[Voting] Autorenwettbewerb #4

Wie immer könnt ihr nun wieder alle Geschichten bewerten!

Diskussionen können wie immer gerne im Haupthread geführt werden.

Viel Spaß beim Lesen!

Die Begegnung

Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Ein eisiger Wind fegte über den Kai, während eine lange Menschenschlange geduldig vor der Gangway des großen Passagierdampfers wartete. Aus den riesigen Schornsteinen des Schiffes drang dichter Qualm, der sich schnell in den Windböen verflüchtigte, die das Wasser des Hafenbeckens aufschäumen und weiße Kronen aus Gischt auf ihnen tanzen ließen.

Langsam schob sich die Schlange auf das Unterdeck und allmählich verteilten sich die Passagiere in ihre Kabinen. Der junge Mann betrat als einer der letzten das Deck und wandte sich einer Luke zu, die ins Innere des Schiffbauches führten. Er stieg eine steile eiserne Treppe hinunter, warf einen kurzen Blick auf die Beschriftung an der Wand und ging mit großen Schritten einen langen Gang hinunter. Schließlich blieb er stehen und öffnete die Tür einer Kabine. Er legte seinen Beutel ab, zog sich die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf eines der Betten fallen. Kurz darauf war er tief und fest eingeschlafen.

In der Nacht wachte der junge Mann durch das Geräusch der Wellen, die gegen den Schiffsbauch schlugen, auf und beschloss, sich etwas die Beine zu vertreten. Er schlenderte auf dem Oberdeck umher, als er einen plötzlichen Stoß in seinem Rücken spürte. Er drehte sich überrascht herum und sah in das Gesicht eines kleinen Mannes, der ihm erschrocken in die Augen starrte, seinen Arm umfasste und mit seltsam gepresster Stimme hervorstieß: „Nicht verschwinden!“ Der Mann blieb noch einen Moment an ihn gedrückt stehen, dann ließ er den Arm fahren und sprang davon. Verwundert schob der junge Mann seine Kappe zurück und kratzte sich am Kopf. Seinem Aussehen nach hatte der ältere Herr wie ein Mitglied der wohlhabenden Gesellschaft gewirkt, seine Art, sich auszudrücken, klang fast adelig. Doch der Ausdruck in seinen Augen war verstört gewesen, als habe der Mann kurz zuvor ein absolut unglaubliches Erlebnis gehabt.

Der junge Mann ging langsam weiter. Noch konnte er sich keinen Reim auf die Sache machen. Doch das Schiff war nicht allzu groß und die Reise würde noch einige Wochen dauern, also war es nur allzu wahrscheinlich, dass er dem wunderlichen alten Herrn noch einmal begegnen würde. Er hoffte, dann mehr über sein Verhalten erfahren zu können.

Schon am nächsten Abend war es soweit. Der Speisesaal des Schiffes war erfüllt vom Geklapper des Geschirrs und dem Geschwätz der Speisenden. Der junge Mann saß allein an einem Tisch am Rande des Saals und aß mit langsamen Kaubewegungen den Rest seines Kantens, den es zur Suppe gegeben hatte. Am anderen Ende des Saals kam auf einmal Bewegung in die Menge der Essenden. Anscheinend versuchten einige Männer, eine Person gewaltsam daran zu hindern, aus dem Raum zu stürmen. Als einige der Umstehenden zur Seite traten, erkannte der junge Mann, dass es sich bei der Person um den älteren Herrn von gestern handelte. Er stand auf und gesellte sich zu der Gruppe von Menschen, die nun einen Kreis um die Raufenden gebildet hatten.
Der Herr wand sich schwer keuchend in den Armen zweier Männer, die ihre liebe Mühe hatten, ihn in Schach zu halten. Er gab dabei gurgelnde Geräusche von sich und blickte wild umher, scheinbar ohne irgendjemanden im Raum überhaupt wahrzunehmen. Die beiden Männer, die ihn hielten, krümmten nun seine Arme hinter seinem Rücken und der Herr ging zappelnd, aber langsam, in die Knie. Der junge Mann trat aus der Menge hervor und forderte lauthals Einhalt. Die Männer blickten erstaunt auf und starrten ihn an. Der junge Mann stockte kurz, was wollte er überhaupt, wieso musste er einschreiten, wo er diesen Herren doch überhaupt nicht kannte? Doch dieser hatte sich mittlerweile anscheinend in sein Schicksal ergeben und hang schlaff zwischen seinen beiden Gegnern. Der junge Mann brachte hervor, dass er den Herren kenne und ihn sicher in seine Kabine bringen würde, wenn man ihn ließe. Da auch die beiden Männer wohl nicht recht wussten, was sie nun mit dem Besiegten tun sollten, stimmten sie erleichtert zu und legten einen Arm des Herrn über die Schulter des jungen Mannes. Dieser zog ihn nun halb taumelnd aus dem Saal und die Menge der Schaulustigen verstreute sich allmählich wieder, um ihr Abendessen fortzusetzen.

Wie der junge Mann erwartet hatte, war die Kabine eine der großen Suiten auf dem Oberdeck. In der Mitte thronte auf einem runden Tisch ein großer Käfig mit einem Papageien, der erschrocken aufflatterte, als die beiden Gefährten in den Raum stolperten. Mehrere Türen gingen von diesem Zimmer ab, doch der junge Mann chauffierte den Herrn nur auf die andere Seite und ließ ihn vorsichtig in einen Sessel sinken. Dann goss er einen Schluck Wasser aus einer Karaffe und reichte dem Herrn das Glas.

Einen langen Moment war Schweigen. Der junge Mann setzte sich vorsichtig auf einen Sessel neben den Herrn und wartet, bis dieser schließlich das leere Glas vor sich abstellte. Als der Herr hochblickte, hatte der junge Mann kurz den Eindruck, als erschrecke sich dieser, doch war dies nur ein kurzer Augenblick. Nun wirkte der Herr völlig klar. Er nahm seine Brille von der Nase, nestelte ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Smokings und begann andächtig die Gläser zu putzen. Dann seufzte er, setzte die Brille wieder auf und blickte dem jungen Mann direkt ins Gesicht.
„Sie fragen sich sicher, was vorhin im Speisesaal passiert ist. Und wohl auch gestern, als ich sie so unwirsch angefasst habe. Entschuldigen Sie dies bitte vielmals, Sie haben sicher gemerkt, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht ganz bei Sinnen war.“
Der junge Mann beteuerte, dass er sich höchstens kurz erschreckt habe, ihm aber ansonsten kein Schaden entstanden sei. Falls es ihm nicht zu viele Umstände mache, würde er allerdings gerne erfahren, was es mit den merkwürdigen Geschehnissen auf sich habe.
„Natürlich, natürlich“, erwiderte der Herr, „Gerade Sie haben das allergrößte Recht die ganze Geschichte zu hören.“

Er räusperte sich, schlug die Beine übereinander und begann zu erzählen: „Wie Sie sehen, bin ich schon ein alter Mann. Meine Frau ist schon vor einigen Jahren gestorben und auch meine Kinder sind durch die Pocken noch vor ihr von uns gegangen. Doch meine Geschichte reicht zurück in die Zeit, als ich in etwa so alt war wie Sie heute. Ich lebe in Amerika, genauer gesagt in Boston. Meine Eltern waren einige Jahre vor meiner Geburt aus Deutschland ausgewandert, da mein Vater mehrere hundert Hektar Land aufgekauft hatte und nun seinen Besitz selbst verwalten wollte. Ich wuchs also sorgenfrei auf, bekam die beste Schulbildung und sollte nach dem Tod meiner Eltern die Ländereien übernehmen. Doch da meine Familie ursprünglich aus einem Adelsgeschlecht im mitteldeutschen Raum stammt, sollte ich vor der vollständigen Einbindungen in die geschäftlichen Belange meines Vaters zunächst eine Zeit lang meine Herkunft besser kennen lernen. Man schickte mich für ein Jahr zum anderen Teil meiner Familie ins deutsche Land. Da ich die Sprache sicher beherrschte und, ohne zu affektiert klingen zu wollen, ein fröhlicher und aufgeschlossener Geselle war, fand ich mich bald gut zurecht in der neuen Umgebung. Meine deutsche Tante war streng, aber liebeswert und ließ mir nach einigen Wochen doch mehr Freiräume, als ich sie daheim in Amerika je erlebt hatte. Als halbstarker junger Mann nutzte ich dies natürlich geflissentlich aus, fand so auch bald Zugang zum anderen Geschlecht. Insbesondere die Tochter der Köchin meiner Tante hatte es mir alsbald besonders angetan und ich verbrachte jede freie Minute mit ihr. Ihr ahnt es sicher schon – das Geheimnis unserer bald täglichen Zusammentreffen kam schließlich ans Licht und ich wurde nach nur acht Monaten wieder zurück nach Boston geschickt. Ich versuchte natürlich, aufzubegehren, weigerte mich die erste Zeit daheim zu essen und lag monatelang nur in meinem Zimmer. Doch schließlich kam der Frühling und damit mein Lebensmut zurück. Meine zukünftige Frau tauchte, nicht ohne Hintergedanken meiner Eltern, ständig bei unseren Gartenfeiern auf und schließlich verliebte ich mich in sie.
Die Jahre gingen ins Land und mit der Zeit dachte ich immer seltener an meine erste große Liebe zurück.
Doch dieses Jahr erhielt ich einen überraschenden Besuch. An einem regnerischen Sommerabend vor zwei Monaten stand plötzlich ein alter Mann auf meiner Veranda und wollte mich dringend sprechen. Da ich neugierig war, was dies alles zu bedeuten hatte, bat ich ihn herein. Er erzählte. Meine Jugendliebe war schwanger gewesen, als unsere Zweisamkeit entdeckt wurde. Da sie und ihre Mutter des Hauses meiner Tante verwiesen wurden, hatte sie keine Möglichkeit, Kontakt zu mir aufzunehmen. Sie brachte ein gesundes Mädchen zur Welt, das schließlich, als sie alt genug war, einen Schuster heiratete und einen Sohn gebar, er müsste ungefähr in Ihrem Alter sein. Der Überbringer der Nachrichten stellte sich schließlich als der alte Pförtner meiner Tante vor, der all die Jahre dieses Geheimnis mit sich herumgetragen hatte, aber nun, da er überraschend zu Geld gekommen war, seinen Lebensabend in Amerika verbringen wollte und sich geschworen hatte, sollte er mich ausfindig machen, mir die Geschichte meiner zweiten Familie zu erzählen.
Die Neuigkeiten schwappten wie ein Schwall kalten Wassers über mein ergrautes Haupt: Ich, der seit dem Tod meiner geliebten Kinder ohne Erben dem Ende entgegensah, erblickte auf einmal neue Hoffnung.

Noch am gleichen Tag machte ich alles zur Abreise bereit. Gegen den Rat meiner Ärzte schiffte ich mich auf dem nächsten Dampfer nach Europa ein. Doch meine Hoffnungen schwanden genauso schnell, wie sie aufgezogen waren: Ich konnte zwar die Familie meines Enkels aufspüren, doch dort erfuhr ich von einer entfernten Cousine, dass meine Tochter kurz vor meiner Ankunft plötzlich verstorben sei und mein Enkel sich, da ihn in der Heimat außer einem Leben in Armut nichts hielt, gerade auf den Weg nach Bremen gemacht hatte, um den erstbesten Dampfer zu neuen, unbekannten Ufern zu nehmen. Ich trat enttäuscht und entmutigt den Heimweg an. Wie sollte ich jemals meinen Enkel finden, da ich doch nicht einmal das Ziel seiner Reise kannte?

Doch das Schicksal nimmt manchmal verblüffende Wendungen. Gestern, als ich als gerade so als Letzter dieses Schiff betrat, sah ich am anderen Ende des Decks eine Person, die meiner deutschen Liebe so verblüffend ähnlich sah, dass es mir fast den Atem nahm. Ich rannte so schnell ich konnte hinter ihm her, doch konnte ich ihn nicht erreichen, er war wie vom Erdboden verschluckt. Die halbe Nacht zermarterte ich mir das Gehirn, ob es wirklich möglich sein könnte, dass ich zufällig mit meinem Enkel auf dem gleichen Schiff gelandet sei oder ob mir mein Geist nicht nur einen schlimmen Scherz spielen wollte. Schließlich fiel ich in unruhigen Schlaf. Doch als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich das Gefühl, während der Nacht schon wieder meinen Enkel getroffen zu haben. Doch wie konnte das sein? War ich geschlafwandelt? Heute sah ich ihn dann überall: Im Gang vor meiner Kabine, auf dem Deck, selbst im Krähennest meinte ich ihn einmal zu entdecken. Doch nie konnte ich ihn rechtzeitig erreichen. Und schließlich, sie ahnen es, im Speisesaal. Hier kam es dann zu meinem, nennen wir es, Ausbruch. Die zurückliegende Zeit war wohl etwas zu viel für meinen alten Geist und ich konnte meine Wut und Verwirrung nicht mehr in mir halten. Aber dann, es ist ein Wunder, tauchten Sie auf, mein junger Freund, und nun ist alles gut. Es ist alles gut.“

Der alte Herr streckte sich, lehnte sich im Sessel zurück und strahlte den jungen Mann unverhohlen an.
Dieser schaute verwirrt zurück und fragte schließlich: „Ich verstehe nicht ganz, wieso ist nun alles gut? Sie sehen nun keine Geister mehr auf diesem Schiff?“
Der alte Herr kicherte leise und antwortete dann: „Doch, eigentlich sehe ich schon noch Geister. Denn Sie, Sie sind der Geist! Verstehen Sie nicht? Wie heißen Sie? Johannes? Ist Ihre Mutter vor Kurzem verstorben und hat Ihnen nie etwas über Ihren Vater erzählt?“
Der junge Mann starrte nun seinerseits dem Alten ins Gesicht. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und er stotterte nur: „Doch, genauso ist es! Ich bin also….Ihr Enkel?“
Der alte Herr lachte, stand auf und drückte ihn fest an sich.
„Endlich habe ich Euch gefunden! Bitte, bleibt bei mir! Es liegt ein halbes Leben hinter uns, das wir nachholen müssen!“
Der junge Mann sagte nichts. Er hielt seinen Großvater einfach fest.

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Guzheng

Meine Welt wird von Tönen, Klängen, Musik und Harmonien beherrscht. Alles entstand durch Schwingungen und Lieder und in jedem Wesen soll diese Musik zu hören sein. Die Bewohner nennen diese Welt Shizuka. Wie genau sie entstand weiß ich nicht, denn das alte Wissen ist schon lange vergessen. Als Kind habe ich mir am liebsten die Geschichten meiner Großmutter angehört, welche mir von den Shindori erzählte. Mächtige Wesen, welche gelernt hatten die Harmonien der Welt mit Hilfe ihres Chakras zu kontrollieren und so übernatürliche Kräfte zu entfalten. Wenn ich von Wesen spreche, meine ich nicht nur Menschen. Auf Shizuka gibt es nämlich auch viele andere Lebewesen, welche häufig Tieren ähneln oder sich von „normalen“ Menschen beispielsweise durch ein Augenpaar mehr unterscheiden. Unser Nachbar ist eine dicke Kröte, welche Tag ein Tag aus auf der Veranda ihres Hauses sitzt und sich über den Lärm der spielenden Kinder beschwert.
Ich wohne in einem kleinen Dorf, welches an einem langen Fluss liegt. Es gibt nicht viel hier, allerdings haben wir einen großen Tempel, welcher zu Ehren des Flussgottes Naga erbaut wurde. Es gibt unzählige Götter, sodass wir in der Schule nur über die größten und wichtigsten unterrichtet werden. Manchmal wünsche ich mir, dass Naga in unser Dorf kommen würde, damit ich ihm ein paar Fragen stellen kann. „Wie ist das so als Gott?“, „Wie alt bist du?“, „Warum müssen die Menschen leiden?“. Götter können in Shizuka nämlich auf der Erde wandeln, auch wenn ich niemanden kenne, der schon mal einen Gott gesehen hat. In größeren Städten sollen sie aber hin und wieder zu Festen in den Tempeln erscheinen. Als ich noch kleiner war, wollte ich deswegen immer mit der Eisenbahn oder sogar mit einem Zeppelin, zur Hauptstadt reisen, aber mein Vater meinte immer, dass die Welt zu gefährlich für ein Kind in meinem Alter sei und ich lieber hierbleiben und ihm beim Fischen helfen solle, außerdem würde eine Fahrt schon ein Silberstück kosten und so viel Geld hätte ich nicht.
Geführt und geleitet wird unsere Welt von Königen, Kaisern, Shogunen oder einzelnen Clans. Deshalb herrscht in weiten Teilen des Landes auch Krieg, da es immer neue Machtansprüche oder andere Streitigkeiten gibt. Aber von Politik verstehe ich nicht so viel, auch wenn die Kriege oftmals aus sehr kindischen Gründen begonnen werden. Allerdings habe ich gehört, dass auf manchen Seiten auch ein paar Shindori mitkämpfen. Wer solche Krieger auf seiner Seite zählt, kann doch nur gewinnen.

Vor drei Tagen wurde unser Dorf von einer Gruppe Banditen überfallen. Es war schrecklich. Viele Menschen wurden ohne Grund getötet. Als sie meine Eltern und mich in unser Haus drängten, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Eine leise Melodie. Ein Lied, welches von einem rhythmischen Kehlkopfgesang getragen und von einem Guzheng begleitet wurde. Ich sah die Welt vollkommen anders. Die Realität verschwamm vor meinen Augen, wurde von einem unbeschreiblichen Licht erstrahlt.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, glich unser Haus einem Schlachthaus. Vier der Männer lagen zerfetzt vor meinen Füßen. Ein anderer wich mit weit aufgerissenen Augen von mir, zeigte mit seiner zittrigen Hand auf mich und stammelte irgendetwas. Erst als ich mich umdrehte, war auch ich vor Schreck erstarrt. Die gesamte Rückwand unseres Hauses war zerstört und lag einige Meter weiter im Gras. Ich blickte umher… meine Eltern waren verschwunden. Als ich nach vorne schaute, wo der Bandit saß, standen dort einige Menschen aus unserem Dorf. Sie flüsterten untereinander und warfen mir immer wieder merkwürdige Blicke zu. Seitdem ignorieren sie mich – gehen mir aus dem Weg. Was mit meinen Eltern passiert ist, weiß ich nicht. Heute Nacht werde ich aufbrechen. Weg aus diesem Dorf, wo mich nun nichts mehr hält.
Mein Name ist Akaya – dies ist der Beginn meiner Geschichte – Ich bin ein Shindori.

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Vor langer Zeit in naher Zukunft

-Von Duschen und Raumzeit-


 

Irgendwo in der Nähe einer Dunkelwolke, gleich neben dem Galaktischen Beta-Cephai Sooper Dooper Shop, liegt eine, so sagt man, verhältnismäßig kleine Galaxie. Innerhalb dieser, befindet sich ein, so sagt man, verhältnismäßig großes Sternensystem. Im Verhältnis wozu groß oder klein, wurde allerdings nie geklärt. Das Zentralgestirn des Systems wurde von den Systembewohnern mit dem Namen „Pmurt“ versehen, das System von da an folgerichtig als Pmurt-System bezeichnet. Die Bewohner dieses Systems waren hochintelligent. So kam es, dass auf vielen der vielen Planeten des Systems Akademien standen.
 

