeug nutzte sich ab oder zerbrach und er besorgte sich am nächsten Tag routiniert einen Ersatz, und grub weiter. „Nur noch ein Tag“ war zu seinem Mantra geworden. Die Tage wurden zu Jahren, aber Frank spürte kaum wie ihn die Zeit ein- und überholte. Aus Frank war der alte Frank geworden, aber sein Tunnel wuchs weiter. Seine verkrusteten Hände gingen immer noch voller Lebenskraft ans Werk, bevor er sich auf die ausgeleierte Matratze fallen ließ.
„Ein Tag noch.“ Dann war aus dem alten Frank nur der Alte geworden. Kaum ein Wärter war noch geblieben, der sich an seinen ersten Tag erinnerte. Kaum ein Gefangener, der seinen Namen noch kannte. Der Alte wurde in Ruhe gelassen, wenn er im Hof oder in der Kantine ein Nickerchen machte. Und der Tunnel wuchs weiter.

Die Anderen hätten ihm mit Bestimmtheit gesagt, dass sein Tunnel nirgendwo hinführte, und dass er sich umsonst abmühte. Keiner von ihnen hätte erwartet, dass einer der grauen Brocken eines Nachts in die falsche Richtung fallen und mit einem spitzen Klirren auf einen metallischen Untergrund landen würde. Frank war nicht überrascht. Er presste sein Gesicht gegen die zerkratzte Oberfläche und schaute durch das kleine Loch. Auf der anderen Seite befand sich ein horizontaler Schacht. Neben den rostigen Rohren war gerade genug Platz für einen kauernden Menschen. Frank sah auch, dass die Wände und Rohre kaum merklich von irgendwoher in der Ferne erhellt wurden, und sein Herz machte einen Sprung. Doch er wusste dass die Nacht bald vorbei sein würde. Er konnte nicht auf den letzten Metern von der Vernunft ablassen, die ihn so weit gebracht hatte. Er vergrößerte behutsam das Loch, darauf achtend dass kein noch so kleiner Stein in den Schacht fiel. Schließlich kroch er rückwärts aus dem Tunnel und schüttelte den Staub ab. Dann legte er sich in sein Bett.
„Ein Tag noch“, dachte er, bevor er friedlich einschlief.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Die letzte Geschichte

‚Die drei Trolle hieben mit ihren riesigen unförmigen Pranken nach ihren Beinen, doch sie war für die fast unterarmlangen Krallen schon nicht mehr zu erreichen. Sie hatte es geschafft. Jetzt erst wurde ihr ihre Erschöpfung bewusst, als sei sie am Ende ihrer Kletterpartie am obersten Punkt des Überhangs in einen zähen Nebel gestiegen, der an ihren Gliedern zog wie kalter Honig. Sie sah sich um. Kein Feind in Sicht, bis auf die drei Trolle, die sich mit immer leiser werdendem Grunzen aufmachten, in ihre Eishöhle zurückzukehren, und bald schon nur noch wie kleine, rollende Felsen in der Landschaft aussahen. May zog ihren gekrümmten Schwarzholzstab aus der extra dafür gefertigten Rückenhalterung, stemmte ihn vor sich in den grasbewachsenen Boden und stütze sich mit verschränkten Armen darauf ab. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, füllte ihre Lunge mit der lauen Abendluft des langsam ausklingenden Frühsommertages. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel am westlichen Horizont in ein tiefes Rot, das langsam in ein sattes Violett überging. Sie ließ die verbliebenen goldenen Lichtstrahlen ihr Gesicht wärmen und gab schließlich der Erschöpfung nach und ließ sich auf eine moosbewachsene Wurzel des enormen Eichenbaumes fallen, der vielen Wanderern als weithin sichtbare Wegmarke diente.
Ihr schweigender, für unaufmerksame Augen kaum wahrnehmbarer Begleiter lehnte neben ihr am massiven Stamm der Eiche und schaute sie mit gütigen Augen an. In seinem unscheinbaren grauen Gewand schien er mit der umgebenden Natur zu verschmelzen.
„Die Trolle werden von Tag zu Tag mutiger“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Begleiter. „Vor zwei Tagen sind sie beim letzten Sonnenlicht schon lange wieder in ihrem Loch gewesen.“
Zustimmend nickte er langsam und fuhr sich durch seinen langen weißen Bart, der direkt unter dem Kinn einen bläulich-grauen Fleck in Form eines Halbmondes bildete. Langsam, wie unter großer Anstrengung, hob er seinen Arm und deutete auf –‘