-Bärte-


„Wie hat eigentlich alles angefangen?“, fragte Njik, Schüler an der Akademie für Material und Teilchenwissenschaften für Sieben- bis Zehnjährige, wie aus dem Nichts heraus seine Lehrkraft. „Und überhaupt … wie war das, bevor es angefangen hat?“, fügte er an noch bevor sich der Dozent, Dr. Szei, eine Antwort zurechtlegen konnte.
„Naja … Erstmal … Gute Frage!“, begann Szei.
„Schleimer“, warf nun Njiks nur halb wacher Banknachbar Tschuk ein.
„Nun … wie das war …“, setzte der Dozent fort.
„Stell dir vor, es gibt nichts, weder Raum, noch Zeit … Was siehst du?“
„Nichts…“, murmelte Njik und zwirbelte verwirrt seinen grauen Bart.
Unvorbereitet auf diese rasche, aber eigentlich logische Antwort, versuchte Szei diesen Gedanken aufzugreifen. Schließlich konnte er doch noch einen Vergleich aus dem Hut: „Weiß, endloser weißer Raum!“ Stolz stützte er die Arme in die Seiten.
„Aber Weiß setzt doch Lichtüberlagerungen und damit Licht voraus!“ und „Endlosigkeit und räumliche Ausdehnung benötigen Raum um zu existieren“, brüllten nun besonders besserwisserische Achtjährige und manch arrogante Siebenjährige durch das Klassenzimmer.
Seufzend und sichtlich entnervt meldete sich auch Njik wieder zu Wort: „Wissen Sie überhaupt irgendetwas über den Anfang?“, warf er dem Szei an den Kopf.
Auf das hinauf, erklärte dieser die Stunde für beendet und die Rauchpause für eröffnet. „Scheißjob“, hörte man ihn noch hüsteln, als er das Klassenzimmer verließ.
Nach wie vor im Halbschlaf bekam Tschuk offenbar wenig von der Aufregung mit. Er döste in seinem Holowollpulli, dieser war von Tschuks Eltern so angepasst worden, dass er, startend mit einem fröhlich hellen Blauton, für jede Sekunde die Tschuk im Unterricht schlief seinen Gammawert um eine Stelle nach unten korrigierte. Am Ende des Tages würde Tschuks Vater die Wangen seines Sohns dann durch „Einwirkung höherer Gewalt“, wie er es nannte, farblich dessen Pulli anpassen. Nicht einmal das konnte Tschuk motivieren sich wachzuhalten. Dementsprechend wenig Unterstützung erwartete sich auch Njik. Umso überraschter war er, als plötzlich ein demotivierend dumpfes Grollen aus dem Pulli zu vernehmen war.
„Warum fragst du auch ihn?, brezelte es hervor. „Der ist doch … was … höchstens Dreißig … ja … wenn’s hoch kommt Vierzigtausend Jahre alt, hast du seinen Bart gesehen? Was erwartest du wie gebildet jemand ist, der Quantenphysik unterrichtet?“
Ganz schön vorlaut für einen bereits Neunjährigen, der noch nicht mal seine erste Abhandlung publiziert hatte, dachte sich Njik, dennoch musste er zustimmen.
„Ach, du hast ja Recht, aber einen Versuch war’s wert“, schnell warf er noch „aber hast du ´ne bessere Idee?“, ein, um nicht gar zu unterwürfig zu klingen.
„Ja, in der Tat, die habe ich.“ Bestimmt richtete sich Tschuk aus seiner Schlafposition auf.
„Weißt du … meine Eltern überprüfen, ob ich wach bin … aber nicht wo.“
„Aha … und?“
„Wir nehmen das selbst in Angriff. Heut lernen wir hier ja doch nichts mehr.“
Wie jeder Acht-, und besonders Neunjährige, vor ihnen auch, waren die beiden der festen Überzeugung in Sachen Quantenmechanik bestens informiert zu sein. Sie konnten also ohnehin praktisch nichts mehr lernen und schon gar nicht von solch einem Hochstapler. Der Entschluss war gefasst, heute würden sie ein Abenteuer erleben.
So machten sich die beiden, ohne ihren Plan zunächst genauer festzustecken, auf den Weg.
„Wer ist die älteste Person, die du kennst?“ fragte Njik seinen Mitabenteurer, als sie durch die Querstraße der Akademie schlenderten.
„Hmm … Ich glaub das ist … nein, wart … doch, das dürfte der alte Brort sein. Der, der direkt neben der Dimensionsduschenfabrik wohnt. Der ist sicher schon … ein paar Millionen … vielleicht ´ne halbe Milliarde Jahre alt … wieso? Das Universum ist dann doch ein bisschen älter, du glaubst doch nicht etwa der war dabei als es anfing, oder?“
Enthusiastisch, in einer Bewegung, drehte Njik daraufhin um 90 Grad, ohne Tschuks Frage zu beantworten, verkündete er: „Dann statten wir dem mal einen Besuch ab!“
 

-Duschen-


Eine Tür, mindestens doppelt so hoch wie Njik groß und um ein Vielfaches so breit, stand zwischen den Abenteurern und ihrem vermeintlich ersten Fortschritt in dieser Investigation.
Merkbar eingeschüchtert und nicht mehr annähernd so vorlaut wie zuvor, murmelte Tschuk: „Du … Hast du dir überlegt was wir sagen, wenn er aufmacht?“
„Nein.“
„Oh.“
PLUMPF – Eine große Faust schlug Tschuk mit voller Wucht mitten ins Gesicht und knockte diesen sofort aus.
Als Tschuk wieder zu sich kam, fand er sich auf einer Luftkissenluftmatratze, eine der eher unnützen Erfindungen der Neuzeit, wieder, auf der Stirn einen Beutel Eis.
„Was ist passiert?!“, fragte Tschuk so aufgebracht wie es sein momentaner Zustand zuließ.
Da erkannte er, dass sich nicht nur Njik, sondern auch eine wuchtige, bärtige Gestalt mit ihm in diesem unbekannten Raum aufhielt. Nach ein paar Sekunden Stille, konnte er in der verfilzten Gestalt den alten Brort ausmachen. Auch dieser schien ihn nun direkt anzusehen und prompt bekam er eine Antwort.
„Hallo, junger Tschuk! Nein, HA! Ich habe dich natürlich nicht geschlagen.“ Scherzelte der Methusalem, dessen Körper, so war Tschuk sich nach kurzer Betrachtung sicher, mindestens zu drei Vierteln aus Bart bestand.
„Eine der Eigenheiten die hier auftreten seit Dimofluss, die Firma gegenüber, eröffnet hat. Ein Dimensionsriss … sowas kann schon mal passieren bei der Duschenproduktion.“
PLATSCH – Etwas das gewisse Ähnlichkeit mit einer Schildkröte hatte, klatschte neben dem alten Brort auf den Boden, zerplatzte in einer hellen Kugel aus Licht und pointierte dessen Aussage ungemein. Ein weiterer Dimensionsriss tat sich, so rasch wie er gekommen war, mit einem schmatzenden Geräusch auch wieder zu.
„Und wer hat mich dann geschlagen?!“ Aufgebracht richtete Tschuk sich auf und schwang alle drei Fäuste wild durch die Luft.
Die Bartanhäufung kicherte erneut. „Das darfst du so streng nicht sehen … wer auch immer dir den Schlag versetzt hat, wollte bestimmt nicht dich treffen. Hab doch auch Mitleid mit dem armen Kerl der dir eine verpasst hat, vielleicht wollte er nur seine Frau oder Kinder schlagen … Hat einen rechten Haken versenkt, im Nichts.“
„Versenkt in meinem Gesicht.“, korrigierte Tschuk, nicht mehr ganz so wütend.
„Ich habe Brort schon erklärt worum es geht, wir haben nur noch darauf gewartet, dass du aufwachst.“
Brort wirkte freundlich, so bemühte sich auch Tschuk seinen unvorteilhaften Auftritt zumindest etwas wett zu machen.
„Und Sie … können uns helfen?“, fragte er kleinlaut, mit gesenktem Kopf und gedämpfter Stimme.
PAH! Junge, siehst du meinen Bart? Natürlich kann ich euch helfen!“
Das System, nachdem die Weisheit eines Individuums nach seinem Körper zu Bart Verhältnis bestimmt wurde, war zwar schon vor gut 7 Millionen Jahren von offizieller Stelle als Standardverfahren zur Weisheitsbemessung definiert worden, allgemein schien man sich aber immer noch nicht daran gewöhnt zu haben.
„Oh … ja, natürlich, tut mir leid … aber soll das heißen Sie wissen –„
„Ob ich weiß? Nein!“
„Aber, wenn Sie nicht wissen, wie-„
„Ich verstehe.“
Jetzt warf Tschuk, Njik einen unmissverständlichen Blick zu. Der Alte war offensichtlich zu alt, vor lauter Bart musste zu wenig Sauerstoff zu seinem Hirn durchdringen, er war ganz offensichtlich verrückt.
Die überreife Avocado die in diesem Moment durch einen Dimensionsriss auf Brorts Kopf fiel und zerschellte, verstärkte Tschuks Eindruck bloß.
Dieser Moment der wortlosen Kommunikation, wurde von Brort unterbrochen, der mit den Worten:
„Kommt Kinder, lasst uns duschen gehen!“, zum Aufbruch forderte.
 

-Aufbruch-


Tschuk wusste nicht so recht wie ihm geschah, er hatte den Moment verpasst in dem er hätte protestieren müssen, so fand er sich nackt, zusammen mit Njik und Brort, in des Letzteren hauseigene Dimensionsdusche gepfercht.
„Warum müssen wir noch schnell nackt sein?“
Kaum hatte Tschk diese Frage gestellt erinnerte er sich wieder an die Antwort die er bereits zuvor nicht hatte akzeptieren wollen.
Der Greis wiederholte dennoch gelassen: „Bei Dimensionsduschen handelt es sich um eine veraltete Form der Teleportation. Mein Bart beansprucht bereits mehr als genug Arbeitsspeicher, würden wir auch noch Kleidung tragen, könnten unsere Körper nicht mehr auseinandergehalten werden und alles was am Zielort ankäme, wäre ein blutiger Brei mit einem beachtlichen Anteil Bart!“
„Wann haben Sie die Dusche das letzte Mal benutzt?“, beendete Tschuk diese beängstigende Ausführung.
„Höchstens 3 Millionen Jahre her!“
„Achso…“
 

-Weiß-


Njiks Magen füllte sich plötzlich mit einer ziehenden Leere, alles um ihn herum wurde weiß, der Raum schien sich auszubreiten. Brort verschwand, Tschuk verschwand, Avocados und Schildkrötenartiges flogen durch die Leere.
SCHLURPF – Wie die Faust aus dem Nichts, knallte Njik mit voller Wucht auf den harten Fußboden. Als er nach einem kurzen Moment der Verwirrung aufblickte, sah er vor sich eine riesige Scheibe. In dieser die Reflektion Brorts breiten Grinsens. Ein wenig weiter entfernt, ungefähr auf selber Höhe zur Scheibe, meldete sich nun auch Tschuk zurück von den Totgeglaubten.
„Wo, wir?“ Der heute bereits zweite Schlag auf den Kopf, hatte ihm offensichtlich zugesetzt.
„Am Anfang“, predigte Brort mit andächtig tiefer Stimme.
Ungläubig rekapitulierten die beiden was der Methusalem gesagt hatte.
„Seht selbst.“, er zeigte auf einen kleinen Informationsbildschirm der neben der Scheibe angebracht war.
Virgo-Superhaufen/Lokale Gruppe/Milchstraße/Sonnensystem/Erde (Nach Benennungssystem der Letzten) Stand dort, in leuchtend weißen Lettern.
Den beiden Jünglingen wurde kalt um alle vier Herzen. Beide rafften sich auf und starrten gebannt auf die letzten zwei Wörter, die die Tafel zeigte.
„Die Letzten“, murmelte Njik in seinen Bart.
„Heißt das es gab … höhere Wesen als uns?“
„Höher? Pah, nein, Idioten, pure Dummschwätzer!“, schnaubte Brort, sichtlich amüsiert.
Die beiden Jünglinge, deren Weltbild nun eine volle 360 Grad Drehung hinter sich hatte, konnten spätestens jetzt nicht mehr folgen.
„Das, Kinder, ist der letzte Anfang. Unser Universum, alles was wir sehen, kennen, fühlen, all die Avocados und schildkrötenesken Wesen entstammen diesem Punkt. Das ist unser Anfang.“
„Aber was ist Erde, wer sind Die Letzten?“ protestierten Tschuk und Njik.
Beinahe wiehernd fing Brort nun an zu erklären.
„Die Letzten waren ein Volk … ein Volk wie auch wir, aber furchtbar primitiv! Sie nannten sich Menschen, ihre Heimat war die Erde, ein einziger Planet! Sie waren nicht sehr weit gekommen, darüber ob sie es überhaupt bis zum Mond ihres Erstplaneten geschafft haben, waren sie sich selbst nicht einig! Stellt euch vor, auf der Erde gab es sogar Hunde, genetisch fast identisch zu den Hunden die das Pmurt-System beheimatet! Welche groteske Verstrickungen Evolution doch bieten kann … aber … ach, ja! … darauf wollte ich hinaus! Anstatt sie zu essen, haben sie sie … DOMESTIZIERT! Sie haben sie sich als Haustiere gehalten! Verrückt, oder?“
„Wie … sie haben sie nicht gegessen?“ wiederholte Tschuk ungläubig, als ob Brort nicht eben genau das gesagt hätte.
„Nein! Beziehungsweise … doch, aber nur die gelben!“
Ebenso verwirrt stieg nun auch Njik wieder in die Fragerunde ein.
„Gelbe Hunde?“
„Was? Nein, gelbe Menschen.“
„Achso.“
„Stellt euch vor, nur die wenigsten von ihnen hatten überhaupt Bärte!“
„Keine Bärte?“, echote es aus dem Zwei-Mann-Publikum.
„Aber wie kann ein Volk, ganz ohne Bärte, ganz ohne Weisheit … Wie können die der Anfang gewesen sein?“
„Tja, das ist der springende Punkt, Junge“, der Alte grinste.
„Es gab nicht den Anfang, so wie du ihn dir vorstellst, es gab Enden. Immer wenn ein Universum endet, beginnt auch ein neues, doch gab es immer Enden die zuvor kamen. Was die Menschen vollbracht haben war kein Opus Magnum, sie haben nichts angefangen, sie haben es nur vollbracht sich selbst ein Ende zu setzen.“
„Wie?“
Mehr Worte bedurfte es in diesem Moment nicht, auch Brort bemühte sich keiner ausformulierten Antwort, er zeigte er auf einen Bildschirm hinter sich.
Ein beachtlicher Teil der Letzten traf am 08.11.2016 eine Wahl, die fortan in die Geschichte eingehen sollte, heute auch bekannt als Ende der Welt oder Anfang des Endes.

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Der Anfang vom Ende

Es war mein eigenes Stöhnen, das mich aufweckte. Wie jeden Morgen kam mir für den Bruchteil der Sekunde, die mir blieb, der Gedanke, ob ich gegen den Prozess ankämpfen könnte, wenn ich meine gesamte Willenskraft genau jetzt darauf ausrichten würde. Wie jeden Morgen fand ich mich bereits in einem Körper verfestigt wieder, bevor ich mir des Prozesses überhaupt vollständig bewusst werden konnte. Morgen werde ich es nochmal versuchen, mich nicht einfangen zu lassen.

Das Ding ist Folgendes: sie erzählen uns, wir wären frei und könnten uns entwickeln und vorbereiten, wie wir wollten, aber eigentlich hat Er alles schon für uns entschieden. Wir werden zu Menschen, wir müssen uns früher oder später für das Geboren werden entscheiden und wenn wir es nicht tun… Ja, was dann passiert, darüber wird nicht gesprochen. Niemals.

Das Problem dabei ist, dass ich keinen Bock darauf habe. Während ich das gerade alles erzähle, mache ich mich schon fertig für den Tag. Merkt ihr, wie lässig ich menschliche Vokabeln in mein Gelaber einbaue? Eigenlob stinkt, das weiß auch ich, aber ich merke schon, dass ich heute so einen richtigen Lauf habe, da gönne ich mir mal aus ein bisschen Schulterklopfen. Man versucht neuerdings nämlich, meinen Lehrplan nach der menschlichen Zeitrechnung auszurichten, was heißt, dass mir nachts echt das Bewusstsein genommen wird, einfach nur, um mich an dieses Ding zu gewöhnen, was Menschen machen, wenn es draußen dunkel ist. Na, wie heißt es gleich… Scheiße, ich hab’s mir irgendwo aufgeschrieben… wenn sie halt nicht mehr im Wachzustand sind… Schlaf! Nachts wird geschlafen, Tagsüber ist man wach. Mit dem Vokabellernen hänge ich etwas zurück; ich will gleich klarstellen, dass ich dieses stupide Pauken nicht sonderlich mag und Körperfunktionen ist das Fach, das ich von allen am Ätzendsten finde, weil man sich da so krass konzentrieren muss. Letzten Monat habe ich das sogenannte Atmen gelernt, vor ein paar Generationen hieß das noch Respiratio, aber das ist ja auch egal. Auf jeden Fall ist es hammer schwierig, man muss seinen ganzen Fokus nach innen richten und dann gucken, dass Sauerstoff in die Zielzellen kommt und dann die Energie, die dadurch freigesetzt wird, chemisch gespeichert wird. Irgendwann hat man den Dreh raus und kommt in so einen richtigen Flow, aber wenn sie merken, dass du gut darin wirst, lassen sie dich währenddessen andere Sachen machen, weil du als Mensch halt angeblich gar nicht mehr ans Atmen denkst und eigentlich die ganze Zeit andere Sachen machst. Ist jetzt etwas schwer zu erklären, weil es für mich auch nicht so richtig vorstellbar ist.

Ich bin offiziell noch eine vollwertige und ungeformte Seele. Als Deus mich erstellt hat (ja, ich wurde vom Chef persönlich geschaffen und nicht von einen seiner Handlangern, das kann auch nicht jeder von sich behaupten!), soll ich wohl als Prachtexemplar gegolten haben, aber ich habe ein bisschen den Verdacht, dass irgendwas nicht so ganz richtig gelaufen ist, weil ich nicht so scharf darauf bin, zum Menschen zu werden, wie alle anderen. Im Grunde kann keiner es erwarten, sich für die Geburt zu entscheiden, aber bis man dahin kommt, muss man erst einmal ein Jahrtausend unterrichtet und geschult werden. Dann kommt der Tag, an dem man seinen ersten Elternkatalog vorgesetzt bekommt und das ist echt der Anfang vom Ende.
Alle preisen den Menschen, aber ich checke nicht, was an einem von denen so viel besser ist als an mir. Wir Seelen haben so viel mehr drauf: wir brauchen diesen langweiligen Schlaf zum Beispiel nicht, brauchen nicht atmen oder lieben, werden nicht krank oder in einem Körper gefangen. Das mit dem Körper nervt mich besonders. Meinen haben sie in meinem Lernprogramm vor einem Jahrhundert eingeführt. Seitdem muss ich immer ein paar Stunden am Tag in einer festen Form verbringen und diese Zeit ist über die Jahrzehnte auch noch immer länger geworden. Die Idee ist, dass ich mich daran gewöhne, wie es ist, in einem Körper zu stecken. Für einen Menschen ist es angeblich voll angenehm und natürlich, aber so im Vertrauen will ich gesagt haben, dass ich das für Quatsch halte. Ich fühle mich eingesperrt und alles ist eng und es ist, als würde ich gleich aufplatzen. Ich kann Dinge nicht einfach machen, sondern muss erst einen Befehl an meine Muskeln senden und dann auch noch Energie bereitstellen, damit eine Bewegung möglich gemacht wird. Ist auch schon wieder so anstrengend. Man ist auch so heftig langsam, weil man Gehen muss.

Was ich auch erst neulich erfahren habe, und wodurch ich mich nochmal bestätigt gefühlt habe, ist, dass man als Mensch alles neu lernen muss. Die werden so geboren, dass sie nur einen Bruchteil von dem können, was ich jetzt alles lernen muss und dann muss man alles andere wieder beigebracht bekommen, aber man wird nie mehr zu so viel fähig sein wie als ungeformte Seele. Wo der Sinn darin besteht, weiß ich nicht. Als einfache Seele darf man auch keine Fragen stellen und ich traue mich ehrlich gesagt auch nicht, weil ich nicht weiß, was dann passiert. Aber uns wurde das ganze Pauken jetzt als eine Art Grundlagenschaffen erklärt, dass unser späteres Unterbewusstsein dann abrufen kann. Also ich bin mittlerweile zum Beispiel voll gut im Reden (unter uns gesagt finde ich das eigentlich auch ganz cool, irgendwie macht es Spaß und so Wörter wie geil und Puderzucker fühlen sich witzig auf der Zunge an, wenn man sie ausformuliert) und wenn ich dann mal geboren werde, können meine Eltern mir das Sprechen beibringen und dann werde ich mein als Seele angeeignetes Wissen haben, dass abgerufen werden kann. Wenn meine zukünftigen Eltern es dann nicht komplett verhauen, kann ich irgendwann als Mensch dann auch wieder Reden. Und die, die es jetzt nicht packen, werden später dann auch nicht richtig funktionieren können und zeigen Fehlfunktionen. Menschen erkennen das dann auch und nennen diese Seelen dann bei einem speziellen Namen, der fällt mir gerade aber nicht ein.

Na ja, je älter man wird, desto mehr Unterricht bekommt man, ich muss gleich zum Beispiel wieder zu Körperfunktionen und wir lernen etwas über Essen. Ich weiß noch nicht, wie man das macht, da kann ich euch daher jetzt auch nichts zu erzählen. Ich versuche immer, relativ schlechte Leistungen zu erbringen und nur langsam Fortschritt zu machen, damit es noch möglichst lange dauert, bis ich einen Elternkatalog vorgesetzt bekomme, was früher oder später trotzdem passieren wird. Dann bekommt man vor dem Schlaf eine Liste mit werdenden Eltern des nächsten Jahrhunderts und kann sich dann ein passendes Paar aussuchen und von denen wird man dann geboren und dann ist es aus und vorbei. Ich finde den Gedanken echt eklig und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich mich zu irgendeinem Paar zugehörig fühlen werde, aber ich denke einfach so wenig wie möglich ans Ende. (Wobei seit ich das Denken erlernt habe, passiert es immer wieder, dass ich diese Angst verspüre. Das macht mir dann noch größere Angst, weil das eigentlich auch etwas ist, was Menschen verspüren.) Hier sagen sie übrigens Anfang dazu.

Die Geburt ist der Anfang,
du bist Teil der Geschichte,
es ist alles ein Zusammenhang,
nach Deus, der richte.

Insgeheim hoffe ich, dass Deus mich vergisst und ich einfach für immer rumhängen kann, aber das wird sowieso nicht passieren. Deus ist hier nämlich der, der uns erschafft oder unsere Erschaffung anordnet. Wir spüren immer sein Dasein und deswegen muss ich auch vorsichtig sein mit allem was ich mache, weil er alles mitbekommt. Er hat mich seit meiner Erschaffung aber auch nicht mehr richtig beachtet, was mir nur recht ist, weil (aber wiederholt nicht, dass ich das gesagt habe) er mir echt nicht ganz geheuert ist. Und das ist auch wieder etwas, das mich von den meisten anderen Seelen unterscheidet, man stellt Ihn nämlich grundsätzlich nicht in Frage. Er ist derjenige, der uns zu Menschen werden lässt, wir sind ihm alle unterstellt. Uns wird eingehämmert, dass wir Teil der Geschichte sind, aber das Ding ist, dass nur er die Geschichte kennt. Und das ist halt, was mir so Angst macht, weil was, wenn die Geschichte schlecht ist? Boa, ich spüre seine Präsenz gerade etwas deutlicher, ich halte lieber mal die Klappe. Drückt mir die Daumen, ihr Menschen, drückt mir die Daumen.

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Neubeginn

Endlich war er fertig mit allen Vorbereitungen. Den ganzen Tag hatte er geschuftet. Die Wohnung aufgeräumt und endlich mal wieder geputzt. Das alte Fotobuch, was er vor 3 (oder waren es sogar schon 4?) Jahren geschenkt bekommen hat, ist dabei wieder aufgetaucht. Hätte er mal früher danach gesucht, dachte er sich wehleidig. Ein letztes Mal hat er sich die Bilder angeschaut. Er war ein wenig erstaunt darüber, wie gut er auf ihnen aussah, dabei hielt er sich für einen nicht sonderlich fotogenen Menschen. Besonders sein Lächeln hat ihn angetan, dass er so glücklich aussehen kann überraschte ihn doch sehr. Er packte das Buch mit zu den anderen Gegenständen, in die Kiste mit der Aufschrift: „Persönlich wertvoll“. Packte es zu seinen anderen Erinnerungen. Erinnerungen an seine Saufkompanen, seine eine Freundin, die er für kurze Zeit hatte und seine zwei Medaillen im Speerwerfen bei den Landesmeisterschaften. Er hätte das mit dem Sport weiter verfolgen sollen, denkt er sich, da hätte er bestimmt was erreichen können.
Seine Filmsammlung hatte er fein säuberlich nach Gerne und Name sortiert. Bei manchen hatte er sogar extra hinzu geschrieben, wem es wahrscheinlich am besten gefallen wird. Er hoffte, dass sie damit Spaß haben werden, irgendwann. „Titanic“ für seine kleine Schwester, für seine Mutter die Sammlung an Tierdokumentationen, dem Vater „Sieben“ und sein Freund Dennis bekommt „Angriff der Killertomaten“. Ein paar der Filme hatte er selber noch nicht gesehen, bei manchen bedauerte er es mehr bei anderen weniger. Leider fehlte ihm die Zeit sie nachzuholen.
Ein letztes Bad in seiner, mit Gaffer und Plastikverpackungen halbwegs dichten, Wanne. Das Wasser war brühend heiß, so dass es ein wenig schmerzte, genau richtig für ihn. Immer wieder tauchte er ab und hielt die Luft so lange an, bis es seine Brust fast zerriss. Im fiel auf als er zur Decke starrt, dass da ja noch den Schimmel für den potenziellen Nachmieter entfernen wollte. Wobei der wahrscheinlich ganz andere Sorgen haben wird, trotzdem ärgerte es ihn ein wenig. Es kam ihm irgendwie asozial vor. Bei dem Gedanken musste er kurz auflachen.
Nachdem er sich abgetrocknet hatte, machte er sich was zu Essen, was ordentliches, nicht der übliche Billigfraß, den er sonst zu sich nahm. Nicht die 60 Cent Nudel aus dem Supermarkt, mit einer Soße, die sich hauptsächlich daraus zusammen setzte was er gerade im Kühlschrank hatte. Nein, diesmal gab es ein schönes Rinderfilet, mit dem teuerstem Wein den er im Discount finden konnte. Er hatte sogar extra einen Kochkurs besucht nur für dieses Mahl.
Eine Sache hatte er sich noch bis Zuletzt aufgehoben, doch sein fehlendes literarisches Talent verhinderte, dass er überhaupt mit seinem Brief anfing. Vor allem wen sollte er alles ansprechen? Ihm wurde wieder klar wie schwer es ihm fiel andere Menschen einzuschätzen. Wie würden sie reagieren und würden sie überhaupt reagieren? Irgendwie hatte er immer das Gefühl sie zu nerven und auch wenn sie das Gegenteil behaupteten, die Zweifel konnte er nie so ganz beilegen.
Nach außen wirkte er wahrscheinlich sehr gesprächig, geradezu aufdringlich kommunikativ aber tatsächlich gefiel ihm die Ruhe, egal ob in seiner kleinen Wohnung oder im Wald, wo er oft spazieren gegangen war, deutlich mehr. Er wollte sogar immer eher als wortkarg wahrgenommen werden, nur konnte er in der Regel einfach nicht die Klappe halten. Sich aufzuregen machte ihn dafür viel zu viel Spaß. „An alle die sich Vorwürfe machen: Menschen die nicht gerettet werden wollen, kann man nicht retten.“ Schlicht, treffend und doch irgendwie einfühlsam, diese paar Worte sollten ausreichen, dachte er sich, wirklich überzeugt war er davon nicht.
Er faltete den Zetteln einmal in der Mitte und legte ihn auf seinen Schreibtisch. Dann ging er zu dem Stuhl in der Mitte des Raums, nachdem er sich sein Telefon genommen hatte. Er stieg auf den Stuhl, legte die Schlinge um seinen Hals, zog vorher noch mal am Strick, um zu überprüfen, ob er denn wirklich hält. Atmete ein, atmete aus, schaute auf die Uhr 00:04, ein kleines Lächeln drängte sich auf seine Lippen. „Heute beginnt mein Schönes Leben.“ sprach er während er die 110 wählte. Der drückte die Taste mit dem grünem Hörer und schubste den Stuhl mit seinen Füßen um.

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Alternative Future

River Street, Boston, Ecke Beacon Street. An einem kühlen Oktoberabend, sitzt ein Mann hinterm Steuer eines silberfarbenen Chrysler SUV’s. Buzzcut, kurz rasierter dunkler Bart, seine Hand zittert leicht, während er eine brennende Zigarette zu seinen Lippen führt. An seinem rechten Ringfinger steckt ein schmuckloser Goldring, er trägt eine schwarze Pilotenbrille, seine Augen sind nicht erkennbar. Er ist unscheinbar gekleidet, trägt Blue Jeans, Turnschuhe und eine weite graue Daunenjacke, Marke Nike.

Angestrengt schaut er nach vorn, aus dem Fenster, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren, vielmehr scheint er ins Leere zu starren. Ohne den Blick abzuwenden nimmt er die Zigarette wieder von den Lippen und ascht auf den Beifahrersitz. Einen Moment lang verharrt er so, bis ihn ein Ruck durchfährt, er rafft sich auf. Er öffnet die Fahrertür, lässt die Zigarette fallen, schließt die Fahrertür hinter sich und fängt an zügigen Schrittes zu laufen.
Fernes Sirenenheulen erfüllt den Himmel über Boston und noch etwas: ein merkwürdiges, schrilles, beinahe kreischendes Summen, wie die einzelne, lang gezogene Note eines Geigenorchesters. Gruppen schwarzer Punkte stürzen, wie aufgescheuchte Vogelschwärme, vor dem dunklen Blau, doch Vögel sind es keine. An diesem Abend erfassen die Perdix Drohnen jeden Winkel, jeder Straße, der Bostoner Innenstadt. Der Fremde überquert die Beacon Street, an deren Straßenrand sich, entlang des Boston Public Gardens, in gerader Linie Müll häuft, als sei ein Schneeflug durchgefahren. Der Mann betritt den Park.

Die Bäume sind nackt, der Rasen trägt braune Wunden. Rote, schwarze und pinke Flugblätter, Transparente und handbemalte Schilder liegen wie Laub auf dem Boden. Vereinzelt stehen ein paar eingefallene Zelte, doch weit und breit ist außer dem Fremden keine Menschenseele zu sehen. Er läuft weiter, in anhaltendem Tempo und mit geradem Blick nach vorn. Er geht auf die alte Lagoon Brücke zu, überquert den Parkteich und erreicht die Washington Statue, im Westen des Gartens. Ihr Kopf ist mit rotem Tuch umwickelt, auf dem Sockel prangt ein gemaltes schwarzes A im Kreis, darunter: „NO MORE PRESIDENTS“
Der Mann biegt, am westlichen Ende des Parks, links auf die Arlington Street ab. Schon von weitem sieht man wie tanzendes Blaulicht die Häuserfassaden streift, eine Straßensperre - zwei gepanzerte Polizeiwagen und etwa zwei Dutzend Polizisten in CRC-Montur, mit Tränengas-Granatwerfern und Maschinenpistolen im Anschlag. Ab der Ecke Boylston Street kommt niemand mehr durch.

Mit jedem Schritt in Richtung Straßensperre, werden andere Töne hörbar. Unter das Sirenengeheul mischen sich die Gesänge, Schreie und Pfiffe hunderter, vielleicht tausender Menschen, ein Protestmarsch, der sich unmittelbar hinter der Barrikade in Richtung Stadtmitte bewegt. In den Lücken zwischen den Panzerwagen kann man den Strom aus Menschen, Transparenten und Flaggen ausmachen. Schließlich wird auch hörbar, was da im Chor gerufen wird: „Lock her up! Lock her up! Lock her up! …“

Kurz vor der Straßensperre ruft einer der wache stehenden Polizisten dem Mann forsch zu: „Hey, where do you think you’re going?“, und kommt ihm entgegen. Ohne den Polizisten auch nur anzusehen, erwidert der Fremde: „I live here.“ Und lässt ihn links liegen. Er biegt rechts auf die Boylston Street ab.
Kaum 30 Meter weiter, läuft der Mann zielgerade auf ein rot-ziegeliges Haus an der linken Straßenseite zu, geht zur Haustür, sie ist unabgeschlossen, er öffnet sie. Er durchquert den Teppich-belegten Hausflur des Mehrparteienhauses und öffnet eine weitere Tür, die auf einen schmalen Innenhof führt. Er überquert ihn achtlos, um über eine weitere Tür in einen zweiten Hausflur zu gelangen, hinter dessen Eingangstür die St. James Ave liegt, die südliche Seite des Häuserblocks. Als er sie öffnet, kommt ihn eine Woge aus trampelndem Lärm entgegen, er verlässt das Haus und befindet sich mitten im Protestmarsch.

Die Straße platzt aus allen Nähten, es drängen sich hunderte Menschen, vor allem Männer, ausschließlich Weiße. Viele tragen die amerikanische Flagge: als Umhang, auf Baseballkappen, T-Shirts und an Fahnenstangen. Einige tragen Waffen: Revolver, Schrotflinten, Jagd- und Sturmgewehre, vereinzelt sogar Macheten und Kompositbögen. Es liegt Hass in der Luft, die Sprechchöre sind ohrenbetäubend, aggressiv. Der Mann hält kurz inne um sich umzuschauen, er atmet tief durch. „MOVE!“, brüllt plötzlich ein Demonstrant an, auf dessen nackter, muskulöser Brust in verzierter Schrift „Semper Fidelis“ tätowiert ist, er stößt den Fremden zur Seite. Der taumelt, doch fängt sich sofort. Er weicht zurück, presst Rücken und Arme an die Hauswand und lässt den Strom einige Sekunden lang vorbeifließen. Dann fügt er sich ein und lässt sich mit ihm treiben.

Es ist nicht klar ersichtlich, wie lang der Marsch ist, doch er bewegt sich eindeutig in Richtung Copley Square. Als dieser nur noch wenige Blocks entfernt ist, beginnt der Fremde, schneller zu werden. Er drängt sich vorbei, an Männern und Frauen, stolpert beinahe über ein kleines Mädchen das an der Hand ihres Vaters läuft. Der Mann läuft weiter - da ist der Kerl, der ihn angerempelt hat. Er holt ihn ein, doch drängt sich auch an ihm vorbei. Schließlich erreicht er den Copley Platz.

Rundum die Trinity Church ballen sich die Massen, die Drohnen hängen nur wenige Meter über ihnen in der Luft. Die Menschen stehen Schulter an Schulter, so dicht gedrängt, dass kaum Luft zum Atmen bleibt. Es scheint eine Sackgasse zu sein, deutlich kann man es in dem Gedränge nicht erkennen, doch an den Eingängen der Boylston, Darmouth und Clarendon Street blitzt Blaulicht. Mühsam kämpft sich der Fremde weiter nach vorn, da ertönt eine blechig-hallende Durchsage: „Warning! Stay calm and don‘t raise your weapons! I repeat, do NOT raise your weapons!“, es folgen Buh-Rufe und Gelächter. Irgendwo hinter dem Fremden, ruft eine ältere Stimme: “FUCK YOU and your fucking cyberdrones!“, gefolgt von einem Luftschuss. Die Menge zuckt erschreckt zusammen und verstummt kurz, bevor einer das Schweigen bricht: „Yeah! Show them grandpa!“, niemand lacht. Ein Anderer ruft: „Stay peaceful!“ und einige stimmen mit ein „Stay peaceful! Stay peaceful! Stay peaceful!“, bevor sie von einer weiteren Durchsage unterbrochen werden: „Anyone raising or shooting a weapon is subject to arrest or may be shot on sight! We see you, we know who you are!“. Der Fremde bahnt sich indessen weiter seinen Weg, ist schon fast am westlichen Ende des Platzes angekommen.

Eine Hundertschaft, Schild tragender CRC-Spezialeinheiten, bildet vor der Boston Public Library eine lückenlose Mauer. Die Demonstranten halten kaum zwei Meter Abstand, wer näher kommt bekommt gleich eine Ladung Pfefferspray verpasst. Eine Phalanx hasserfüllter junger Männer hat sich gebildet, sie stacheln sich gegenseitig auf. Nirgends in der Menge ist die Stimmung aufgeheizter, sie zeigen Mittelfinger, Spucken und Brüllen. Immer wieder fliegen Steine, Treffer werden mit johlendem Beifall gefeiert. „Attention! For safety reasons … this protest will be shut down immediately! You have 20 minutes to…“, wütende Buh-Rufe und Gebrüll übertönen die Durchsage. Einer schreit: „Traitors!“ und die Menge stimmt ein. Der Fremde ist jetzt in der vordersten Reihe der Demonstranten angekommen, wie versteinert steht er da, während um ihn herum die Menge tobt: „„TRAITORS, TRAITORS, TRAITORS!“ Da öffnet er den Reißverschluss seiner Jacke. Die Zeit scheint still zu stehen, als er mit der rechten Hand eine Pistole herauszieht, Modell Glock 19. Er zielt er auf die Reihe der Polizisten und eröffnet das Feuer.