„Sieh ihn dir nur an. Wie lange sitzt er jetzt schon hier?“
„Seit heute Morgen 8 Uhr. Er war nach mir der Erste im Krankenhaus.“
„Wart ab. Er wird wieder sagen, dass sein Rücken ihn umbringt, wenn er aufwacht.“
Ein müdes Lächeln deutete sich auf Toms aschfahlem und von Sorgenfalten übersäten Gesicht an. Groteskerweise zeichnete sich seine Qual dadurch nur noch viel deutlicher ab. Selbst einige seiner engsten Freunde hätten ihn so nicht wiedererkannt.
„Ich glaube, wir sollten ihn aufwecken und heimbringen. Das kann ich ja dann machen und du bleibst hier bei Marie und versuchst, etwas Ruhe zu finden,“, schlug Toms Bruder Christian vor.
„Ja gut, wie du willst.“
Christian erhob sich aus dem leeren Nachbarbett und lief um das Bett seiner kleinen Nichte herum, wo ihr Großvater mit verschränkten Armen und dem Kopf auf der Brust in einem der unbequemen Besucherstühle tief und fest schlief. Seine Kette mit dem Anhänger seiner verstorbenen Frau hing ihm schlaff um den Hals. Sanft schüttelte Christian ihn an der Schulter.
„Papa. Papa, wach auf.“ Er versuchte ihn so behutsam wie möglich wachzurütteln. „Komm, wach auf.“
Mit einem tiefen Seufzer schlug sein Vater kurz die Augen auf, hob langsam seinen Arm und schaute sich um. Stück für Stück schien er zurückzukehren und ihm wurde bewusst, wo er sich befand. Der Blick auf die schwarze Krücke, die die letzten Jahre der ständige Begleiter seiner Enkelin gewesen war und nun ungenutzt an ihrem Krankentisch lehnte, holte ihn endgültig zurück. Mit niedergeschlagenem Blick ließ er seinen Arm sinken.
„Geht’s dir gut, Papa?“
Mit seinen grauen Augen schaute er seinen jüngsten Sohn an.
„Ja, sicher. Wie geht’s Marie? Ist sie aufgewacht?“
„Noch nicht. Die Ärzte wissen auch noch nicht, ob und wann sie aufwachen wird.“
Die Erregung und Hoffnung im Gesicht ihres Großvaters machte schierer Verzweiflung Platz.
„Aber ich war doch bei ihr. Ich war bei ihr!“ Mit diesen Worten erhob er sich halbwegs, nur um sich dann wieder in seinen Stuhl fallen zu lassen. „Ich war doch die letzten paar Tage immer bei ihr.“
„Papa, ich glaube, wir sollten dich nach Hause bringen. Marie liegt doch erst seit heute hier im Krankenhaus. Du hast fast die ganze Zeit geschlafen.“
„Nur einen Tag?“ Nachdenklich schaute er von einem Sohn zum anderen. Wären die beiden etwas aufmerksamer gewesen, hätten sie das Funkeln in den Augen ihres Vaters bemerkt. „Was soll ich denn zuhause? Ich würde sowieso nur rumsitzen und mich fragen, was mit Marie ist. Außer auf der Couch liegen und in diese verdammte Kiste schauen, kann ich ja nicht mehr machen. Was soll ich denn alleine zuhause, ohne Marie?“ Die Verzweiflung schnitt ihm die Stimme ab, sodass seine letzten Worte kaum verständlich über seine Lippen kamen. Tom und Christian schauten sich an. Beiden war nie wirklich bewusst gewesen, wie wichtig Marie für ihren Großvater war. „Und wir wissen doch gar nicht, was jetzt genau mit ihr ist. Wie es mit ihr weitergeht. Heute könnte ihr letzter Tag sein. Oder morgen.“ Jetzt da dies ausgesprochen war, wurde Tom und seinem Bruder diese Tatsache erst schmerzlich bewusst. Das könnte ihr letzter Tag sein.
„Ich bleibe noch. Ihr könnt ja gehen, aber ich bleibe noch und ich erzähle ihr unsere Geschichte weiter.“
„Von was redest du da? Du hast die ganze Zeit hier im Stuhl geschlafen. Komm, Papa, wir sind alle ziemlich fertig. Christian bringt dich jetzt nach Hause. Es wird schon spät.“ Das diesige frühabendliche Licht fiel durch die übergroßen Fenster. Maries Großvater sah seine beiden Söhne mit gerunzelter Stirn an, Enttäuschung in den Augen.
„Ihr glaubt mir immer noch nicht. Schon als ihr klein wart, habt ihr mir nicht geglaubt. Marie ist da anders.“
„Es sind nur Geschichten! Auch wenn du das gern anders hättest. Es sind und bleiben nur Geschichten, Papa.“, erwiderte Christian.
„Ja.“ Er hielt kurz inne, in Gedanken versunken. „Ja, vielleicht.“
Tom blickte seinem Vater ins Gesicht. Davon hat Marie ihm oft erzählt, wenn er sie nach der Arbeit bei ihrem Großvater abgeholt hatte. Von den Geschichten. Er selbst erinnerte sich nicht mehr wirklich an die Geschichten, die sein Vater ihm erzählt hatte. Nur noch, dass -
Der schrille Klingelton von Toms Handy durchschnitt die gedrückte Atmosphäre. Emotionslos, fast schon gelangweilt, ging er ran.
„Nein, wir sind alle noch da. Ja. Moment.“ Kommentarlos verließ er das Krankenzimmer und führte sein Telefonat auf dem Flur des Krankenhauses fort. Nach kurzer Zeit steckte er den Kopf durch die Tür und rief seinen Bruder zu sich, worauf dieser ihm auf den Flur folgte und auf ein Zeichen von Tom die Tür schloss.
Jetzt waren Marie und ihr Großvater wieder unter sich. Er sah sie an, wie sie dort in ihrem viel zu großen Krankenbett lag, Schläuche aus ihren Armen und ihrer Nase kommend. Sie war es zwar gewohnt, Zeit im Krankenhaus zu verbringen, aber kein Kind sollte mit 9 Jahren in einem Krankenbett liegen müssen, nicht wissend, ob es je wieder aufwacht. Mit diesen Gedanken lehnte er sich wieder in seinem Stuhl zurück, rückte seine Kette gerade und schloss die Augen.
‚May stand mit dem Rücken zu der großen Eiche und schaute über das Land, das von der aufgehenden Sonne in goldenes Licht getaucht wurde. Mystisch fielen die Sonnenstrahlen durch den leichten Nebel, der sich über die Landschaft unter ihnen zog. Ein neuer Tag hatte begonnen.
Mit einem zarten Lächeln drehte sich May um und schaute ihrem grauen Begleiter direkt in die Augen. Sie sprach kein Wort. Ihre Augen glänzten so offenkundig vor Dankbarkeit, dass kein Wort vonnöten war. Langsam hob sie ihre Hand, winkte zum Abschied und verbeugte sich tief. Dabei legte sie ihren schwarzen Stab vor sich auf den tauübersäten Boden, drehte sich um und schritt in den morgendlichen Nebel, der gemächlich den Hang heraufzog.‘
Mit einem lauten Knall fiel ihre Krücke zu Boden.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