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Das (Un-)Glücksschach
Wenn man noch ein Stück weiter in die Landschaft rausgehen würde, noch ein paar Meter länger spazieren würde, vielleicht einmal über den Hügel hinüber auch wenn der Weg dort sehr schlecht ist, dann könnte man auch heute noch eine unscheinbare Ruine am Waldrand sehen. Ein Mix aus niedergebrannten Dielen und zusammengefallenen Ziegelwänden.
Als die Zeiten noch andere waren und die Wände frisch erbaut, da lebte dort Eduard Ende in seinem bescheidenen Reich. Fern ab von jeglicher Zivilisation hatte er seine Hütte mit einer Garage an den Wald gebaut, gerade so groß, dass man sie sehen konnte, aber klein genug, dass sie niemand entdeckte. Herr Ende war dürr und lang, hatte wilde, ungepflegte Haare, die ihm bis ins Gesicht hingen und trug eine Brille, welche auf seiner Nasenspitze saß.
In seinem Wohnzimmer waren Mörser und Kelche, Tränke und Salben sowie Hüte und Mäntel in Regalen und an den Wänden aufgereiht und schmückten den unaufgeräumten Raum, dessen Wände gelblich und rußig waren.
Es war ein ganz normaler Samstag und Eduard Ende holte einen kleinen Tisch und zwei Stühle aus seiner Abstellkammer hervor, stellte sie auf die Wiese vor seinem Haus und paffte seine Pfeife. Er wartete, wie er es jeden Samstag tat, auf seinen Spielpartner für eine Runde Schach. Der Spielpartner war Axel Anfang, ein freundlicher, aufrichtiger Mann, der eher gepflegt und herzlich war. Er stellte gewissermaßen das Gegenteil zu Herrn Ende da.
Es war das Spiel der Spiele, das Championsleaguefinale der Welt und es kämpfte das Gute gegen das Böse, Alpha gegen Omega, Herr Anfang gegen Herrn Ende. Es sollte, wie jede Woche darüber entscheiden, welcher der beiden Spieler das Geschehen der Welt leiten durfte. Und so kämpften sie mehrere Stunden gegeneinander, schoben die Bauern, ließen die Reiter springen, sprinteten mit den Läufern und schossen mit den Türmen.
An diesem Tag fiel der König von Herrn Anfang als erster. Er bedankte sich und ging, während Herr Ende sich langsam seiner Garage, der Büchse der Pandora näherte und Pläne schmiedete, wie er die Welt diese Woche knechten würde. Er öffnete das Tor und ein Strahlen ging über sein Gesicht. In der Mitte der Garage war eine Miniaturform der Welt als live – Übertragung und an den Seiten standen seine Spielzeuge. Er hatte sie, zur besseren Übersicht, alphabetisch geordnet. Weit links standen die Atomwaffen, dann kamen Bomben, Diktatoren, diverse Arten von Epidemien, Handgranaten, Machtkämpfe, Terroranschläge, Tsunamis, Vulkanausbrüche und ganz rechts die Weltkriege. Herr Ende streichelte die Gegenstände im Regal, als wären es seine Kinder und überlegte mit welchem Utensil er die Menschheit erfreuen würde. Hätte Herr Anfang gewonnen, so wären schöne Dinge passiert, aber so steuerte die Welt für eine Woche auf ihren Untergang zu.
Der Wechsel zwischen Gut und Böse wäre auch immer so weitergegangen, wenn nicht eines Tages ein junger Jäger auf die Suche nach eigenem Land gegangen wäre. So kam es, dass er Herrn Ende durch sein Fernglas dabei ertappte, wie er einen Atomreaktor mit einer Stricknadel undicht machen wollte. Den Schock kaum verdaut zückte er sein Gewehr und näherte sich langsam dem Übeltäter. Herr Ende hatte schon die Nadel auf das Atomkraftwerk angesetzt, als er den Lauf der Waffe in seinem Rücken spürte. Verdutzt drehte er sich um und könnte dem Jäger gerade noch in die Augen schauen, da durchdrang das Kaliber seine Rippen und er erlag seinen Wunden.
Die Menschen hatten gelernt mit dem wechselnden Etappen zu leben, mal lief das Geschäft, gab es rote Zahlen, was allerdings in den folgenden Monaten geschah, war zu viel. Der Einzelhandel explodierte, Obst und Gemüse waren lecker, Autos die ohne Treibstoff fuhren wurden erfunden und die Lebenserwartung stieg exponentiell an. Die Probleme der Menschen waren verschwunden und über kurz oder lang versickerte alles Übel durch den Tod von Herrn Ende.
Aber es braute sich allgemeine Unzufriedenheit in den Bevölkerungen zusammen, man konnte sich nichtmehr miteinander messen, der Nachbar hatte die selben Chancen wie man selbst und das bessere Auto hatte man schon lange nichtmehr. Es gab keine Talente mehr, jeder konnte auf einmal Schwimmen oder Popstar sein, man war nur noch im Urlaub und Arbeiten musste man nicht. Außerdem waren keine Reparaturen mehr notwendig, seitdem man wusste wie man Verfall stoppen konnte. Also kamen die Politiker aller Länder zusammen und berieten sich, was man denn gegen die allgegenwärtige Glückssträhne machen könne.
Nach etlichen Krisengipfeln hatte man einen Plan erschaffen, wie man endlich wieder unglücklich werden konnte.
Zunächst begann man, die gesunde Ernährung der Menschen durch den Einsatz sogenannter Pflanzenschutzmittel unmöglich zu machen. Fortan waren Obst und Gemüse geschmacklos, verkrüppelt und leicht krebserregend. Die Automobilhersteller produzierten SUV´s, die auf keine Straße mehr passten und besonders viel schädliche Substanzen ausstießen. Die Industrie entwickelte Plastik, das sich auch nach 1000 Jahren nicht zersetzte, und die Müllwerke kippten den gesamten Müll ins Meer, damit man durch den Konsum von Fisch nicht nur Omega 3 Fettsäuren zu sich nahm, sondern zur selben Zeit vergiftet wurde.
Doch nicht nur der menschliche Körper wurde strapaziert, auch gesamte Bevölkerungen. So wurden von den Politikern Kriege organisiert, die Armut, Flucht und Hunger auslösten. Textilprodukte wurden nur noch durch Kinderarbeit hergestellt und alle Artikel auf eine Art und Weise konstruiert, dass sie möglichst schnell kaputtgingen.
So erlangte man das, was man vorher vermisst hatte. Es gab wieder besser und schlechter, man konnte sich wieder über Dinge beklagen, hatte wieder Arbeit zu tun und es gab endlich wieder Gründe für Konflikte. Wieder einmal hatten Politiker die Menschheit vor ihrem Unglück bewahrt.
Herr Anfang wohnt inzwischen weit draußen in der Landschaft wo keine Menschenseele ihn vermutet. Samstags stellt er einen Tisch vor die eingefallenen Wände einer Ruine und spielt darauf Schach gegen sich selbst. Wie das Spiel ausgeht ist egal. Eigentlich hat er keine Zeit mehr zum Spielen, denn er hat genug damit zu tun, die Menschheit zu retten, die sich permanent selbst zerstören will. Dennoch sitzt er jeden Samstag da, um sich noch einmal so zu fühlen wie damals, als die Zeiten noch andere waren und sein Freund Eduard Ende noch in frisch erbauten Wänden lebte.

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Fantasieantrieb – oder: Die Anfänge der Sternenfahrer

„Boah, Papa, guck mal den an!“,

rief Erik mit großen Augen. Er stand auf seinem Bett, direkt auf der Bettdecke mit dem Raketenmuster, und schaute durch das Fensterglas des Dachfensters in den dunklen Nachthimmel. Sein Vater kniete daneben, und betrachtete seinen Sohn mit einem Lächeln.

„Der ist total hell! Ist das der Chefstern?“

„Könnte gut sein! Meinst du denn, dass Sterne einen Chef brauchen?“

Erik legte seine Stirn in Falten und überlegte. Dann erhellte sich seine Miene.

„Klar! Die Arbeitersterne kommen ja sonst immer zu spät! Die müssen da sein wenn‘s dunkel ist. Und die sind ja dann immer da. Also muss es auch einen Chef geben der aufpasst.“

Das leuchtete auch Papa ein, und einige Minuten sagte keiner der Beiden etwas, still blickten sie hoch zu den Sternen.

„Du Papa?“

„Ja?“

„Wer wohnt auf den Sternen?“

„Niemand. Die sind viel zu warm. Wie unsere Sonne. Die ist auch ein Stern.“

Erik fand jetzt nicht so wirklich, dass die Sonne ein Stern war. Die sah ganz anders aus. Größer. Aber sein Vater war immer sehr klug und wusste fast alles. Ein wenig misstrauisch blieb er jedoch.

„Ja, aber die Sonne ist ja auch nur am Tag da. Die Sterne nur in der Nacht, die sind dann bestimmt viel kälter. In der Nacht ist es nämlich immer kälter!“, wusste Erik.

Gegen so viel Logik konnte Papa auch nicht mehr viel entgegensetzen. Also versuchte er es anders:

„Aber die Sterne sind auch viel zu weit weg.“

„Wie weit?“

„Also, schon ein paar Lichtjahre.“

Das klang wirklich sehr weit, fand Erik.

„Ist das weiter als bis zu Florian?“

Sein Freund Florian war letztes Jahr nach Stuttgart gezogen. Das war wirklich schon sehr weit weg.

„Ja, viel weiter.“

„Aber vielleicht wohnt ja wer da, der schon immer da wohnt!“, fiel es Erik ein.

„Wer soll das denn sein?“

„Marsmenschen“, sagte Erik sehr überzeugt.

Er hatte schon viel über Marsmenschen nachgedacht, und mit Florian sehr ausführliche Gespräche über dieses Thema geführt.

„Das könnte natürlich sein. Aber rausfinden werden wir das bestimmt nicht“, sagte Papa.

Papa glaubte nicht an Marsmenschen, das wusste Erik. Papa glaubte nur an seine Arbeit und die Sportschau. Und natürlich an Mama, ab und zu.

„Was braucht man um dahinzufliegen?“, fragte Erik.

„Also für den Anfang brauchst du eine große Menge Fantasie glaube ich. Fantasie und Vorstellungsvermögen sind immer der Anfang“

„Dann mach ich den Anfang, Fantasie kann ich gut!“

Seine Lehrerin hatte ihn gelobt, dass er sehr viel Fantasie besäße. Erik war immer noch sehr stolz auf dieses Kompliment, wusste aber auch, dass mit diesen Fähigkeiten eine gewisse Verantwortung mitschwang, der er aber versuchte gerecht zu werden.

„Aber dann bitte erst morgen, es ist schon spät!“, ermahnte ihn sein Vater.

„Du musst mir beim Raumschiff helfen, alleine kann ich das nicht bauen!“

„Nagut. Aber jetzt erstmal gute Nacht.“

Papa knipste das Licht aus und verließ das Zimmer. Erik lag im Bett und starrte gegen die Decke. Er war der richtige für die Mission, da war er sich sicher. Vor seinen Augen breitete sich der Plan für den Bau seines Raumschiffs aus. Auf jeden Fall konnte er die alte rostige Badewanne verwenden, die im Garten unter der alten Ulme stand. Einen Antrieb bräuchte er noch. Einen sehr starken. Oder Papa muss anschieben. Papa war schließlich sehr stark. Dann noch einen Raumanzug. Und Werkzeug, falls etwas kaputtgeht.

„Aufstehen, Schlafmütze!“

Mama weckte ihn immer sehr unsanft. So richtig wach wurde Erik erst, als er sich auf den Weg zur Schule machte. Er war einer der wenigen Erstklässler, die schon alleine zur Schule gehen durften. Er ließ den Blick nach rechts und links schweifen, immer auf der Suche nach Bauteilen für sein Raumschiff. Sehr gut gebrauchen konnte er die zwei Radkappen im Straßengraben. Wofür wusste er auch nicht, aber da würde sich schon was finden. Außerdem zwei leere Spraydosen, etwas Plastikschlauch und einige speziell geformte Stöcker.
Als seine Lehrerin, Frau Holzmann, ihn fragte, was er mit dem ganzen Müll machen wolle, erzählte er ihr von seinem Raumschiff. Sie lächelte, und holte ihm aus dem Lehrerzimmer eine große Plastiktüte, damit er die empfindlichen Bauteile sicher verstauen konnte.
Heute fiel es Erik äußerst schwer während des Unterrichts stillzusitzen, die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit klingelte irgendwann die Schulglocke, und die Klasse lärmte nach draußen.
Papa wartete schon, es war Freitag, und freitags kam Papa immer früher aus dem Büro.
Erik zeigte ihm stolz die Bauteile, als sie zusammen im Auto saßen.

„Das wird das beste Raumschiff was ich je gebaut hab!“

„Du hast doch aber noch nie eins gebaut“, wunderte sich Papa.

Erik fand aber, dass das nichts zur Sache tat.

Zuhause hatte Mama bereits das Essen fertiggekocht. Murrend setzte sich Erik an den Tisch. Mama verstand mal wieder nicht, dass ein Raumschiff gebaut werden musste, und das Essen auch noch später gegessen werden konnte. Nachdem er alles schnell in sich hinein geschaufelt hatte, rannte er in den Garten.
Die rostige Badewanne musste erstmal von Laub und Dreck befreit werden. Papa brachte ihm ein Paar Gartenhandschuhe, damit er sich nicht verletzte.

„Die kannst du auch gleich als Raumhandschuhe benutzen“,

schlug er vor. Das war eine sehr gute Idee. Die Wanne
wurde mit Aluminiumfolie umwickelt, und mit Sitzpolstern ausgekleidet.
Die Spraydosen wurden als Antrieb hinten an beide Seiten geklebt und der Name „Wanne 1“ auf das Raumschiff gesprüht

„Was kommt da für Treibstoff rein, Papa?“

„Na Fantasie, habe ich doch gesagt.“

Aus den Radkappen wurde ein Steuerrad, aus den Stöckern Steuerknüppel. Erik war sehr zufrieden. Raumschiffe bauen war sehr viel einfacher als er gedacht hatte.
Papa verschwand im Haus, und tauchte nach einiger Zeit mit einem kleinen Overall und einem Motorradhelm wieder auf.

„Hier, das habe ich dir noch besorgt. Was wäre ein Raumfahrer ohne Raumanzug?“

Eriks Augen leuchteten vor Stolz, während ihm Vater sein in den Anzug half, und den Helm richtig aufsetzte. Mama kam in den Garten, und brachte Erik eine Brotdose. „Astronautenproviant“ stand darauf. Jedenfalls erklärte ihm Mama das so.

„Bist du sicher, dass du jetzt sofort losfliegen willst?“, fragte sie ihn.

„Ich muss den Anfang machen, hat Papa gesagt“, erklärte ihr Erik mit ernster Miene.

Er hopste in die Wanne und sicherte sich mit den Sicherheitsgurten aus Spannriemen.

„Ihr müsst Abstand nehmen, gleich wird’s laut!“, frohlockte er durch das Helmvisier.

Papa warf ihm ein Walkie-Talkie zu.

„Hier, dann hast du Kontakt zur Bodenstation.“

Erik sah das Gegenstück an Papas Gürtel baumeln. Er schloss die Plastikschläuche für die Sauerstoffzufuhr an seinem Anzug an, und schloss das Helmvisier.
Das Raumschiff befand sich auf einer angewinkelten Startrampe. Die Displays vor Eriks Augen meldeten Bereitschaft aller Systeme. Die Stimme der Bodenstation ertönte.

„Countdown läuft! 10…9…“

Erik startete die Triebwerke.

„3…2…1… Start!“

Ein Ruck ging durch Eriks Körper, als sich das Raumschiff bebend in Bewegung setzte, den kleinen Garten hinter sich ließ, immer höher steigend in die Wolken eintauchte, und dabei mehr und mehr an Geschwindigkeit zunahm. Die Sonne erschien gleißend hell über ihm, und tauchte das gesamte Cockpit in warmes Licht. Erik winkte der ISS im vorüberfliegen, und beschleunigte dann weiter. Der Mond huschte vorbei.

„Erde an Wanne 1, wie sieht’s aus? Ende.“ knarzte es aus dem Bordfunkgerät.

„Ich glaub es ist alles in Ordnung, ich bin ziemlich schnell“ gab Erik seine Situation präzise durch. Er durchschlug die Ringe des Saturns und ließ sie in Splittern hinter sich zurück, flog solange Kurven um den Neptun bis diesem schwindelig wurde, und machte sich dann auf den Weg zu den Sternen.
Papa hatte gesagt, die seien viel zu weit weg. Aber Papa hatte auch keine Fantasie, und die braucht man am Anfang.
Aus der Dunkelheit des Weltraums tauchte auf einmal ein weißes Band auf, welches sich durch die Leere schlängelte, und träge dahinzufließen schien. Die Milchstraße! Erik hatte schon mal von ihr gehört, konnte sich aber nie erklären wieso es im Weltraum eine Straße aus Milch gab.

„Papa, äh Bodenstation, hier ist die Milchstraße!“, gab er aufgeregt seinen Bericht ab.

„Dann verläuft alles nach Plan, versuch aber nicht einzutauchen, sie hat tückische Apfelstrudel!“

Erik ließ Wanne 1 dicht über die Oberfläche hinweg zischen. Glänzende Seekühe tauchten aus dem weißen Strom auf und muhten dem Raumschiff hinterher. Aha! Daher kam also die Milch im Weltall. Die Mission war schon jetzt ein wissenschaftlicher Durchbruch und Erfolg.
Doch Erik durfte das eigentliche Ziel nicht aus den Augen verlieren. Er schob den Hebel für den Schub ganz nach vorne und holte alles aus dem kleinen Raumschiff heraus.

„Bodenstation, sag Bescheid, wenn ich bremsen muss!“ gab er seine Befehle an die Missionsleitung weiter.

„Roger Wanne 1“ ertönte es aus den Lautsprechern. Es gab eine kleine Pause.

„Bremsmanöver vorbereiten!“

Erik ergriff mit beiden Händen den Schubhebel.

„Bremse in 3, 2, 1, jetzt!“

Erik zog den Hebel zurück und leitete damit die Schubumkehr ein. Das Raumschiff bremste scharf ab und kam zum Stillstand. Erik sah sich um. Es war, als befände er sich in einem Raum voller heller Glaskugeln, die mit Licht gefüllt waren. Das mussten die Sterne sein! Sie waren überall. Er öffnete das Cockpit und schwebte nach draußen. Mit Schwimmbewegungen arbeitete er sich vorwärts. Papa hatte Unsinn erzählt. Die Sterne waren gar nicht wie Sonnen. Die waren ja nur so groß wie Fußbälle. Viele auch noch kleiner.

„Hallo Bodenstation, hier sind die Sterne, sie sind klein und wie aus Glas. Mindestens 100, vielleicht auch mehr!“

„Hallo Wanne 1, das ist ja eine tolle Entdeckung! Beobachten Sie mal noch etwas, und kommen sie dann pünktlich zum Abendbrot wieder zur Erde!“

Erst jetzt bemerkte Erik, dass einige der Sterne gar nicht hell waren. Sie schwebten dunkel zwischen den Erleuchteten, und waren so im ersten Moment gar nicht zu sehen gewesen. Also hatte er auch hier Recht behalten. Die Sterne hatten Arbeitszeiten. Und die dunklen Sterne hatten gerade Pause. Faszinierend! Auf einmal sah er eine kleine Lichtkugel herbeischweben. Sie hielt neben einer der erloschenen Kugeln an und tippte leicht dagegen. Die Kugel öffnete sich, und das Licht schwebte hinein. Als die Kugel sich geschlossen hatte, sah sie genau so hell und gleichmäßig erleuchtet aus, wie all die anderen Kugeln. Erik staunte. Ein echter Sternenschichtwechsel. Erik näherte sich und berührte eine der Kugeln. Die war gar nicht so warm wie die Sonne. Eher so wie seine Nachttischlampe. Aber er hatte ja auch die Gartenhandschuhe an, die er sich nicht traute auszuziehen.

„Wanne 1, Ihr Sauerstoff geht zur Neige!“ tönte es aus dem Funkgerät.