Liebe durch Spiegelei an Speck und Rosmarin

Das heiße Fett in der Pfanne zischt, als ich das Ei hineinfallen lasse. Sofort kräuselt sich der schneeweiße Rand und wirft Blasen, während das leuchtend orange Eigelb wie eine Insel in stürmischer See scheinbar unbeeindruckt auf der Stelle schwimmt. Eine Prise Salz und Pfeffer und kurzes Warten, bis die Ränder goldbraun sind. Schließlich lade ich das Ei zusammen mit dem bereits knusprig gebratenen Bacon auf einen bereitstehenden Teller und gebe noch einen Büschel Rosmarin obenauf. Fast fertig.
Mit kräftigen Drehungen presse ich bis zum letzten Tropfen Saft aus den leuchtenden Orangen, die mir die nette Marktfrau gestern geschenkt hatte, nachdem ich darauf bestanden hatte, den Preis für meinen Einkauf aufzurunden. Noch eine kleine Scheibe zur Dekoration an den Glasrand - perfekt. Und es muss perfekt sein. Schließlich ist das nicht irgendein Frühstück an irgendeinem Tag. Heute ist der Tag, an dem Clara sich in mich verlieben wird. Das Tablett in den Händen, laufe ich hinüber ins Esszimmer.
Sie sitzt am Tischende, sie, Clara, die Eine - ihre strahlend blauen Augen auf einen Punkt hinter mich gerichtet. Diese unwahrscheinlich blonden Haare, diese kleine, spitze Nase, diese etwas schiefen, aber einzigartigen Lippen - Ich kann einfach nicht anders, als zu lächeln, als ich ihr den dampfenden Teller serviere.
“Wie kann man schon nach dem Aufstehen so verdammt gut aussehen?”, necke ich sie.
Sie verzieht keine Miene.
Ich setze mich an die Seite des Tischs, rücke die Vase mit den Rosen zurecht und lächle ihr aufmunternd zu. “Lass es dir schmecken!”
Der Duft des gebratenen Specks schwebt durch den Raum. Clara sitzt weiterhin regungslos da, die Hände in den Schoß gelegt. Was hat sie bloß?
“Na komm, ich bin extra mit Wecker aufgestanden. Probier doch wenigstens mal. Ich hab es ja nicht vergiftet!”
Endlich bewegen sich ihre Pupillen in meine Richtung. Ein wohliger Schauer durchfährt mich, als ihre meerblauen Augen die meinen fixieren. Aber diese Kälte…
“Ich bin Veganerin, Arschloch.”
Gerade noch so kann ich mich ducken, da segelt der Teller samt Frühstücksei und Bacon pfeifend über meinen Kopf hinweg, um mit lautem Scheppern an der Wand hinter mir aufzuschlagen. Ungläubig starre ich auf den braunen Fleck an der weißen Raufasertapete.
“Was zur Hölle ist los mit dir?? Ist dir bewusst, dass ich das Zimmer erst letztes Jahr frisch renoviert habe?”
Ihre Lippen ziehen einen zitternden Schmollmund. Ihre Augen glänzen und sind längst wieder fest auf das Luftloch über der Küchentür gerichtet.
“Clara, jetzt rede wenigstens mit mir! Eine Entschuldigung wär angebracht, oder wenigstens etwas Dankbarkeit! Ich würde alles für dich tun, verdammt, ich HAB schon so viel für dich getan, dir Kleider geschenkt, dir Schmuck geschenkt… ich stehe den ganzen Morgen für dich in der Küche, und du… du bist einfach so undankbar! Für wen hältst du dich eigentlich?!”
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich immer lauter geworden war. Plötzlich sehe ich eine einzelne Träne ihre Wange herunterlaufen. Weiterhin ist ihr Blick starr nach vorne gerichtet, jedoch zittern jetzt ihre Augenlider so stark wie ihre Lippen.
“Ich… ich hab es nicht so gemeint”, versuche ich zu retten, was zu retten ist.
Sie gibt einen leisen Schluchzer von sich. Dann sackt sie in sich zusammen. Bebend hängen ihre Schultern nach unten. Ihre Lider sind nach unten geschlagen, der Mund wie in Schmerzen verzogen, eine einsame Haarsträhne im Winkel. Weitere Tränen rinnen ihr übers Gesicht.
Ich bin zugegebenermaßen etwas ratlos.
“Pass auf, was hältst du hiervon: Wir nehmen uns den Rest vom Tag frei, um uns zu beruhigen. Und morgen versuchen wir es dann nochmal von vorn. Mit Müsli und Sojamilch. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Wie klingt das?”
Ich stehe auf, fasse ihre Hände und ziehe sie sanft hoch. Sie zeigt keine Gegenwehr.
“Vorsichtig, mach langsam!”
Sie hat noch Schwierigkeiten an der Kellertreppe, doch das wird sich sicher legen, wenn sie sich an die Fußfesseln gewöhnt hat und die Knöchel abgeschwollen sind. Ihre Schultern zittern noch immer, doch Clara gibt keinen Laut von sich, als die schwere Tür ins Schloss fällt. Doch, es stimmt. Morgen ist auch noch ein Tag. Der Tag, an dem sie sich in mich verlieben wird.
“Ich liebe dich”, sage ich leise, als ich den Riegel vorschiebe.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

DRIFTER

Eine feuchte, warme Zunge riss ihn aus seinem unbequemen Schlaf.
Als er langsam, von Schmerzen begleitet, seine Augen öffnete, sah er das gefleckte Biest über ihm kauern, wie dieses weiterhin sein Gesicht verschlang als wäre es Eiscreme.
“Okay, okay… Genug!” Stammelte er und schob den Hund zur Seite, welcher ihn nun freudig hechelnd anstarrte.
Erst nachdem er sich vom kalten Steinboden aufgerichtet und gegen die Wand hinter ihm gelehnt hatte, spürte er das volle Ausmaß seiner Schmerzen: sein Kopf fühlte sich an, als würde er platzen. Ein Pochen durchdrang seinen gesamten Körper. Ihm war schlecht. Seine Zunge schmeckte Eisen.
Doch noch schlimmer war der beißende Gestank von Urin und Alkohol, welcher, den leeren Flaschen auf dem Boden zufolge, von ihm selbst stammte. Er übergab sich.
Der Dalmatiner betrachtete die Situation mit einem fast schadenfrohen Lächeln und begann, sich über das Erbrochene herzumachen.
Na, toll, dachte er. Was gibt’s besseres, als durch die Zunge eines Gossenköters geweckt zu werden?
Er drückte sich gegen die Wand, stand auf und fand Halt auf seinen wackeligen Beinen. Dies schien den Hund zu beeindrucken, denn er wandte sich von der Pfütze aus Halbverdautem ab und starrte ihn erneut mit dem Schwanz wedelnd und lächelnd an.
Wo zur Hölle bin ich eigentlich und was mache ich hier? Fragte er sich, nachdem er in der Lage war, einigermaßen klare Gedanken zu fassen.
Nichts an dieser grafittibeschmierten Gasse kam ihm bekannt vor. Er erinnerte sich nichtmal daran, gestern Abend überhaupt hergekommen zu sein. Aber das lag vermutlich am Alkohol. Zumindest seinen Namen wusste er noch.
Jaime.
So hat sie ihn immer genannt.
Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Er war wegen ihr in diese Stadt gekommen, am Abend wollten sie sich treffen.
Und was mache ich? Trinke so viel, dass ich in der Gosse aufwache… Vermutlich in meiner eigenen Pisse oder der, eines Dalmatiners. Während er darüber nachdachte, welche der beiden Optionen schlimmer wäre, drang ein Stechen durch seinen Kopf. Er übergab sich erneut.
Jetzt hatte sogar der Hund Mitleid, näherte sich ihm und leckte aufmunternd seine Hand. Dass dieser damit grade noch Kotze vom Boden gefressen hatte, ignorierte er und wusste die Geste zu schätzen. Jedoch war die Berührung der weichen Dalmatinerzunge ungewöhnlich schmerzhaft. Er warf einen Blick auf seine Hand und stellte fest, dass seine Knöchel dunkellila angeschwollen waren. Dies erschrack ihn. Er war sein ganzes Leben nie in einen Kampf verwickelt gewesen.
Soweit ist es also gekommen, dachte er. Vor ein paar Tagen noch der langweilige Job im Labor, jetzt betrunkene Straßenkämpfe… Zumindest erklärt’s, wieso mein Kopf kurz davor ist, zu platzen
Hektisch durchsuchte er seine nassen Taschen.
“Alles weg,” murmelte er vor sich hin. “Bastarde!”
Bloß eine Packung Tabak und ein Feuerzeug fand er. Seit wann rauche ich?
Er beschloss, seinen neuen vierbeinigen Freund und die Gasse zu verlassen, schließlich durfte er das Treffen mit ihr nicht verpassen. Zum Abschied streichelte er dem Hund durch sein kurzes Fell und machte sich mit wackeligen Beinen auf den Weg in Richtung Öffentlichkeit.
Als er die ersten paar Meter hinter sich gebracht hatte, sah er drei Obdachlose in einer Seitenstraße sitzen, von denen ihn der bärtigste fixierte und anfing, mit den anderen zu tuscheln.
Ob ich den Dreien wohl meine Kopfschmerzen zu verdanken habe?
Doch bevor er diesen Gedankengang weiterführen konnte, stand der bärtige Obdachlose auf und kam auf ihn zu.
Scheiße, dachte er. Ich kann kaum geradeaus laufen, wie soll ich da eine zweite Runde gegen Kurt Russell überstehen?
Ihm blieb nur die Flucht. Er torkelte so schnell es nur ging, geriet ins Straucheln, fing sich wieder und bog um die nächste Ecke.
“Warte mal,” Schrie ihm der Obdachlose nach. “Ey, James!”
Er kennt meinen Namen? Wunderte er sich. Dieser Scheißkerl muss meinen Geldbeutel haben! …Aber egal, das kann ich jetzt eh nicht ändern.
James schleppte sich um eine weitere Ecke und stand plötzlich mitten in einer Menschenmenge, die sich hecktisch den Gehweg entlang bewegte.
Ich muss erstmal rausfinden, wo ich überhaupt bin und vor allem, wie ich hier ohne Geld wieder wegkomme. Eine Dusche wäre auch nicht schlecht… Vielleicht ist in der Nähe ein Hotel, dass eine Rechnung ans Institut schickt.
Er schaute sich um und sah eine Frau, die ihr Kind an der Hand hielt, direkt auf ihn zukommen. Das kleine Mädchen lächelte ihm zu.
“Entschuldigung, wissen sie vielleicht, wo…”
Die Mutter zog das Kind zu sich und lief wortlos im größtmöglichen Bogen um James herum.
Sehr nett, dachte er sich und wünschte er wäre bei dem Dalmatinier geblieben.
Er ging ein paar Schritte weiter und sah einen älteren Mann an einem Schaufenster stehen.
“Können sie mir vielleicht sagen…”
“Ich habe kein Kleingeld!” Entgegnete ihm der alte Mann und zog davon.
Kleingeld? Ich brauche dein beschissenes Kleingeld nicht! Hält der mich für einen Penner, oder was?!
Als James jedoch sein verzerrtes Spiegelbild im Schaufenster sah, verstand er die Reaktionen. Sein üblicher Drei-Tage-Bart war mittlerweile ein Drei-Wochen-Bart, seine Haare waren zerzaust und sein Pullover mit einer Mischung aus Erbrochenem und Blut bedeckt. Er schämte sich.
James entschloss sich, auf eigene Faust ein Hotel zu suchen und folgte dem Gehweg. Jedoch spürte er deutlich die verachtenden Blicke seiner Mitmenschen, welche ihm das Gefühl gaben, zu einer anderen Spezies zu gehören.
Verübeln kann man es ihnen nicht, schließlich haftet der Geruch von mindestens drei Körperflüssigkeiten an mir… Aber jeder hat mal schlechte Zeiten und trifft dumme Entscheidungen. Ich in letzter Zeit nur zu viele.
Als er seinen, vor lauter Scham zu Boden gewanderten, Blick wieder hob, sah er eine blonde Frau vor einem Bistro stehen, welche grade die Speisekarten austauschte. Sie stach aus der Masse heraus, denn sie lächelte ihn an, schien sich sogar darüber zu freuen, ihn zu sehen.