Erik erschrak. Er musste schnell zurück ins Raumschiff. Rudernd bewegte er sich durch die Sterne, bemüht, sie nicht bei der Arbeit zu stören. Wanne 1 schwebte noch da wo er sie zurückgelassen hat. Geschickt schwebte er in den Pilotensitz und schloss die Glaskuppel über sich.
Mit einem geschickten Wendemanöver richtete er die Maschine neu aus, und schoss dann mit Höchstgeschwindigkeit wieder zurück in Richtung Erde. Der Neptun hatte sich inzwischen grünlich verfärbt, anscheinend war ihm wirklich sehr übel von den wilden Flugmanövern geworden. Die Ringe des Saturns waren überall im Weltraum verteilt, und mussten mit höchster Vorsicht umflogen werden, was allerdings für einen Piloten wie Erik kein Problem darstellte. Eine kleine Scherbe griff er sich im Vorbeifliegen, als Mitbringsel für Papa.
Bald schon tauchte die Erde wieder im Fenster auf, und wurde rasch größer.
Beim Eintritt in die Atmosphäre fing das Raumschiff an zu glühen, der Lärm im Cockpit wurde beinah unerträglich, und einige Warnleuchten fingen an zu blinken. Hitze breitete sich aus und trieb dem kleinen Piloten den Schweiß auf die Stirn. Ängstlich umklammerte Erik das Steuer.
Dann, auf einmal, ließ der Lärm nach, ein Ruck ging durch das Raumschiff als die Fallschirme aufgingen und den Fall stoppten.

Dampfend landete die Maschine wieder im Garten. Erik stieß die Tür auf und stolperte hinaus. Er musste sich erstmal wieder an die Schwerkraft gewöhnen. Papa fing ihn auf.

„Papa“, japste Erik. „ich hab’s geschafft. Ich war bei den Sternen, ich hab‘ den Anfang gemacht!“

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Mayhem

Der Chlor-Gestank trieb ihn fast in den Wahnsinn. Doch das eigentliche Problem war der tiefrote Fleck auf seinem Ferragamo-Anzug.
Was bildet sie sich eigentlich ein?! Mit den Katzen ist das nie passiert!
Rex stand seit genau 35 Minuten vor dem mit Bleichmittel gefüllten Waschbecken, was die optimale Dauer war, um lästige Verunreinigungen zu beseitigen. Doch sein verzweifeltes Schrubben und Tupfen blieb erfolglos. Wie ein Brandmal setzte sich das rote Schimmern von der dunkelblauen Wolle ab.
Er wurde wütend.
Wie kann sie es wagen, mir meinen Tag zu verderben?!
Rex griff sich seine Anzug-Jacke, machte sieben Schritte, vorbei an dem zerbrochenen Tisch, in die Mitte des Raumes und trat mit voller Wucht gegen den leblosen Körper.
Ihre Augen starrten unbeteiligt in die Leere, doch ihre Lippen formten ein fast schon schadenfrohes Lächeln.
Du wertlose Hure!”, schrie Rex und trat ihr gegen den Schädel. Und noch mal. Und noch mal. Und noch mal. Bis das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und sich ihre blonden Locken rot färbten.
Erleichterung machte sich in Rex breit.
Er kniete sich auf den Boden, rieb mit seiner Anzug-Jacke den dunkelroten Schmutz von der Oberfläche seiner Jimmy-Choo-Schuhe und freute sich über die Eigenschaften von qualitativ hochwertigem Leder. Keine Flecken, keine Verunreinigungen, perfekt gemustertes Schwarz.
Rex richtete sich auf, warf seine Anzug-Jacke über das entstellte Antlitz seiner Begleitung und begab sich zurück zum Waschbecken. Er griff in die milchweiße Flüssigkeit, zog den Stöpsel und beobachtete wie die Lauge langsam im Abfluss verschwand, während sich Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht ausbreiteten. Rex lächelte und öffnete das Fenster. Schließlich wäre es unhöflich, der Sonne keinen direkten Einlass zu gewähren.
Es war sogar besser, als ich es mir vorgestellt habe.
Er genoss den Moment der warmen Stille, bis er seine verzerrte Reflexion im Fenster erblickte und beschloss, dass es an der Zeit war, sich zu reinigen.

Blutige Schuhabdrücke zogen sich die Treppe hoch, bis vor das Badezimmer, in welchem Rex das eigene Spiegelbild betrachtete. Seine schulterlangen, braunen Haare waren sorgfältig zurückgekämmt, sein Gesicht frisch rasiert und mit Hautcreme versehen. Rex war zufrieden.
Bis plötzlich der stechende Schmerz wieder durch seinen Kopf drang und ihn auf die Knie zwang. Er begrub seinen Kopf tief in seinen Händen, verharrte einen Moment regungslos und richtete sich langsam wieder auf.
Auf Rex’ zuvor makellosem Gesicht befand sich nun ein Blutfaden unterhalb der Nase. Seine Miene verfinsterte sich. Er strich sich das Blut vom Gesicht, wusch es sorgfältig von der Hand und blickte erneut in den Spiegel. Ein abwesendes Lächeln entwischte ihm, als er anfing, auf sein Spiegelbild einzuschlagen. Blutige Scherben fielen zu Boden. Seine Hand schmerzte. Doch Rex fühlte sich besser. Er wickelte ein Handtuch um seine blutigen Knöchel und öffnete den kleinen Schrank neben den mosaikartigen Überresten des Spiegels. Wie jeden morgen nahm er zwei Xanax aus dem orangen Behälter, schluckte sie, sank zu Boden und wartete, bis das Gefühl von Taubheit seinen Körper durchzog.

Rex stapfte die Treppe hinunter und folgte den Blutspuren bis zu ihrer Quelle, wo seine Begleitung unverändert auf dem Boden lag.
Braves Mädchen!
Er stieg über sie hinweg, griff sich einen Stuhl und den Verbandskasten vom anderen Ende des Raumes und setzte sich neben ihren Körper.
Tut mir leid …”, begann er verhalten, “… das alles hier ist noch recht neu für mich. Also verzeih mir, falls ich deinen Erwartungen nicht gerecht werde.”, sagte Rex als er anfing, sich die Hand zu verbinden.
Ich habe immer wieder gelesen, dass gleichgesinnte Menschen nie ihre erste Person vergessen. Sie haben sogar das Bedürfnis, ein Andenken zu behalten.”, das brachte ihn zum Schmunzeln.
Ich hingegen kann mich nicht einmal an deinen Namen erinnern. Entschuldigung, falls ich deine Gefühle verletze, aber du bist mir völlig egal.”, Rex schnitt den überflüssigen Rest des Verbandes ab, verknotete das Ende sorgfältig und stand auf.
Irgendwelche Widerworte? Kein Klagen? Kein Jammern? Kein Flehen?”, diesmal lachte er laut auf, “Natürlich nicht, schließlich bist du tot!
Rex packte sie an den Beinen und zog seine Begleitung über den Boden, wobei sie die Anzug-Jacke verlor, die ihr Gesicht bedeckt hatte. Er öffnete die Kellertür, als er ein letztes Mal auf sie herabblickte.
Dein Schädel ist so verformt, dass dein Auge fast herausspringt. Verdammt abartig! Hast du denn gar keinen Anstand?!”, rief Rex grinsend, bevor er ihre Überreste die Treppe hinunterstieß und die Kellertür verschloss.
Er schlenderte an dem zerbrochenen Tisch vorbei in das Nebenzimmer, griff sich einen Wischmopp und beseitigte die letzten, flüssigen Überbleibsel. Schließlich wollte er, dass sich seine nächsten Begleitungen so wohl wie nur möglich fühlen.

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Nikotin

Augen zu. Ziehen. Rauch inhalieren. Langsam ausatmen. Augen auf.

Ich schaue auf die Pall Mall in meinen zitternden, zerkratzten Händen. Wie lange ist die letzte her? Zehn Stunden? Fünfzehn? Ich kann es nicht sagen. Es könnten fünzig Wochen sein. Jedenfalls ist es jetzt dunkel. Sterne sind nicht zu sehen, wahrscheinlich wegen der Lichtverschmutzung. Nur in wenigen Fenstern der Stadt zu meinen Füßen brennt noch Licht. Merkwürdig, wenn man an all diese Leben denkt. Alles denkende, fühlende Menschen, die sich lieben und hassen, sich aufregen und ausruhen, miteinander lachen und sich gegenseitig anschreien, die sich lieben. Menschen, die in den letzten Stunden nichts mehr bewegt hat als, sagen wir, wer mit Abspülen dran ist. Oder warum der Paketbote nicht geklingelt hat, sondern direkt einen Zettel in den Briefkasten geworfen hat. Merkwürdig, wie viel und wie wenig ein paar Stunden bedeuten können. Ein paar mehr Stunden mit Clara…
Ich schaue über die Brüstung in die Tiefe. Meine Hände suchen Halt, um mich hochzustemmen…

„'Tschuldigung, hast du Feuer?“
Ich zucke zusammen und blicke nach rechts. Eine junge, blonde Frau, ganz in weiß gekleidet, steht neben mir. Mit schiefem Lächeln und tiefblaue Augen sieht sie mich an. Ich brauche kurz, um mich zu fangen.
„Mh, klar.“
Ich entzünde die Flamme meines Feuerzeugs und schütze sie mit hohler Hand vor dem Wind. Ihre Zigarette glimmt auf, als sie sich vorbeugt und den Rauch tief einatmet. Mit geschlossenen Augen genießt sie sichtlich, wie ihre Lungen das Nikotin aufnehmen. Das Mädchen verschränkt seine Arme auf der Brüstung und legt seinen Kopf auf den Händen ab. „Danke.“
Auch ich schaue wieder auf die Stadt, in die Ferne. Irgendwo bellt ein Hund. Immer wieder wird die Dunkelheit von Blaulicht zerschnitten, das in der Notaufnahme genau 32 Etagen weiter unten verschwindet.
„Scheiß Tag, hm?“
Sie schaut nicht auf als sie redet, sondern fixiert einen Punkt irgendwo in der Nähe des EY-Towers. Ich nehme selbst noch einen Zug und versuche, den Hund ausfindig zu machen.
„Könnte nicht beschissener sein.“
„Du warst in dem Unfall an der George Street, oder?“
„Beifahrer.“
„Scheiße.“ Ich merke, wie sie mich von der Seite mustert. „Tut mir echt leid.“
Ich antworte nicht, obwohl es wirklich aufrichtig klingt. Ich antworte nicht, weil ich meiner Stimme nicht vertraue. Stattdessen nehme ich noch einen Zug, bei dem meine Hände so stark zittern, dass ich mich darauf konzentrieren muss, die Zigarette nicht fallen zu lassen. In einem Fenster einer der oberen Etagen eines Reihenhauses gegenüber zieht sich ein übergewichter Mann das Unterhemd aus.
„Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe?“ Ihre Stimme klingt fern, so fern, als würde das Mädchen unten auf der Straße stehen anstatt neben mir auf dem Dach. „Wenn alle Menschen in dieser Stadt gleichzeitig um diese Zeit aus dem Fenster schauen würden. Wäre es dann noch die selbe Nacht? Oder würde man das irgendwie fühlen? Also, ohne dass man sich irgendwas sagt. Alle schauen einfach schweigend aus dem Fenster. Würde das diese 3-Uhr-morgens-Stimmung ruinieren? Oder unendlich bereichern?“
Die Frage ist so seltsam, dass ich sie nicht ignorieren kann. „Kommt darauf an, ob sie auf übergewichtige Männer stehen, würde ich sagen.“ Sie lacht auf, verschluckt sich und muss husten. Ich nicke in Richtung des fernen Menschen. Gemeinsam beobachten wir, wie sich der Mann ein hellblaues Schlafanzugoberteil überstreift und aus einer Schublade eine orange Pyjamamütze holt.
„Wow, also wenn jetzt noch rosa Pantoffeln kommen, überrede ich den erstbesten Sanitäter, mich da hinzufahren. Ich stehe sowas von auf Männer mit einem Sinn für Nachtmode.“ Nun kann ich mir ein grunzendes Ausatmen nicht verkneifen. Doch uns beiden stockt der Atem, als im Fenster eine Frau mit wallendem roten Haar und der Figur eines Topmodels ins Sichtfeld tritt. Sie umfasst den Bauch des Mannes von hinten und vergräbt ihr Gesicht in seiner Schulter. Das Mädchen neben mir pfeift leise und erstaunt.
„Sieht aus, als wäre dein Traummann schon vergeben“, sage ich mit trockener Stimme.
„Scheiße, ich hasse mein Leben. Kann dieser Tag nicht endlich aufhören?“
Ich weiß nicht warum, aber ich muss tatsächlich leise über ihren sarkastischen Ton lachen. Sie fällt mit ein, und so stehen wir beide eine Zeit lang einfach nur da und lachen leise vor uns hin.
Ich wische mir über die Augen. „Wenn es wirklich schon drei Uhr ist, hat der Tag grade erst angefangen.“
Als sie mich diesmal von der Seite ansieht, erwidere ich ihren Blick. Erst jetzt fällt mir auf, was für große Augen sie hat. Große, blaue, etwas schräge Augen.
„Du bist echt nicht gut im Aufmuntern, weißt du das? Wahrscheinlich genauso mies wie ich.“ Ihre Stimme ist rauher, als es ihre sanften Wangenknochen vermuten lassen würden. Ich reiße mich von ihren Pupillen los und sehe wieder über die Häuser, bevor ich antworte.
„Ich war schon immer Pessimist. Meine Schwester war die Optimistische von uns beiden. Egal wie beschissen es grade lief, egal ob bei der Beerdigung unserer Mutter oder als unsere Hasen weggelaufen sind, immer hat sie es irgendwie geschafft, das Gute zu sehen. Und es mir zu zeigen.“ Ich bin erstaunt, dass ich meine Stimme so weit kontrollieren konnte. Aber mit den letzten Worten kommen plötzlich wieder die Bilder. Der Knall. Das Quietschen der Reifen. Das Blut. Ihre schwarzen Haare, verklebt.
„Es muss toll sein, so jemanden im Leben gehabt zu haben.“ Ihre leicht bebende Stimme zerschneidet die Stille und löst die Bilder wie Zigarettenrauch auf. „Ich meine – egal was dir die Jahre noch so an Scheiße zu bieten haben – du wirst immer wissen, dass deine Schwester etwas Gutes gesehen hätte. Und vielleicht suchst du dann automatisch danach. Weißt du, vielleicht ist das nicht das Ende von ihrem Optimismus. Sondern der Anfang von deinem.“
Ich denke über diesen Satz nach, während ich einen letzten Zug nehme. Ich schnippe den Stummel über die Brüstung und versuche, ihm mit verschwommenen Augen bis zum Boden zu folgen. Das Mädchen tut es mir gleich, und so stehen wir eine Weile da oben, schweigend, den Blick in die Tiefe gewandt.
„Hast du noch eine? Meine Schicht fängt gleich wieder an und ich hab das Gefühl, ich werd das Nikotin brauchen.“
Ich greife in meine Jackentasche und hole die Schachtel Pall Mall hervor. Sie ist leer. Ich könnte schreien, aber als das Mädchen auflacht, muss ich einfach mitlachen. Ich knülle die Schachtel in meiner Faust zusammen und werfe sie mit aller Kraft in die Nacht.

Ich bleibe noch eine Weile auf dem Dach, nachdem Emma schon im Treppenhaus verschwunden ist. In meiner rechten Hostentasche umfasst meine Hand den Zettel, auf dem sie in schrägen Ziffern ihre Nummer notiert hat. Ein letztes Mal suche ich nach dem Fenster mit dem übergewichtigen Mann und seiner erstaunlich attraktiven Freundin, doch ich kann es nicht mehr finden.

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Findungsphase
Ok, ok, es geht los, das koffeinhaltige Unterstützungsgetränk steht bereit. Ich hab zwei Wochen Zeit. Ich beginne zwar dank scheiß Internetausfall etwas später. Verfluchte Telekom. Aber alles noch im Rahmen. Mal sehen was das Thema ist… oh ha! Das ist ja mal allgemein. Das ist ja so allgemein, da würde ja jede Geschichte passen.
Ich hatte doch irgendwo noch diese Datei der Fantasy Geschichte aus meinen Tagen der Jugendsünden. Ah da ist sie, mal durchgehen. Ja, ja, wie ich’s mir dachte, passt. Muss nur etwas gekürzt und hier und da angepasst werden, mal sehen. Das kommt weg, den Charakter kann man auch streichen, das Setting muss eingedampft werden, ist viel zu lang. Ok, was bleibt übrig? Das, das uuund das. Mhmm. Wäre mehr eine Herr der Ringe-billig-Kopie, das kann ich hier nicht bringen, nicht bei dem Publikum, dann fühlen die sich noch beleidigt. Fantasy ist auch nicht so das Wahre, viel zu sperrig die Einführung, ich muss mich kurz halten. Mal sehen, was kann man noch zum Thema schreiben.
Ha, ich hab‘s. Eine Gründung. Firmen-? Nee, kein Inhalt. Stadt-….joa, das passt. So welche Stadt, besser gesagt wann. Wilder Westen passt, die haben ja dauernd neue Städte gegründet. Ein bischen Siedlungsstimmung einbauen, Probleme beim Hausbau und das müsste dann passen. Wobei…ich hab‘s. Die erste Marskolonie, das wäre ein wirklicher Neuanfang! Im Grunde die gleiche Geschichte. Ankunft - Charakterbeschreibung kann wegfallen - erste Probleme - offenes Ende. Ja, ja, das wird’s
Das ist doch Schwachsinn
Wieso?
Du hast doch keine Ahnung davon, was man braucht, um dort ne Kolonie zu gründen
Das hält andere Autoren auch nicht ab, sowas zu schreiben.
Und über jeden einzelnen regst du dich auf.
Wohl wahr. Aber dann müsste ich mich vorbreiten, mich einlesen. Bei dem Stoff dauert das bestimmt seine paar Tage. Und das wird nur ein kleines Fanprojekt.
Wenn du’s nicht machst, wirst du dich danach selbst hassen.
Nah; dann lass ich‘s lieber, dann ein anderes Thema; mal sehen…Vielleicht ein Drama. Familienkrach und so. Scheidung, das Kind muss sich neu zurechtfinden.
Da bist du ja genau der richtige für.
Was soll das jetzt heißen?
Das dich die Schicksale solcher Kinder bisher null interessierten.
Ich kann doch trotzdem drüber schreiben.
Wird dann bestimmt authentisch.
Hast Recht. Aber Drama war gut, dann doch vielleicht eine Liebesgeschichte, erste Liebe in der Schule, Herzschmerz, Erwachsenwerden.
Bist du völlig behämmert? Du hast doch noch nie sowas geschrieben, so ne Schnulze.
Irgendwann ist immer das erste Mal.
Wird bestimmt gut, so ganz ohne Übung. Wie eine ersten Bilder mit Wachsmalkreide. So ganz ohne Kontur und so.
Auf welcher Seite stehst du eigentlich?
Nicht auf deiner.
Ok. OKAY. Langsam gehen mir die Ideen aus.
Nicht mein Fehler
Sei ruhig. Anfang, Anfang. Aaaaaaaaan-faaaang. Fischen? Nee, zu weit gedacht. Aller Anfang wird schwer. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Betriebsausbildung!
Hui, spannend
„Am Anfang schuf Gott Frau und Mann“
Nicht abschreiben.
Menno, das fällt doch eh keinem auf.
Genau sind alles Idioten, die keine Ahnung von Basiswissen über die verdammte Bibel haben. Nicht wie du, der nie Religionsunterricht hatte…
„Am Anfang war das Wort, hier stock ich schon, wer hilft mir weiter fort“
NICHT ABSCHREIBEN.
Das wäre doch nun wirklich keinem aufgefallen.
Du hältst auch alle anderen außer dir für blöd oder?
Nun, ja.
Jetzt schreib was eigenes, und nicht Goethe
Mir fehlt die Eingebung.
Dann denk nach. Du Megahirn.
Selbst Komplimente klingen bei dir wie Beleidigungen
Das war auch kein Kompliment
Arg… Denk. Los, denk! Irgendwas. Krieg! Ah, nein, hat jeder schon genug von gelesen. Auswanderung! Aktuelles Thema,
Und damit eine Mine. DU WILLST GEWINNEN; nicht vergessen.
Jetzt red‘ mir doch nicht alles madig. Dabei fällt mir ein, ich muss noch einkaufen.
Musst du nicht.
Doch, fürs Abendbrot
Jetzt lenk dich nicht ab und bleib bei der Sache. Auf dem Herd steht noch der Eintopf von Gestern, dauert 10 min den warm zu machen, dafür musst du nichts vorbereiten. Jetzt schreib!
Was denn?
Was weiß ich, schreib irgendwas. Etwas das die Meute erfreut.
Aber ich guck auf andere hinab, schon klar.
Hab ich nie gesagt. Schreib!
Schon klar. … Genforschung. „ Wir stehen zwar noch ganz am Anfang dieser Technologie, aber es ist möglich perfekte Menschen zu erschaffen! Können sie sich das vorstellen? Bald wird unsere Zivilisation aus Göttern bestehen“
Das ist doch Schwachsinn, ganz großer Schwachsinn.
Halt‘s Maul. „ Aber was wird aus den Menschen die hier schon leben, was wird aus denen die keine Götter sind?“
Murks, Humbug. Scheiße! Hör auf!
Wieso, ich soll doch schreiben!?
Ja was gutes, nicht so ne 08/15 Sci-fi-Scheiße.
Also ich fand‘s gut, hatte Potenzial.
Du fandst es nicht gut. Jeden Film der so beginnen würde, würdest du zerreißen.
Aber das ist kein Film
Na dann, sobald es ein Film wird, ändern sich ja auch Storyinhalte und Ansprüche völlig. Was ein Schmarn.
Kannst du bitte mit diesen Anglizismen aufhören, die mag ich nicht und du weißt das.
Du magst auch keine billigen Geschichten und trotzdem wolltest du gerade eine schreiben.
Was willst du eigentlich von mir?
Das du eine gute Geschichte schreibst.
Du verhinderst doch alle Ansätze dafür.
Ich helfe dir doch nur.
Du hinderst mich. Dauernd fällst du in meine Denkprozesse, ich kann ja keinen klaren
Ich interveniere nur rechtzeitig;, ich weiß, wo dieses und jenes bei dir hinführt.
Hau ab, lass mich in Ruhe was schreiben!
Das geht nicht und du weißt das.
„Anem coruptum pacetiles correcto.“
Schreib was in UNSERER Sprache. Oder wenigstens EINE Sprache, das da ist doch Murks, das weißt du. Du willst mich doch nur ärgern.
Ja vielleicht gehst du ja dann.
Niemals!
Ich geh jetzt einkaufen.
DU BLEIBST UND SCHREIBST
Leck mich. Wer bist du, dass du meinst, mich so kommandieren zu können?
???
Was soll das jetzt? Das ist doch völlig unlogisch.
Wieso ich war verwirrt, du weißt wieso ich dich kommandieren kann.
Ich meinte die drei Fragenzeichen.
Wie gesagt ich war verwirrt
Dann sollte das in einen Erzähltext stehen „ Er war verwirrt“ und nicht so Pseudo-Internet-Slang
Achtung Anglizismus
Fick dich. Lass mich in Ruhe
Dann schreib jetzt endlich.
Ich bin doch längst fertig.