“Na, harte Nacht gehabt?” Fragte sie ihn.
“Ich bin mir nicht sicher, aber es spricht wohl einiges dafür.” Scherzte er.
“Komm rein. Kaffe geht auf mich.” Sagte sie und gestikulierte in Richtung Eingangstür.
Kaum war James mit beiden Beinen im Bistro, drehten sich die Menschen angewidert um. Die blonde Frau lächelte ihren Kunden schuldbewusst zu, verwies James an einen Tisch neben dem Fenster und ging hinter die Theke.
“Bitte, so wie du ihn magst, schwarz, stark und vor allem schön lecker.” Sie reichte ihm den Kaffee.
Das verunsicherte ihn. Kenne ich sie? Woher weiß sie das?
Amy stand auf ihrem Namensschild, doch James kannte niemanden, der so heißt.
Er trank einen Schluck vom Kaffe, welcher ihn endlich vom Eisengeschmack im Mund befreite.
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, scheinbar völlig unbeeindruckt vom Gestank.
“Und, wohin bist du grade aufm Weg?” Wollte sie wissen.
“Ich suche ein Hotel,” er trank einen weiteren Schluck. “Ich treffe mich heute Abend mit jemandem und so kann ich ihr wohl kaum über den Weg laufen.”
Amy lächelte abwesend.
“Ich hoffe, sie erkennt mich trotz meines demolierten Gesichts noch.” James lachte und nahm noch einen Schluck Kaffe.
“Natürlich erkennt sie dich, du bist schließlich ihr Jaime.”
Dieser Satz traf ihn wie ein Schlag. Was hat sie gesagt? Woher kennt sie diesen Namen? Sind wir uns schon mal begegnet? Wer ist diese Frau?
James konnte seine Verwirrung nicht verstecken. Amy griff mit sichtlich schlechtem Gewissen nach seiner Hand.
“Es tut mir leid, erinnerst du dich nicht?”
Ein Stechen zog sich durch James’ ganzen Körper. Er hatte Schmerzen, war verwirrt, fühlte sich hilflos. Er sprang auf und flüchtete aus dem Bistro.
“Gott sei Dank!” Hörte er eine alte Frau neben der Eingangstür sagen, während Amy ihn bat, stehen zu bleiben. Doch James war bereits in der Menschenmasse untergetaucht.
Er irrte planlos durch die Gegend. Die Menschen, von denen er immer noch angestarrt wurde, blendete er aus. Er lief und lief, bis er abseits vom Getümmel der Menschen einen Park fand.
Sie mochte Parks, erinnerte er sich und ging hinein.
Er setzte sich auf eine Bank, die direkt am Ufer eines Sees war und beobachtete abwesend die Wasserfontänen des Springbrunnens in der Mitte.
Was ist los mit mir?
Er kramte in seiner feuchten Hosentasche und holte den Tabak hervor. Anscheinend rauche ich, dachte er.
Als er die Packung öffnete fand er Blättchen und eine kleine, aus einem Stück Müllsack geformte Kugel mit grünem Inhalt.
James stopfte den Inhalt der Kugel zusammen mit etwas Tabak in ein Blättchen, rollte dieses gleichmäßig und verschloss es mit seinem Speichel, der sich vom Kaffe braun gefärbt hat.
Er nahm das Feuerzeug, zündete den Joint an, atmete ein und lachte…
Mittlerweile leuchtete der Himmel ähnlich lila wie seine Fingerknöchel. Wie lange James schon auf der Bank saß, wusste er nicht. Doch er entschied sich, zu gehen. Es war bestimmt langsam Zeit, sie wartet.
Als James orientierungslos durch die Straßen stapfte, brach der Himmel auf und Regen prasselte auf ihn nieder. Dieser gab ihm ein Gefühl von Lebendigkeit, welches er bereits den ganzen Tag vermisst hatte.
Als er grade die Straße überqueren wollte, hörte er eine vertraute Stimme.
“James! James, warte!”
Er blieb stehen, drehte sich um und vor ihm stand der bärtige Obdachlose.
Klar, warum auch nicht zwei Abende hintereinander? Zumindest bin ich high, dachte James.
“Was willst du denn noch von mir? Du hast meinen Geldbeutel und guck dir doch an, was du mit meinem Gesicht gemacht hast! Reicht dir das nicht?”
James war so wütend, dass er am liebsten einfach auf den Obdachlosen eingeschlagen hätte. Doch so war er nicht.
Der bärtige Mann schien verletzt von diesen Worten zu sein, legte jedoch seine Hand auf die Schulter von James.
“Ich will dir nichts tun. Ich kann dich aber hier nicht einfach Abends alleine rumlaufen lassen. Das ist gefährlich. Nicht alle Menschen sind uns gegenüber freundlich gesinnt. Also komm bitte mit.”
James verstand nicht, was das bedeutete, doch etwas gab ihm das Gefühl, auf den Mann hören zu sollen.
Die beiden liefen stillschweigend durch die Straßen, bogen kreuz und quer ab, liefen durch versteckte Gassen und Wege, bis ihnen plötzlich ein Hund entgegen kam.
“Na Lyssa,” sagte der Mann. “Hast du uns vermisst oder bist du bloß hungrig?” Er streichelte dem Dalmatiner über den Kopf. “Ich konnte heute leider nicht so viel Geld sammeln, da ich unseren Freund hier finden musste. Aber ich habe ein paar Bananen, die wir uns gleich teilen können.” Der Hund schien die Worte zu verstehen, leckte an James’ Hand und trabte zurück auf seine Decke.
“Ich… Was mache ich hier, ich kann nicht hier bleiben.” Sagte James verwirrt. “Ich habe doch eine Verabredung.”
Der Mann legte erneut seine Hand auf die Schulter von James.
“Es tut mir leid, James. Aber sie ist tot. Bitte lauf morgen nicht wieder weg, damit wir endlich zu Dr. Mellis gehen können, er kümmert sich um uns. Deine Medikamente sind schon seit zwei Wochen leer, du brauchst Hilfe. Bitte, James. Und jetzt ruh dich ein bisschen aus.” Der Mann lächelte James aufmunternd zu.
“Oh, und nimm das gegen die Kälte, du bist ja komplett durchnässt.”
Er drückte ihm eine Flasche Alkohol in die Hand. “Erzähl’s aber nicht Lyssa.” Er lächelte erneut, drückte James’ Schulter und setzte sich zu seinem Hund auf die Decke.
James wanderte ausdruckslos die Gasse entlang, hockte sich an eine Wand, drehte die Flasche auf und nahm einen Schluck, während der Regen über sein Gesicht lief. Dort verharrte er für einen Moment, bis der Regen plötzlich salzig schmeckte und James sich auf den Boden kauerte.
Er nahm einen weiteren Schluck, noch einen und noch einen, bis die Flasche leer war.
Er war verwirrt. Er war wütend. Er war traurig. Er hasste sich.
Während der Regen begann, eine Pfütze neben ihn zu bilden, schlug sich James mit voller wucht gegen den Kopf. Und nochmal. Und nochmal. Und nochmal. Bis sich dünne, rote Linien durch die Pfütze zogen.

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer

----- Nur einen Moment ------

Es war wieder ein langer Tag.
Die Luft war stickig und verbraucht. Es war die Art von Luft die nach wenigen Minuten Kopfschmerzen verursachte.

Er schloss das letzte Fenster und gelang zum Desktop seines Arbeits-PCs.
Der Desktop schmückte das blaue einfallslose Logo der Firma für die er schon seit 23 Jahre arbeitete.
Er hatte damals mit 17 in der Ausbildung angefangen und hatte nie etwas anderes getan.

Er schaute sich um ob er etwas vergessen hatte, doch der Schreibtisch war leer.
Er hatte alles geschafft.
Aber doch machte ihn der Anblick nicht glücklich oder zufrieden.
Denn der Schreibtisch war wirklich leer.
Kein Bild und keine Blumen, nichts das zeigte dass er als Person seit 7 Jahren jeden Tag hier an diesem Platz sitzt.
Nur die Kaffeetasse war da, aber auch sie war nur mit dem gleichen blauen Schriftzug geziert wie fast alles andere in diesem Gebäude.

Er hatte oft überlegt sich einfach eine eigene Tasse mit zu bringen.
So wie seine Kollegen welche haben.
Tassen mit lustigen Cartoons oder mit Witzen drauf.
Aber im Grunde hat es keinen Sinn. Die Tasse wäre ihm nach höchstens zwei Tagen wieder geklaut worden oder jemand hätte sie ihm Scheinheilich vom Schreibtisch gestoßen.

Ohne Tasse war es besser, so kann er wenigstens seinen Kaffee in Ruhe trinken.

Mit der Maus klickte er auf Start und dann auf Runterfahren.
Es brauchte etwas bis das Gerät reagierte aber es tat was ihm befohlen wurde und er saß da und sah zu wie sich das Betriebssystem für heute verabschiedete.

Der Bildschirm wurde schwarz und er merkt wie sehr seine Augen im Grunde schmerzten.
Es war das Licht, das ab und an flackerte und niemand zu reparieren vermark.
Schon oft hat er sich beschwert aber die Stimme am anderen Ende versprach „Wir schicken gleich Jemanden vorbei“. Das war schon 3 Monate her.

Wenn das Büro wenigstens ein Fenster hätte, dann wäre es nicht so anstrengend für die Augen.
Aber es gibt kein Fenster, kein Sonnenlicht und keine frische Luft.

Und die Klimaanlage war schon seit Jahren Kaputt.
Sie hatte nur eine Leistung von 10-20% und dass reichte nur um nicht in Ummacht zufallen.