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Die Masse

Die Masse bildete eine durchschnittlich ca. 3,2 Lichtjahre dicke Schicht um Station-NullminusZweiundzwanzigtausend. Was dahinter war, wurde noch immer von keinem einzigen eintreffenden Datenpaket auch nur ansatzweise beschrieben. Heirnar vermutete, es musste dahinter unzählige weitere Räume geben. Sicherlich anders als die in NullminusZweiundzwanzigtausend, aber doch Räume. Etwas anderes als Räume hatte Heirnar nie kennengelernt. Die Zivilräume der Station waren in einer Kugel mit 100 Metern Radius. Wann immer die Schwerkraft der Masse in eine andere Richtung schwankte, drehte sich diese Kugel mit. Den autonomen Bereich musste er nur in Ausnahmefällen begutachten, dabei sah er selten viel, bislang nie etwas anderes als Räume. Sein Blick wanderte wieder übers Datum am Rand des Bildschirms. Schon 18:37. Zeit für die nächste Lieferung. Und was sah er da? Er war jetzt seit 233.176.000 Tagen hier. Zeit zum Feiern…
Er drehte mit dem Stuhl vom Pult, da merkte er, dass sein rechter Arm sich nicht rührte. Und mit einer dunkelroten, stellenweise schwarzen Masse überwachsen war. Neugierig begutachtete er das Objekt. Auf der Rückseite war es von einem schwachen Flaum von weißen Härchen bedeckt, dazu wucherten aus einer Stelle ziemlich lange, dicke, dichtere, weiße Haare. Er zog. Ein Teil der Masse glibberte, wackelte mit, der Rest schien eine harte Schale zu bilden, hielt ihn fest im Griff. Er zog fester. Kein Erfolg. Dafür zeigte sich plötzlich ein kleines Ärmchen, das sich unter dem dichten Büschel Haare versteckt hatte. Es bewegte sich ein wenig in der Luft herum, langsam, ziellos. Heirnar beobachtete es kurz. Dann packte er es, zog mit aller Kraft, bis es ab war. Aus der Wunde an der Masse strömten sofort einige kleine rosa Würmchen, die wild umherwuselten, und sich ineinander verknoteten. Sollte wohl die Wunde stopfen. Das kleine Ärmchen, das aus Chitin zu bestehen schien, warf er von sich, dann stemmte er sich mit dem Fuß gegen das Pult und zog mit aller Kraft. Es gelang. Der Unterarm blieb jedoch im Glibber stecken.
Sein Arm hatte den Stress bemerkt und sicherheitshalber einfach abgekoppelt. Jetzt blieb ihm rechts nur noch ein metallisch glänzender Stumpf.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der große, rechte Bildschirm über dem Pult auch bedeckt war von dem Zeug, dunkelrot, teils schwarz, an einigen Stellen Haare, viele waren weiß, andere zumindest sehr hell und blass, und drei Arme wedelten wild um sich. Einer war eher ein Tentakel, oder eine Mischung aus Krebsarm und Tentakel. Er schnappte nach den rosa Würmchen, die noch immer zum Teil aus der Wunde am anderen matschigen Etwas sprangen, und verfolgte so ihren Ursprung zurück, wo er sich offenbar ankoppelte. Oder er fraß einfach nur die Würmer.
Warum hatte er keine Warnmeldung erhalten? Die Masse durfte nicht mal ansatzweise so weit in die Station gelangen! Er musste das Leck finden. Und sich um seinen Arm kümmern. Der Arm ging vor. Also desinfizieren. In der Schaltzentrale ging das nur manuell. Also einen Kanister. Dritte Tür rechts, zweite Oben, dann erste links.
Der Gang sah komplett steril aus, wie üblich. War das Zeug durch die Verkabelung gewandert? Dann käme jede Menge Arbeit auf ihn zu…
Während er nach oben klettern wollte, bemerkte er gerade noch an der Wand, an deren Leiter er sich hielt, eine merkwürdige Musterung. Das weiß war nicht eintönig. Er zoomte näher heran, bis er es erkannte: Die Oberfläche war mit einer haarigen, dünnen Schicht überzogen. Selbst die blauen Streifen waren bedeckt, nur eben in blau. Wäre er zum ekel fähig, hätte er sich wahrscheinlich übergeben. Er musste weitermachen, also kletterte er weiter, wo sein Kopf von einem Gewüllst umschlungen wurde, welches mit einer knochigen, in die Wände gekrallten Struktur verwachsen war. Das Gewüllst ignorierte Heirnars Schläge, stattdessen dehnte es sich erstaunlich schnell über dessen Körper aus, indem es sich erst über ihn voransiffte, um sich dann hintenrum zu verfestigen. Und gleichzeitig quetschte es Heirnars Oberkörper immer mehr ein, wie eine Dose. Tatsächlich spritzte nun auch überall sein durchsichtiges Blut aus den aufgeplatzten Stellen. Heirnars Arm schlug nur noch spastisch in der Luft umher, so wie das kleine Ärmchen, das er eben noch von seinem -Torso? abgezogen hatte. Eine knöcherne Struktur war wohl aus dem Maul des Gewüllstes in Heirnars Körper eingeführt wurden, die sich nun entzweite und seine Leiche mit sich in zwei Hälften riss.
Heirnar riss die Augen auf. Wie viel Zeit? Er schlug an die Wand neben sich, der Computer reagierte und fuhr einen kleinen Bildschirm aus der Wand. An der unteren Ecke des orange blinkenden Bildes erschienen die Daten 21:42. Die Lieferungen mussten sich bereits stauen!
Er hatte keine Zeit, seine Primärfunktionen zu testen, stattdessen stieg er einfach aus dem Wandabschnitt, stolperte, und legte sich aufs metallische Maul. Sein linker Arm fuchtelte irgendwie am Boden herum, was ihn zwar auch ein wenig hochhiefte, aber mit Aufstehen hatte das nichts gemeinsam. Der rechte Arm konnte kontrolliert werden, allein reichte das aber nicht, um in die aufrechte Lage zu gelangen. Heirnar drückte den Rücken durch, bevor dieser durchschlagen wurde von einem –Knie? Einer Keule, die aber offenbar auch als eine Art Knie diente. Man hätte das schwer einschätzen können, denn das Ungetüm schien sich eher an den Wänden festzuhalten, anstatt sich direkt auf den Boden zu stützen. Umso kontrollierter konnte es Heirnars Rücken wie eine Hummerschale knacken. Und mit dem letzten, die meiste Kraft aufbringenden Ruck, auch seinen Kopf zermatschen.
Heirnar durchschlug einfach im ersten Moment, in dem er wusste, dass er einen neuen Körper kontrollierte, die Wand, hinter der dieser gelagert wurde. Es klappte. Dann schaute er sich erst kurz um, sah seine Leiche, checkte doch erst all seine Funktionen durch und ließ sich auf einem weiteren, rot leuchtenden Bildschirm die gesamten Kameras anzeigen. Schwarze Bildschirme deutete er einfach als vollkommen unbegehbar. Blieben noch
Er hatte kaum eine Chance, heil zur Schaltzentrale zu gelangen. Also blieb immer noch nur manuelle Desinfektion. Der nächste Kanister war
Einmal nach unten, dann dritter Gang rechts und immer geradeaus. Laut den Bildschirmen war es in der Etage unter ihm nicht frei von den Auswüchsen der Masse, aber auch nicht übersäht.
Er sprang also ins nächste Loch, schaute sich blitzschnell um, dachte schon einen kurzen Moment, er hätte etwas hinter sich gesehen, aber es war nur seine Paranoia. Er war fast da, also rannte er. Und schaffte es um die letzte Kurve. Nur sah er dort bereits etwas sehr großes, das auf ihn zukam. Es sah aus wie eine Wurst, die durch rhythmische Bewegungen durch den Gang hüpfte. Und an dem Ende, dass Heirnar sehen konnte, ragte irgendein kleines, vielleicht eine Art Kopf heraus.
Aber egal, er musste daran vorbei. Je länger er mit dem Vieh zu tun hatte, desto gefährlicher, also beschloss er, zu versuchen, über es hinwegzuspringen. Er lief los, versuchte, irgendwie in den wenigen Augenblicken ein Muster in den spastischen Bewegungen der Wurst zu erkennen, scheiterte dabei, ignorierte es, und sprang mit aller kybernetischen Kraft, die er in den Beinen hatte.
Die Wurst entfaltete sich. Das kleine Organ war tatsächlich der Kopf, ihre Pelle zog sich zum anderen Ende hin ab und entblößte eine Art Riesen-Spinnen-Tausendfüßler, der mit einer enormen Geschwindigkeit gleich 3 oder 4 Beine direkt auf Heirnars Fuß zuschleuderte. Es packte ihn zwar nicht, brachte ihn aber dazu, wieder einmal voll aufs Gesicht zu fliegen. Das Vieh schlug nochmal mit einigen seiner Beine zu, wuchtete sich quasi selbst auf ihn, Heirnar boxte in die Wand, riss sie bei der Rückwärtsbewegung der Faust aus ihrer Fassung, und als er merkte, dass das Vieh sich bereits in seine Beine gekrallt hatte, hielt er sich einfach mit aller Kraft an der Öffnung fest, und zog sich vorwärts. Das Vieh hatte aber nun mal etwa zwei Dutzend Arme. Und die fuhren nun alle auf seinen Rücken ein. Schmerz gab es in Heirnars Bewusstsein nicht. Also blieb ihm eine riskante Lösung:
Er ließ sich fassen.
Es schlug immer weiter, bis so gut wie all seine Klauen in seinem Körper steckten.
Überleben konnte Heirnar das, solange er nur bald etwas dagegen tat. Das Wesen hielt sich mit kaum einem Bein mehr an etwas anderem als ihm selbst fest. Also zog er es langsam aber sich mit sich, während es seinen Rücken weiter aufriss. Er griff hoch an dem Fach in der Wand. Packte einen Schlauch. Zog. Der Schlauch war lang. Bekam endlich den Griff mit der Drüse zu fassen. Gab sich Mühe, damit nun erstmal punktgenau auf den Torso der Riesenspinnentausendfüßlerwurst zu zielen.
Nachdem er abgedrückt hatte, schlugen die dünnen Arme fuchsteufelswild in alle Richtungen, wodurch sie Heinrars Bauch ziemlich stark aufrissen, und manch einen brauchbaren Teil von ihm zerfetzten, aber die Wurst war eindeutig weitaus schlechter dran.
Nachdem Heirnar aufgestanden war, griff er sich den gesamten Kanister mit der Chemikalie, und rannte los.
Er musste zur Schaltzentrale gelangen.
Langer Rede kurzer Sinn: Mit der Chemikalie war das gar kein Problem.
Und in der Schaltzentrale musste er nur die automatische Desinfizierung einschalten. Das sollte dann auf alle notwendigen Bereiche einwirken.
Tat es aber nicht: Nachdem die meisten Kameras wieder brauchbare Bilder zeigten, wurde offenbar, dass einige Räume im autonomen Bereich eben nicht gesäubert wurden. Unter anderem Minuszweiundzwanzigtausend, der Aufzug.
In solchen Momenten hätte er sich Mitarbeiter gewünscht.
Fassen wir uns wieder kurz:
Mit der Chemikalie schaffte Heirnar es auch bis in den autonomen Bereich.
Ohne Schwerkraft war es jedoch schwer, gezielt auf alles zu reagieren, was ihm dort vor die Drüse kam. Kurz vor dem Zugangsbereich zwischen der Schleuse der Anlieferung und dem Aufzug nach Minuszweiundzwanzigtausend schwebte ihn ein langer, dicker Wurm an, etwa so wie eine Anakonda. Er griff Heirnars rechten Arm, den mit der Drüse, Heirnar schlug mit der linken zu, da entzwirbelte sich das dicke Ding plötzlich in eine Art überlanger Bandwurm, der überall in Heirnars Blickfeld umherwirbelte, und sich plötzlich wieder VERzwirbelte. Heirnars linke Faust war nun eingewickelt. Und wurde völlig zerquetscht. Transparentes Blut schoss aus seinem Armgelenk. Heirnar drückte ab. Die Chemikale tat ihr Übriges, aber die Hand war weg, und den Kanister hatte der Wurm nebenbei auch irgendwie gelöst. Er flog auf das Wesen hinter Heirnar zu.
Als Heirnar es bemerkte, kam es bereits auf ihn zugeschwebt, also trat er nach ihm. Ein Fuß ging in das Gesicht, der andere wurde von einer verkrüppelten Hand gepackt. Heirnar wurde zum Tor zum Aufzug mitgetrieben. Prallte gegen die Wand hinter sich, aktivierte ungewollt die Schleuse. Da bemerkte er beim Umsehen, was das für ein Wesen war.
Es sah aus wie eine dilettantisch konstruierte Kopie humanoider Anatomie: Die Nase war nur ein krummer Knochen, die Augen waren, wenn auch in nur zwei Augenhöhlen, zu viert. Seine Unterarme waren jeweils durch zwei dicke, wurmartige Oberarme mit dem Torso verbunden. Aber im Groben und Ganzen…
Heirnar musste schon oft die Auswüchse der Masse im autonomen Bereich entsorgen, war schon vielen schleimigen Konstrunktionen begegnet, hatte auch schon vielen in die Augen gesehen. Hatten sie ihn erkannt? Wollte die Masse… wie er sein?
Das Wesen erblickte durch die offene Schleuse den Würfelförmigen Aufzug im Zentrum des Raums, stieß sich von Heirnar ab, direkt darauf zu. Heirnar blieb keine Wahl: Die Masse durfte auf gar keinen Fall in den Aufzug. Wohin führte der eigentlich? Er war immerhin nur ein isolierter Würfel. Fragte er sich in dem unkontrollierbaren, ausgedehnten Moment, in dem er nur hinterherschwebte. Dann packte er den Fuß des Wesens. „Lass!“ grunzte es. Heirnar hätte vor Überraschung fast gehorcht. Es drückte mit der krüppeligen Hand die Konsole, öffnete den Aufzug, dann schwang es sich und, dank enormer Kraft, kollateral auch Heirnar hinein, mit Wucht gegen die Rückwand. „Heim.“ keuchte es, drückte wieder die Konsole, die Tür schoss zu.
Heirnars letztes Blut strömte, er war bewegungsunfähig. Die Anzeige über der Konsole sprang von 233.176.000 auf -8.030.000. Die Tür öffnete sich wieder. Heirnar wurde geblendet, dann sah er zum ersten Mal etwas anderes als einen Raum:
Ein großer Platz inmitten einer Stadt. Weit entfernte Berge, Gigantische Pflanzen zwischen Gebäuden, der Himmel. Das Wesen erkannte diesen Ort offenbar wieder, Freude war selbst an ihm mehr als deutlich abzulesen. Es hob den Arm, als wollte es von hier aus berühren, was es sah. Dann flüsterte es voll innerem Frieden: „Anfang.“

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“Du weißt schon wo?”