Aber was kann er schon tun?
Jetzt war erstmal Feierabend.

Er steht auf, nimmt sein Jackett vom Stuhlrücken, schiebt den Stuhl zu Recht und geht mit der Tasse in der Hand Richtung Pausenküche.

Es gibt einen Küchenplan.
Auf dem Plan Steht für Heute “Stefan B.”
Er seufzt, es ist sein Name und der steht schon seit Anfang der Wochen drauf.

Er krempelt die Ärmel hoch und macht sich ans spülen, auch die restlichen Tassen und Teller des Tages.
Danach Riss er den Zettel mit seinem Namen vom Plan obwohl er weiß dass genau der gleiche Name morgen da wieder stehen wird.
Jetzt machte er sich auf den Nachhause.

Es ist Sommer und hell draußen. Er blinzelte als er ins Licht trat.
Ein schöner Tag.

Den Bus hatte er gerade verpasst.
Der nächste kommt in 20min.
Stefan schaute sich um, er ist der letzte, keiner mehr da.
Er schaut in die Sonne, sie war warm und fühlt sich gut an und ohne dass er es merkt, fing er an zu gehen. Nur bis zur nächsten Haltestelle, denkt er sich.

Dort angelangt denkt er, ich könnte ja noch bis zur nächsten Haltestelle.
Bei der nächsten denkt er sich, ach die eine noch.
Zwischen den Haltestellen überholte ihn der Bus, er hatte sich mit der Zeit verschätz.
Bei der nächsten werde ich aber die 20 min warten, verspricht er sich.
Aber auch da geht er weiter und dann immer weiter und weiter.
Er fühlt sich gut, als ob jeder Schritt ihn von seinem alten Leben in ein anderes bringen würde.

Nach einer Zeit verließ er selbst den Weg der Buslinie.
Er bog mal recht und mal links ab. Er ging in jede Straße die ihm interessant vorkam. Ohne zu wissen wohin sie führte.

Er ging an stilvollen Vorgärten vorbei und an einfache kleine süße Läden.
Er betrachtete die Fassaden der Häuser und warf gestohlene Blicke in die Fenster.
Jedes Haus war voll mit Leben und Charakter, in jedem wohnten Träume und Hoffnungen.
An den Wänden hingen Bilder oder andere Sachen die den Bewohnern wichtig oder lieb waren.

Hier zu Leben wäre sicher schön, dachte er sich.
In einem schönem Haus mit platt und nicht wie in seiner kleinen Einzimmerwohnung.

Wie würde ich das Haus reinrichten, fragt er sich
Ich würde es so machen wie meine Frau am liebsten hat.
Denn ich würde ihr jeden Wunsch erfüllen.

Und wenn sie einen total grässlichen Geschmack hat, fragte er sich weiter.
Das wäre egal, denn sie würde es mögen und deswegen würde ich es auch schön finden.
Und im Garten würde ich ein Baumhaus für die Kinder bauen, so wie ich es ein paar Straßen zuvor gesehen habe. Meine Kinder würden es lieben und gut im Leben haben.

Er mag Kinder und wollte schon immer welche haben, aber er hatte die Richtige noch nicht gefunden. Aber sie war da irgendwo, das weiß er.

Plötzlich steht er vor einer Gabelung und gerade aus geht es auf eine Wiese oder einen kleinen Park. Von hier aus kann er es nicht genau sagen.
Es gehen Leute mit deren Hunde spazieren.

Es brauchte etwas bis er seinen ersten Fuß vom Asphalt auf den Rassen stellte. So als ob er eine Grenze zu einem fremden Planeten überqueren würde.

Auf der anderen Seite, dieser Grenze, ist ein Park und kein kleiner.
Stefan wusste gar nicht dass es hier einen so großen Park gibt.
Und wegen dem schönen Wetter war der Park auf voll.
Kinder spielten und ihre Eltern sahen zu.
Jungendliche lagen auf Decken spielten Karten und Ließen sich von einem kleinen Radio berieseln. Verliebte gingen Hand in Hand und andere knutschten als ob sie sich kein Zimmer nehmen könnte.

Er fühlte sich frei wie eine unsichtbare Person die überall hingehen kann ohne aufzufallen ohne Fehl-am-Platz zu sein. Er könnte an allem teilhaben, wenn er nur wolle.

Ein Hund rannte an ihm vorbei und kurz danach dessen Herrchen, dieser schrie immer wieder… Fuß! Fuß! Dem Hund war das egal.
Stefan musste lachen.
Der Park war so Bund, so anders als sein normales Leben. Stefan wusste gar nicht wohin er sehen wollte. Überall war etwas, voll mit leben und so voll mit Farbe.

“Vorsicht!” schreit eine Frau Stefan an.
Er springt einen Schritt nach hinten. Und die Frau stürzte und kullerte etwas weiter.
“Oh Gott! Haben Sie sich etwas getan?” fragt er.
“Nein ist schon okay” antwortet sie.
Stefan greift der Frau an dem Arm um ihr auf die Beine, beziehungsweise auf die Inliner zu helfen.
Was auch leicht ging, denn sie ist zierlich. Sie bedankt sich und lächelt ihn an.

Und in ihren Augen sah er gleich dass sie es ist.
Das ist die Frau auf die er schon immer gewartet hat.
Ihre Augen, ihre Haare, ihr lächeln, alles ist so wie er es sich immer vorgestellt hat.
“Ich hei…heiße Stefan” stammelt er.

Fahrradfahrer kamen klingelt vorbei und schrien “runter vom Fahrradweg!”…“Idioten!”

“Wir sollten echt runter bevor uns jemand anfährt” sagt sie.
Und ging mit ihr ihr zur Seite ohne ihren Arm loszulassen.
“Nochmals danke” sagt sie, am sicheren Rand.

“Es tut mir leid, mir war nicht klar dass ich auf dem Fahrradweg gekommen bin”
“Ach ist okay, jeder Träumt doch mal. Das ist doch normal. Und es ist ja nichts passiert”

Sie klopfte sich den Staub von den Klamotten ab, aber nur mit einem Arm, denn Stefan hielt immer noch anderen Arm.

Er hat einfach vergessen ihn los zulassen.
Denn er fand sie so schön wie er noch nie jemand so schön fand. Sie hatte blonde lange Haare. Ihre Augen waren blau wie das Meer und wenn sie Lächelte bekam sie zwei süße Grübchen.

“Ja ich war wirklich am Träumen” gab er zu lächelnd zu und lass ihren Arm los.
“Ja ich im Grunde auch, also sind wir beide Schuld” sie streicht sich die Haare hinter die Ohren.
“Gut dass Sie sich getan haben?” sagt er.
“Ja, genau, ist nichts Ernstes passiert” sie hebt ihren anderen Arm den er nicht gehalten hatte, und zeigt ihm eine kleine Schramme am Ellbogen die ein wenig blutet
“Oh mein Gott!” er fühlt sich grauenhaft, er ist das Schuld. “Wir müssen ins Krankenhaus!”
Sie lacht und auf ihrer Nase bildeten sich kleine süße Falten “Nein das ist nur ein Kratzer. Das ist nicht das erste Mal das ich gefallen bin. Ich kenne das schon”
“Es tut mir leid” sagt er.
“Ich weiß”

Er Lächelt. Das was sie sagte meinte sie ernst. Sie tat nicht nur so oder hatte vor ihn nachher zu verklagen. Sie war ihm nicht böse. Sie war ein guter Mensch das weiß er.

Er kann sie Fragen ob er sie zu etwas einladen könnte. Ein Eis vielleicht um es wieder gutzumachen. Sie könnten sich unterhalten und sich besser kennen lernen.
Samstag könnten sie zusammen ins Kino. „Der gestiefelte Kater“ lief momentan, den wollte er eigentlich sehen aber alleine traut er sich nicht.
Vor dem Kino könnten sie vielleicht essen gehen. Ein Italiener oder ein Spanier.
Sie könnten das Wochenende darauf hier in dem Park spazieren kommen und einfach reden.
Und mit der Zeit und Monaten können sie genau wie die anderen auch Hand in Hand gehen und wenn er sie eines Abends nachhause bringt könnten sie sich zum ersten Mal Küssen.
Beim Videoabend legt sie dann ihren Kopf auf seine Schulter und nächsten Sommer fahren sie zusammen in den Urlaub. Ans Meer da wo das Wasser die gleiche Farbe wie ihrer Augen hat.

“Okay dann fahr ich mal weiter” sagt sie und reist ihn aus seinen Plänen.
“Ja!” sagte er “Ich meine Nein…ich …ich” stammelt er.

Sie sieht ihn fragend an.

“Ich bin…ich…warte…” er reibt sich nervös den Nacken. Die Wörter schienen in seinem Hals hängen zu bleiben und ließen ihm keine Luft zum atmen. Er fing an zu schwitzen.

“…ich…ich bin…bin Stefan!” die Luft schoss wieder in seine Lunge.

Sie lächelt verlegen und schaut zu Boden.
Sein Herz pochte wie verrückt und er wollte vor Freude jubel und tanzen.
Sie schaut wieder zu ihm hoch und ihre schönen Augen schauten genau in seine, doch war es nicht der Blick den er erwartet hatte.
Es schien dass sein Herz aussetzte denn er wusste was jetzt kam.

“Ich bin Sandra aber ich muss jetzt wirklich los. Es hat mich sehr gefreut Sie kennen zu lernen Stefan.” Sie setzte an um weiter zu fahren aber er griff nach ihrer Hand ohne es zu merken.

Sie schaut ihn etwas erschrocken an, aber durch seinen Blick merkte sie dass er es nicht böse meint.
Leise flüsterte er “Bitte!”

Sie lachte ihn schmerz voll an “Ich fühle mich sehr geschmeichelt, aber es tut mir leid. Stefan bitte seien Sie mir nicht böse aber ich bin 22”
Er ließ ihre Hand los. Sie lächelte ihn noch mal kurz zu und führ los.

Er schaute ihr zu wie sie immer weiter weg führ.
22 Jahre, er hatte ein Jahr vor ihrer Geburt seine Ausbildung angefangen.
Er strich sich über seinen Kopf und die wenigen Haare die ihm noch geblieben waren.

Er war ein kleiner, 40 Jahre alter, dicklicher Mann mit einer dicken Hornbrille und einer Glatze. Jeden Tag versuchte er diese mit den restlichen Haaren zu verdecken, aber das würde von Tag zu Tag schwerer.
Sein Anzug war grau, alt und zerknittert.

Als er sie nicht mehr sehen könnte, steckte er die Hände in die Hosentaschen, seufzte und machte sich auf den Nachhauseweg.
Und als er wieder an den Ganzen Menschen und Häusern, die voll mit Träumen und Hoffnungen sind, vorbei ging und sie sich wieder ansah war ein Lächeln in seinem Gesicht.

Denn heute hatte er auch einen Traum und Hoffnung gehabt. Er war genau wie alle anderen auch.
Er war heute für einen Moment glücklich und das machte den Tag zu einem guten Tag.

Ende

  • 5 Punkte
  • 4 Punkte
  • 3 Punkte
  • 2 Punkte
  • 1 Punkt

0 Teilnehmer