Voller Freude starrte sie auf ihr Handy. Das war die lang erwartete Nachricht von ihm! Sie hatten sich vor ein paar Tagen bereits getroffen und er hatte versprochen, sich bei ihr zu melden. Er hatte ein paar Tage gebraucht, aber das war jetzt alles egal. Sie öffnete die Nachricht und las die knappen Worte. Er schlug ihr ein Treffen an dem gleichen Ort wie immer vor und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Es war nicht das erste Mal, das sie beide sich allein treffen würden, aber trotzdem konnte sie sich noch immer nicht daran gewöhnen, dass dieser Junge sich mit ihr treffen wollte. Sie antwortete sofort.
Wirkt das nicht schon verzweifelt?, fragte sie sich selbst, jedoch ohne eine Antwort zu bekommen. Außerdem, was soll‘s? Er weiß doch ohnehin, dass ich auf ihn stehe. Sie schüttelte den Kopf und begann sich umzuziehen, bevor sie aufbrechen würde.
__
Er hatte sich ein paar Tage Zeit gelassen. Er hatte überlegt, hatte gezweifelt, aber am Schluss hatte er es doch getan. Er schrieb ihr nur: Wollen wir uns treffen? Du weißt schon wo?
Keine lange Nachricht, doch es würde ausreichen.
Sie würden über ihre Beziehung sprechen müssen, wenn man es denn so nennen konnte. Er hatte mit seinen Freunden darüber gesprochen, aber auch die waren sich nicht einig, wie man ihr Verhältnis nennen sollte. Er wollte heute Nägel mit Köpfen machen. Seine Freunde, die eine Freundin hatten, hatten ihm erzählt, wie es in ihren Beziehungen läuft, wie wunderbar es war, nicht allein zu sein… Immer jemanden zum reden zu haben… Und - um ehrlich zu sein, sie war schon sehr hübsch. Er schob die Gedanken daran beiseite, er musste einen klaren Kopf bewahren.
Sie schrieb ihm sofort zurück und er nickte kurz mit einem Lächeln im Mundwinkel. Das Treffen stand.
__
Voller Vorfreude machte sie sich auf den Weg und schloss die Haustür hinter sich, nicht ohne ihrer Mutter zu zurufen, dass sie schon auf sich aufpassen werde. Ihrer Mutter hatte sie noch nichts von diesem Jungen erzählt, es war ihr auch irgendwie peinlich. Er würde ihr erster Freund sein und sie hatte von ihren Freundinnen erzählt bekommen, dass Mütter dann besonders sensibel und peinlich wurden. Das wollte sie zumindest noch etwas länger hinaus zögern. Sie war sich sicher, dass sie sich heute küssen würden. Warum sonst hätte er sie an den Ort bringen wollen, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten? Vor zwei Wochen waren sie nur durch den Park gelaufen und hatten sich über Schule und Sport unterhalten, sie hatten stundenlang auf der Parkbank gesessen und sie hatte sich in jeder Sekunde gefragt, ob er wollte, dass sie nach seiner Hand griff.
Aber er soll nach meiner Hand greifen!, hatte sie sich damals immer wieder gesagt. Es ist sein Job, ich bin doch auch zu schüchtern! Was er gar nicht will?
Diese Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen und so ließ sie ihre eigene Hand ruhig auf der Bank liegen… zwischen ihnen … sodass er nach ihr greifen könnte, wenn er wollte.
__
Als er die hölzerne Bank erreichte, dachte er zurück an das erste Mal, dass er hier war. Sie waren eine lange Zeit durch diesen Park gelaufen und waren wieder hier hin zurückgekehrt, als sie dachten, sie würden sich verlaufen, wenn sie weiter gingen. Er erinnerte sich, dass sie ihre Hand immer auffällig unauffällig zwischen ihnen hatte liegen lassen, aber er hatte sich nicht getraut. Weder sie zu berühren, noch nach der Hand zu greifen.
Heute wird es anders sein!, dachte er mit einem flauen Gefühl im Magen. Er hatte sich etwas vorgenommen und das würde er auch heute durchziehen. Er atmete tief durch und sah auf seine Uhr. Er war viel zu früh.
Auch bei ihrem ersten Treffen war er lange vor ihr dagewesen und rastlos auf und ab gelaufen, er hatte immer wieder auf sein Handy gesehen, ob sie ihm doch abgesagt hatte. Doch heute setzte er sich auf die Bank, überschlug die Beine und griff in seiner Tasche nach einem Buch. Er schlug es auf und begann zu lesen.
__
Nervös strich sie sich durch die Haare. Sie war schon ein paar Minuten zu spät.
15 um genau zu sein!, ärgerte sie sich, als sie mit schnellen Schritten über den Kiesweg ging. Dank ihrer offenen Sandalen hatte sie länger gebraucht, als sie erwartet hatte. Und obwohl sie sehr vorsichtig ging, war sie wiederholt auf Steine getreten und hatte zusammen zucken müssen.
Aber die Schuhe sind nun einmal die schönsten!, erinnerte sie sich an den Grund, sie ausgewählt zu haben. Sie ging weiter und sah hinter einer Kurve schon die Parkbank, auf der ein einzelner Hinterkopf saß, der leicht nach vorn gebeugt war. Sie ging weiter auf die Bank zu und sprach ihn an, als sie grade auf seiner Höhe war. Sie sah, wie er lächelte und das Buch wieder in seine Tasche packte. Er deute auf den Platz neben sich und sie setzte sich. Das würde ein schöner Tag werden.

Zeitsprung

Das hatte sie sprachlos werden lassen. Dieser Kuss, ihr erster, hatte sie wirklich sprachlos werden lassen. Sie kam sich schon fast lächerlich vor, wie ihr Körper, überflutet von Hormonen, nicht reagieren konnte.
Wie im Film!, dachte sie. So, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Schöner, als die Vorstellung seine Hand zu halten, schöner als in seine Augen zu sehen. Sie zitterte am ganzen Körper. Das war das Adrenalin, davon hatten ihre Freundinnen erzählt. Aber sie hatte nicht gedacht, dass es so heftig wirken würde. Sie wollte nichts lieber, als diese Lippen noch einmal zu berühren, sein Gesicht noch einmal ganz nah an ihrem zu wissen, die Wärme seiner Wangen zu spüren und dieses Glücksgefühl auf immer und ewig zu erhalten. Doch er zog seinen Kopf ein wenig zurück und sah sie an.
„Was denkst du?“, fragte er.
__
„Was denkst du?“, fragte er mit einem unsicheren Unterton in der Stimme, als er sah, dass sie völlig entrückt war. Er hatte erwartet, eine Reaktion zu bekommen, dafür war er doch hier. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie nur zitternd neben ihm saß, die Augen starr, weit aufgerissen, auf ihn gerichtet, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich schluckte sie laut hörbar und atmete tief durch.
Er konnte förmlich sehen, wie sie all ihren Mut, all ihre Stärke zusammen nahm und ihm eine schallende Ohrfeige verpasste.
Als er nach kurzer Zeit seine Augen wieder öffnete, sah er nur noch die Abdrücke ihrer Stiefel im tiefen Schnee.

ENDE

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Sonnenvogel

„… ASKO … BRZZZZ … KR … KRZZ … HILF …“ Ein letztes lautes Knacken, dann sickert nur noch das weiße Rauschen des Äthers aus den Lautsprechern. Mit versteinerten Mienen sehen sich die Besatzungsmitglieder an, während das tote Knistern die Stille zwischen ihnen erfüllt. Es dauert lange, bis sich einer von ihnen dazu aufraffen kann, das Funkgerät auszuschalten.

„… nein, Frau Minister. Ich kann ihnen nicht sagen, was das zu bedeuten hat.“
„ Wofür habe ich ihrem Institut seit Jahren diese horrenden Forschungsgelder bewilligt?!“
Entnervt wendet sich Verteidigungsministerin Erika Haambach von der ungepflegten Gestalt Doktor Adrichs ab, dessen blutunterlaufene Augen hektisch über die Unterlagen in seinen Händen huschen, um in den Datenkolonnen und Diagrammen womöglich doch eine Antwort zu finden. Die engbedruckten Seiten sind im Dämmerlicht des Raums kaum zu entziffern, aber etwas Brauchbares steht ohnehin nicht darauf, das weiß der Arzt.
Das Kostüm der Ministerin raschelt leise, als sie an das Sichtfenster tritt, das fast die gesamte Wand des schallisolierten Beobachtungszimmers einnimmt, und die Hände hinter dem kerzengeraden Rücken verschränkt. Finster starrt sie in den schmerzhaft hellen Raum auf der anderen Seite.
Der ratlose Arzt stellt sich neben sie; seine gesamte Erscheinung kündet von fieberhafter Arbeit und zahlreichen schlaflosen, aber unergiebigen Stunden im Labor. Eine Wolke fauligen Kaffeeatems wabert zur Ministerin herüber, als er zu einem weiteren Erklärungsversuch ansetzt, doch eine brüske Handbewegung lässt ihn verstummen.
„Ihr Institut produziert im Minutentakt neue Theorien - eine abstruser als die andere. Wegen ihrer Unfähigkeit muss ich nun die anderen Länder informieren. Meine Geduld ist am Ende“, die Wirkung ihrer Worte ist vernichtend. Wie eine Ballonfigur, der die Luft entweicht, sinkt der Mann in sich zusammen und lehnt sich entkräftet nach vorn, bis seine Stirn die kühle Scheibe des Einwegspiegels berührt.
„Ich frage sie noch mal: Womit haben wir es zu tun?“
Der Verstand des Institutsleiters ist ebenso ausgelaugt wie sein Körper, sodass er das schwache Zittern in der Stimme der Ministerin nicht bemerkt - ein leichter Deut der Gefühle, die sie ebenso quälen müssen wie ihn. Seine Hand erzeugt fettige Schlieren, als er sie auf das Glas legt und müde in das Untersuchungszimmer auf der anderen Seite blickt.
„Ich weiß es nicht“, flüstert er und gibt damit der schrecklichen, hilflos machenden Erkenntnis nach, die er seit Tagen zu verdrängen sucht. „Ich weiß es einfach nicht.“

Kommandant Semjon Sergejewitsch Krasko braucht lange, bis er den Hörer aus der Hand legen kann. Mit einem tiefen Seufzer lehnt er sich in seinem knarzenden Sessel zurück und starrt mit leerem Blick an die graue Betondecke seines winzigen, spartanisch eingerichteten Büros. Die große Uhr an der Wand klickt metallisch, während die Minuten dahinziehen und erst langsam findet der ehemalige Sicherheitsoffizier der ISS zurück aus seinen dahinrasenden Gedanken.
Er öffnet die unterste Schublade seines Schreibtischs und entnimmt ihr eine Flasche Cognac, ein Glas und eine Mappe. Er genehmigt sich einen großen Schluck direkt aus der Flasche, bevor er sich zwei Fingerbreit einschenkt und sich dem Bildschirm zuwendet, über dessen hellblauen Hintergrund das rot-graue Logo der Weltraumorganisation Roskosmos wandert.
Ein Klick lässt den Bildschirmschoner verschwinden und Krasko meldet sich mit seinem Passwort an, um die Daten einzusehen, die ihm das Büro des Direktors geschickt hat. Der Direktor selbst hatte ihm am Telefon die Fakten mitgeteilt, die die Deutschen ihnen vor wenigen Stunden hatten zukommen lassen.
Der ehemalige Kosmonaut öffnet den neuen Ordner, überfliegt den Bericht und wendet sich dann den beigefügten Bilddateien zu. Eine leicht unscharfe Darstellung erfüllt den Monitor und zeigt eine Szenerie, die von einem Kriegsschauplatz stammen könnte.
Trümmerteile, die mit brachialer Gewalt aus einem Haus gerissen worden sind, umranden einen schätzungsweise zehn Meter tiefen Krater. Hinter den Trümmern steigen Rauch- und Aschewolken auf, die von unten schmutzig-orange angeleuchtet werden. In seiner Zeit beim Militär hat er dutzende Bombenkrater gesehen – er kann sich die Situation vor Ort vorstellen.
Aber nicht die Zerstörung ist es, was Krasko einen großen Schluck trinken lässt.
Mitten im Krater steht die bleiche Gestalt einer jungen Frau. Ihr Kopf, bedächtig zur Seite gelegt, wird von den zertrümmerten Resten eines ehemals weißen, aber nun grau-verkohlten Helms umschlossen. Fetzen, die einstmals zu einer Art Anzug gehört haben müssen, hängen von ihrem Körper; die Hand, die sanft auf den Bauch gelegt ist, wird immer noch von einem klobigen Handschuh umhüllt. Ihr Schamhaar ist mit einer geschmolzenen, schwarzen Substanz verklebt und ihre Füße stecken in verformten, halb zerschmolzenen Klumpen, bei denen es sich mal um Schuhe gehandelt haben muss. Das Visier des Helms ist zersplittert, sodass man das Gesicht sehen kann: Eine friedliche Miene vollkommener Ruhe; die Augen geschlossen, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Kleine Rauchfahnen steigen unter dem Helm hervor und verlieren sich in den umherwabernden Aschewolken.
Krasko schlägt die Mappe auf und entnimmt ihr ein Foto. Seitdem er diese Mappe angelegt hat, hat er sie regelmäßig hervorgeholt und über ihrem Inhalt gebrütet, ohne je eine Antwort auf die ihn quälenden Fragen gefunden zu haben.
Das Foto zeigt das Gesicht einer jungen Frau: es ist offensichtlich der vergrößerte Ausschnitt eines Gruppenfotos, da ihr Kopf und die Schulterpartie von den Schultern zweier größerer Personen umrahmt werden, deren Gesichter man aber nicht erkennen kann. Alle tragen die selbe Uniform.
Der Kommandant hält das Bild neben die Darstellung auf dem Monitor und mustert sie eingehend. Als er es endlich erkennt, greift er hastig nach dem Glas, stößt es dabei um und bespritzt die vor ihm ausgebreiteten Unterlagen.
Ohne sich um die aufweichenden Unterlagen zu kümmern, wählt er hektisch die Nummer des Direktors und ist kurz darauf mit ihm verbunden.
„Sie ist es“, sagt er aufgeregt und mit belegter Stimme. „Ich kann sie identifizieren, die Deutschen haben nicht gelogen. Es ist die Ingenieurin, die ich vor achtzehn Monaten während eines Weltraumspaziergangs verloren habe … richtig, Herr Direktor, aufgrund einer defekten Sicherungsleine, wie im Bericht vermerkt. Bei der Person im Krater handelt es sich zweifellos um Charlotte Wolf.“

„Der Zeitraum zwischen dem Eintritt in die Atmosphäre und dem Aufschlag ist zu lang, als dass man von einem freien Fall ausgehen könnte. Hierfür sprechen auch die Spuren an der Aufschlagstelle – bei einem Aufprall mit achtfacher Schallgeschwindigkeit hätte es ein erheblich größeres Maß an Zerstörung geben müssen. Anhand der Bilder und den Berichten der Deutschen wissen wir aber, dass dem nicht so war. Dies lässt zweierlei Schlüsse zu: die ganze Geschichte wurde entweder fingiert, oder der Aufschlag erfolgte mit einer bedeutend geringeren Geschwindigkeit“, damit schließt Dr. Julius Rapport seine Ausführungen.
„Wollen sie uns damit sagen“, meldet sich ein breitgesichtiger Herr zu Wort und schnaubt dabei verächtlich „dass diese Frau ihren freien Fall aus über 400 Kilometern Höhe selbstständig verlangsamt haben könnte? Und wie erklären sie es sich, dass sie den Aufprall nahezu unbeschadet überstanden hat?“ Kopfschüttelnd wuchtet der Mann seinen massigen Körper aus dem Stuhl und macht Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
„Ich kann ihnen darauf keine Antwort geben, Vize-Direktor LeBon“, erwidert Dr. Rapport eisig. „Ich bin Physiker und kein Hellseher. Die Schlüsse die ich ziehen kann, sind nur so gut wie die mir vorliegenden Daten. Wenn sie wirklich wissen wollen, was passiert ist, fliegen sie nach Rostock und fragen sie die Frau selbst.“
Der Vize-Direktor der europäischen Raumfahrtbehörde wendet sich ab und schlägt mit einem Knall die Tür des Konferenzraums hinter sich zu.

Unweit von Rostock, in den Räumlichkeiten des IBR, tritt Sofie Kindler in das Zimmer B-73 und wartet, bis sich die automatische Tür hinter ihr geschlossen hat. Ein metallisches Pochen ertönt, als der Wachmann ihr durch Klopfen bedeutet, dass er seinen Posten draußen im Gang bezogen hat. Erst dann wendet sich die Psychologin der Frau zu, die von ihrer Gummimatratze hinauf zu der gläsernen Halbkugel der Überwachungskamera starrt.
„Guten Morgen, Frau Hennig. Wie geht es ihnen“, sagt sie mit sanfter Stimme und nimmt auf dem bereitgestellten Stuhl platz. Sie holt ein Diktiergerät hervor, legt es auf den am Boden festgeschraubten Tisch und drückt den Aufnahmeknopf. Die Frau auf der Matratze wendet ihren Blick von der Kamera und richtet sich halb auf, wobei ihr einige Strähnen langen braunen Haares ins Gesicht fallen.
„Wann darf ich hier raus?“ sagt sie mit heiserer Stimme. Ihr Ausdruck ist seltsam entrückt, als würde sie ihre Umgebung nicht völlig wahrnehmen.
„Das weiß ich nicht“, antwortet die Psychologin wahrheitsgemäß. „Die Ergebnisse ihrer CT und der fMRT sind beunruhigend. Ihre Werte ähneln denen von Frau Wolf - sie müssen verstehen, dass uns das irritiert.“
„Ihre Bedenken interessiert mich nicht. Ich habe ihnen bereits gesagt, dass mir nicht das selbe passieren wird. Wann darf ich endlich raus? Es ist wichtig, ich muss da sein. Für sie da sein.“ Die Stimme der Frau ist leise und verliert sich zwischen den einzelnen Worten.
„Hat Frau Wolf ihnen das gesagt?“ Frau Kindler nimmt den Faden auf. „Sie hat lange mit ihnen gesprochen, nachdem sie ins Institut gebracht worden ist. Sie haben die Erstuntersuchung bei ihrer Ankunft durchgeführt. Was hat sie ihnen gesagt? Und wie ging es ihnen dabei?“
Frau Hennig setzt sich auf und blickt die Psychologin direkt an.
„Sie hat mir erzählt, was vor achtzehn Monaten im Weltraum geschehen ist. Was mit ihr geschehen ist.“
Frau Kindler beugt sich nach vorn und erwidert den Blick. „Was ist mit ihr geschehen?“
„Sie hat etwas erkannt. Etwas Elementares. Ihre Augen… sie waren so strahlend… Haben sie diese Augen gesehen? Nein, sonst müssten sie nicht fragen. Sie hat mich angesehen, so wie sie in die Sonne am Rand der Welt geschaut hat … Sie hat in den gläsernen Abgrund unserer Welt geblickt und gesehen, was aus uns werden kann. Wozu sie werden musste, als sich das Seil löste. Und sie hat es mit mir geteilt.“
Die Frau auf dem Stuhl schaut kurz hinauf zur Kamera, die jede ihrer Bewegungen beobachtet, dann konzentriert sie sich wieder auf Frau Hennig, deren stumpfe Lethargie zusehends nachlässt.
„Was hat sie mit ihnen geteilt?“ Die Psychologin merkt, wie angespannt sie klingt und räuspert sich. „War das der Grund, wieso sie fliehen wollten?“
„Als sie in die Sonne sah, ist etwas in ihr erwacht. Ein neues Feuer, das wärmt und nährt. Das aber auch einen Preis hat. Das ebenso gut verschlingen kann, was es eigentlich wärmen sollte.“
„Ist Frau Wolf verschlungen worden? Die letzten Messwerte zeigen, dass die Aktivität der unbekannten Hirnregionen schlagartig zunahm, und dann mit einem Mal nachließ. Danach waren nur noch geringe Potentiale im Metacortex zu verzeichnen. Glauben sie, dass ihnen das selbe widerfahren wird?“
Die Frau auf der Matratze schüttelt den Kopf. „Nein“, erwidert sie. „Sie konnte mir nur einen kleinen Teil geben. Ich werde niemals zu dem werden können, was aus ihr geworden ist. Zu was sie in den Monaten allein im All reifen musste, um zu überleben. Aber andere werden genauso werden wie sie, wenn die Zeit reif ist. Das hat sie uns mitgebracht.“
„Was hat sie uns mitgebracht?“

Wenig später verlässt Sofie Kindler das Zimmer B-73 und holt ihre Keycard hervor, tritt an eine weitere Tür und zieht sie durch den Schlitz des Lesegeräts daneben. Das Schloss entriegelt sich mit einem Klicken und sie betritt ein dunkles Zimmer, in dem ein unangenehmer Geruch liegt.
„Ist die Ministerin weg?“ fragt sie den ungepflegten Mann, der gedankenversunken vor einem Sichtfenster steht. Auf einem Monitor neben ihm flackern die Überwachungsbilder aus Zimmer B-73.
„Sie musste zu einem Meeting“, murmelt der Mann resigniert.
„Doktor Adrich, sie brauchen Ruhe.“ Besorgt legt die Psychologin eine Hand auf den Arm des Institutsleiters.
„Ich kann nicht. Ich gehe erst, wenn wir es wissen. Wenn wir wissen, wie sie so lange im Weltraum überleben und den Sturz, sowie die Explosion des Aufpralls unbeschadet überstehen konnte. Dr. Rapport hat unsere Schlussfolgerungen bezüglich der Fallgeschwindigkeit bestätigt … Es muss etwas mit ihrem Metacortex zu tun haben.“
Er tritt näher an den Einwegspiegel heran. „Wir müssen wissen, wieso sie in einem komplett isolierten Raum plötzlich in Flammen aufgegangen ist.“
Die Psychologin stellt sich neben ihn und blickt bestürzt in das angrenzende Zimmer.
„Und wir müssen wissen, wie sie nach achtzehn Monaten im All ein Kind zur Welt bringen konnte.“
Im Raum auf der anderen Seite liegt ein Säugling in einer Wiege und schläft.

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Hybris

Captain Theron stand im Kontrollraum seiner Fregatte, der Splitter, und betrachtete die Sterne auf den großen Hauptbildschirmen. Diverse Informationen wurden automatisch eingezeichnet, meistens die Namen wichtiger Sonnensysteme, Sprungvektoren und vielem anderen. Aber in diesem Fall war die Fülle an Daten eher durchwachsen.

Auf Befehl des Flottenkommandos hatten sie die erkundeten Gebiete weit hinter sich gelassen und waren nur noch einen Sprung von ihrem Ziel entfernt. Sie sollten ein Expeditionsschiff treffen und Daten austauschen. Verschlüsselte Daten, über die Theron nichts wusste. Er fragte sich, wieso die Republik überhaupt noch derartige Exkursionen unternahm.
Die Sternsysteme die sie bereits besiedelt hatten, besaßen Platz und Ressourcen im Überfluss.
Man musste es lediglich fördern und abtransportieren. Es ergab daher keinen Sinn in weiter entfernten Arealen der Galaxie nach irgendetwas zu suchen. Trotzdem hatte man Schiffe ausgesandt und Captain Theron hatte die – zu seinem eigenen Bedauern, ehrenvolle Aufgabe erhalten, die bisherigen Ergebnisse auf halber Strecke entgegennehmen zu dürfen.

Sein Navigator gab ihm ein kurzes Zeichen. Theron nickte knapp und schloss die Augen.
Die Sprungantriebe waren das Geheimnis hinter allem was die Menschheit in den letzten Jahrhunderten erreicht hatte. Damit konnte man unvorstellbar große Distanzen, für die man mit konventionellen Antrieben Jahrtausende gebraucht hätte, innerhalb eines Augenblicks zurücklegen. Der eigentliche Sprung ging mit einem eigenartigen Taubheitsgefühl einher, das sich von Händen und Füßen ausbreitete. Zudem wurde es für einen kurzen Moment extrem kalt. Es hieß man würde sich irgendwann daran gewöhnen, was er allerdings schon lange nicht mehr glaubte.
Als sich das unangenehme Kribbeln langsam aus seinen Gliedmaßen zurückzog, wusste er, dass der Sprung durchgeführt worden war. Er öffnete die Augen und betrachtete erneut die Bildschirme. Irgendwo sollten die Langstreckensensoren das Schiff finden und der Computer würde es ihnen zeigen.
Nach einer Minute erschien schließlich die Liveaufnahme eines Raumschiffes.
Therons Herz setzte einen Schlag aus. Das sogenannte Expeditionsschiff war viel größer, als er erwartet hatte. Dicke Panzerplatten waren auf seiner Hülle angebracht, aus der unzählige, lange Waffenrohre herausragten. Er erkannte die Schiffsklasse sofort als einen Zerstörer.
Sie trugen diesen Namen zurecht. Bereits das Gerücht, ein feindlicher Zerstörer sei in der Nähe, konnte die Moral einer größeren Flottille zunichte machen. Sie löschten innerhalb von Minuten ganze Verbände von Fregatten und Kreuzern aus. Aber dafür waren sie auch extrem teuer und damit selten. So eine Investition zu verlieren, konnte verheerend sein.
Und jetzt fand Theron so eines vor sich, mitten im nirgendwo. Zum Glück wurde der Zerstörer schnell über seinen Transponder als ein Verbündeter identifiziert – der Acheron –, was Therons Schreck nur wenig milderte. Zweifelsohne war es das Schiff, mit dem sie sich treffen sollten. Also sendeten sie ihre eigenen Codes um sich als Freund auszuweisen und warteten.
Doch es geschah nichts – niemand antwortete.
Nach einer Weile befahl er, sich der Acheron vorsichtig zu nähern. Sie fanden bald heraus, dass sie nur den Bruchteil der Energie maßen, der vorhanden sein müsste.
Es war ein Geisterschiff und so langsam wurde Theron schlecht, denn hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als die einzige Person an Bord zu fragen, die womöglich mehr wusste. Wie der Zufall es wollte, marschierte Sergeant Homados gerade in den Kontrollraum.

Zu Homados’ Verwunderung fand er eine ziemlich angespannte Atmosphäre vor. Der Captain schaute ihn schlecht gelaunt an und die Offiziere vermieden es, unnötige Geräusche zu verursachen. Er ließ sich davon nicht weiter beirren und trat neben den langsam in die Jahre kommenden Theron mit seinem grau meliertem Bart. Der deutete lediglich auf einen Bildschirm, auf dem ein Raumschiff mit der Bezeichnung Acheron zu sehen war.
“Was macht ein Zerstörer hier? Und dann auch noch die Acheron – sie ist nagelneu.”
“Das wollte ich Sie gerade fragen”, gab der Captain zurück. “Zudem sind anscheinend all ihre Reaktoren inaktiv.”
Natürlich wusste Mados mehr über die Mission, als der Captain. Allerdings waren auch ihm diese Umstände suspekt. Klar, er hatte ein Militärschiff erwartet, vielleicht sogar einen Flottenverband. Aber sicher keinen Zerstörer und dann auch noch das neue Flaggschiff der Republik. Zumal es noch überhaupt nicht fertiggestellt hätte sein sollen. Aber es gab dafür sicher eine plausible Erklärung.
“Sir, es passiert etwas”, meldete ein Unteroffizier, der sein Unbehagen nicht verstecken konnte. Und tatsächlich, als Mados noch einmal genauer hinsah, schien sich die Acheron zu bewegen. Nein, sie bewegte sich nicht. Sie fiel auseinander. Panzerplatten lösten sich und schwebten langsam davon, Stück für Stück zerlegte sie sich in ihre Einzelteile, ohne dass es einen Hinweis darauf gab, was dafür verantwortlich war.
“Was ist das?”, fragte der Captain entsetzt und wandte sich wütend an Mados. “Das ist unmöglich. Und wenn soetwas passiert, haben solche wie Sie damit zu tun.”
Natürlich, dachte er. Der Nephlim ist wieder schuld. Man beherrscht etwas Telekinese und schon ist man für alle unerklärlichen Dinge verantwortlich.
Bevor er eben so wütend antworten konnte, fiel das Licht aus. In einem geschlossenen Raum ging das mit absoluter Finsternis einher, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten mit den schwach fluoreszierenden Markierungen auszukommen. Dann schaltete sich die von Graphen–Akkus betriebene orange Notbeleuchtung ein.
“Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?”, rief der Captain immer noch sauer durch den Raum. “Werden wir angegriffen?”
“Es kommt von Innen, Sir. Etwas hat die Energieversorgung des Hauptcomputers unterbrochen, fast alle Systeme sind abgestürzt.”
Mados war klar, dass das kein Zufall war und wusste auch, dass der Captain die gleiche Rechnung machte.
“Lösen sie Kampfalarm aus. Jeder Winkel soll durchsucht werden. Ich will wissen wer oder was das verursacht hat. Und verlieren sie die Acheron nicht aus dem Auge!”
Dann funkelte er Homados an.
“Warum stehen Sie hier noch rum, Sergeant?”
“Wissen Sie was? Manchmal frage ich mich, wieso Sie in ihrem Alter immer noch nur Captain einer Fregatte sind”, stellte er belustigt fest.
Die Gesichtszüge des Mannes wurden etwas sanfter. “Ich bin nicht inkompetent, sondern meide lediglich das Risiko. Ich habe Familie und ein Zuhause, zu denen ich zurückkehren will, genau wie die meisten in meiner Mannschaft.”
Mados lächelte freundlich und verließ dann den Kontrollraum. Rührend und edel. Erbärmlich und feige. Er hatte seine Antwort erhalten.
Ihm war klar, wo er zu suchen hatte. Ein kurzer Funkspruch und sein Team würde Einsatzbereit auf ihn warten. Die Mannschaftsmitglieder die ihm auf den Gängen entgegen kamen, wichen rausch aus. Das war auf einem engen Raumschiff leichter gesagt als getan, aber sie wagten es nicht ihm im Weg zu stehen oder versehentlich anzustoßen.
Ja, versteckt euch. Womöglich verwandle ich euch noch in ein Insekt!

“Schicken Sie eine Sprungsonde los, direkt zum Flottenkommando. Alle Informationen die wir haben und bitten Sie um Verstärkung.”
Die Dinge liefen gewaltig aus dem Ruder, da war er sich sicher. Denn selbst der Sergeant schien nicht zu wissen, was vor sich ging, auch wenn er sich nichts anmerken lies
Diese verfluchten Nephlim, halten sich allesamt für etwas besseres. Er kannte nicht viele, aber das war ihm nur Recht. Dieser Homados reichte ihm. Er stolzierte immer durchs Schiff und man sah ihn nie ohne seine dunkel schattierte Rüstung. Meistens war er sogar bewaffnet.
Aber etwas gutes hatte es immerhin. Nephlim bekamen das Unmöglichste hin und behielten in den ausweglosesten Momenten einen kühlen Kopf.

“Hallo, Sergeant. Der Perimeter ist gesichert, allerdings wurde das Heck vollständig aufgegeben und abgeriegelt. Keine Einheit hinter den Schotts auf dieser Länge antwortet mehr.”
“Okay, dann gehen wir rein”, befahl Mados und entriegelte das Schott vor ihnen.
Sie schlossen es vorsorglich wieder hinter sich und bewegten sich rasch und mit erhobenen Gewehren vorwärts, Mados vorweg. Es war dunkel und sie leuchteten still in jede Ecke und durchsuchten jeden Raum auf ihrem Weg zum Rechenknoten. Als sie ihn fast erreicht hatten stoppte Mados die anderen vier.
“Da ist jemand.”
Im Lichtkegel befand sich eine Frau. Sie saß in einem stockfinsteren Bereich des Ganges, wo die Beleuchtung ausgefallen war und schien extrem verängstigt zu sein. Ihre Uniform wies sie als eine Technikerin aus.
“Ma’am, sind Sie verletzt?”
Sie antwortete nicht und Mados ging vorsichtig auf sie zu. Während die anderen ihn deckten, sprach er zu ihr.
“Keine Angst, Sie sind jetzt in Sicherheit. Was ist passiert?”, fragte Mados und berührte sie sanft an der Schulter.
Plötzlich zuckte sie zusammen, starrte ihn verstört an und murmelte: “Es wird wiederkommen. Es wird wiederkommen.” Dann riss sie die Augen vor Entsetzen auf und setzte zu einem Schrei an. Doch bevor sie einen Ton von sich geben konnte, verzog sich ihr Gesicht zu einem grimassenhaften Grinsen. Ihre zuvor grünen Augen verfärbten sich rot, mit einem leuchtenden roten Ring um ihre Pupillen. Blitzschnell packte sie ihn am Hals.
Er versuchte sich von ihr loszureißen, nutzte sogar seine übernatürlichen Kräfte, die er als Nephlim besaß, doch schaffte es nicht. Sie war zu stark. Unfassbar stark. Dann umfing ihn Schwärze und eine Stimme sprach in seinem Kopf. Tief, dunkel und seltsam verzerrt. Instinktiv überkam ihn gewaltige Panik bei dem klang.
“Ahhh, endlich jemand mit Potential.”
Mados konnte sich nicht bewegen, keinen klaren Gedanken fassen und verstand nicht, was mit ihm geschah.
“Du hast Angst. Menschen haben eine so… überzogene Vorstellung von sich selbst.
Und wenn sie dann doch einen flüchtigen Blick auf die bittere Realität erhalten, bekommen sie es mit der Angst zu tun. Die Angst vorm Tod, die Angst davor in Vergessenheit zu geraten und akzeptieren zu müssen, dass sie irrelevant sind. Du kennst es doch selbst… wie sie dich ansehen… dich fürchten, nur weil du stärker bist. Und du hasst sie dafür. Sie sind nichts im Vergleich mit dir. Aber auch du bist nichts. Ihr seid erbärmlich… langweilig… lebt um zu sterben. Ihr seid blind, eingebildet und dumm. Ihr habt es so leicht, macht es euch aber so schwer. Egal was ihr tut, das Ende ist immer gleich. Also, warum dienst du ihnen? Du bist so viel mächtiger… ja… ich werde es dir zeigen!”

Mados spürte wie ebenfalls auf seinem Gesicht ein schiefes Grinsen erschien und die Frau ließ ihn los. Sie verfiel wieder in Lethargie und redete zu sich selbst.
Er merkte, dass ihm sein Körper nicht mehr gehorchte, obwohl er versuchte sich zu wehren und brüllte. Doch kein Ton verließ seinen Mund. Er war gefangen. Seine Kameraden kamen ins Sichtfeld und bei seinem Anblick traten sie zurück, redeten mit ihm und miteinander. Waffen waren auf ihn gerichtet, doch das Wesen das ihn steuerte, ging einfach auf sie zu.
Es waren gute Soldaten, trotzdem zögerten sie einen Moment, bevor sie das Feuer eröffneten. Ganz egal was sie tun würden, es war irrelevant. Die Kugeln flogen an ihm vorbei, abgelenkt wie von einem Kraftfeld. Die Kreatur streckte seine Hand aus und der erste seiner Freunde wurde in seine Richtung gerissen. Die Faust durchbrach den Torso, als wäre er aus Pappe. So starben Drei, die Letzte ergriff die Flucht. Es war Alala, doch sie kam nicht weit.
Von einer unsichtbaren Kraft gegen die Wand gedrückt, stand Mados vor ihr.
Er sah, wie er ihr sein eigenes Nahkampfschwert langsam unter die Rippen schob und fühlte, wie das warme Blut über seine Hand floss. Ihm wurde kotzübel, doch immer wieder verspürte er die Belustigung des Wesens an dem Grauen, das es verursachte. Wie Gift vermischte es sich mit seinen eigenen Gefühlen und Gedanken. Es labte sich an allem Grässlichen und Brutalen – es war die Personifikation von Leid.

Im verriegelten Kontrollraum der Splitter hatte man bald festgestellt, dass die restliche Mannschaft verloren war.
Nur noch sie waren übrig, im orangen Dämmerlicht. Theron betrachtete seine Leute, die Leute die er handverlesen hatte. Dann krachte es.
Die dicke Panzertür wurde mühelos aufgebogen und der Captain erkannte, wer dort stand.
Es war der Nephlim.
Feinster, pechschwarzer Rauch umwirbelte ihn und er hatte ein widerliches Grinsen im Gesicht. Seine Arme tropften vor rubinrotem Blut und seine Augen leuchteten in der gleichen Farbe. Ein paar Offiziere eröffneten das Feuer, doch sie starben. Wurden wie Puppen, knochenzerschmetternd gegen die Konsolen geschleudert oder der Wirbel aus schwarzem Rauch riss sie in Fetzen.
Schließlich war nur noch Theron übrig und er wusste, gleich war es vorbei. Aber als ein übermächtiger, wahnsinniger Verstand seinen eigenen übernahm und schleichend vernichtete, zeigte es ihm kurz seinen Plan, bevor sein Geist erlosch. Er erkannte, es hatte alles erst begonnen.

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Kein Happy End für Jenny

Die wenigen Personen, die sich in dem kleinen Diner mitten im Nirgendwo aufhielten, glaubten dies wäre das Ende einer furchtbaren Geschichte. Der Geschichte von Jenny, die entführt, misshandelt und nur knapp entkommen war. Nur der alte Mann, der sich John nannte und Jenny behutsam im Arm hielt, wusste, dass es gerade erst anfing.

Eigentlich hatte das Diner längst geschlossen, nachts verirrte sich niemand mehr hierher. Das Ehepaar, dass die Raststätte neben der Landstraße betrieb, war gerade mit dem Saubermachen beschäftigt, als der alte Mann und die junge Frau hineinstolperten. Roslyn, die in dem Diner bediente und die selbst nach Feierabend, stets ihr ausgewaschenes Kellnerinnendress trug, bemerkte sofort den zerschundenen Körper der jungen Frau. Mütterlich umsorgte sie Jenny und wies ihrem Mann an, der gerade in der Küche arbeitete, die Polizei zu verständigen.

Der Sheriff des kleinen Ortes kontrollierte nur wenige Schritte entfernt vom Diner einen Lastwagen, als er den Notruf über sein Funkgerät erhielt. Kurzerhand beließ er es bei einer Verwarnung und lief zum Diner, das auf der anderen Straßenseite lag. Der neugierige Fahrer des Trucks folgte ihm kurzerhand.

Als Jenny mit knapp Worten ihre Geschichte erzählten hatte, waren die Menschen sichtlich bestürzt und sahen sich fragend an. Der Trucker, ein etwas beleibter Mann legte Jenny, die nur mit einem Slip und einem verdrecktem T-Shirt bekleidet war, seine viel zu große Jacke um ihre zitternden Schultern und ging dann zum Lastwagen zurück, um seine Schrotflinte zu holen. Der Sheriff, der etwas überfordert war, wollte gerade die Bundespolizei rufen, als John ihn zur Seite nahm und leise mit ihm sprach. Danach rief der Sheriff stattdessen bei einem Krankenhaus in der Stadt an, dass über eine psychiatrische Abteilung verfügte.

“Sie glauben mir nicht,” sagte Jenny leise.

“Das ist auch schwer zu glauben,” erwiderte John und setzte sich wieder neben sie. “Aber das spielt keine Rolle. Ich war dabei und mir werden sie glauben.”

Jenny nickte traurig.

“Was war das?” fragte sie. “Es hat mit mir gesprochen, aber es war kein Mensch. Es hat nicht geschrien wie ein Mensch.”

“Ich habe keine Ahnung, was es war,” log John. “Die Polizei wird das schon herausfinden.”

Inzwischen war der Trucker zurück und legte eine hässliche Pump-Gun mit abgesägtem Schaft auf den Tresen. Er warf eine Schachte Schrotpatronen daneben und setzte sich davor. Niemand schien sich an der Waffe zu stören, nur als der Trucker sich eine Zigarette in den Mund stecken wollte, schüttelte Roslyn energisch den Kopf. Schulterzuckend schob er die Zigaretten wieder in die Packung.

“Es tut mir leid,” rief Roslny plötzlich durch das Diner. “Wir haben geschlossen!”

Zwei Gestallten waren im Eingang erschienen und sahen sie um.

“Sie gehören zu mir!” meinte John laut und winkte die Fremden an seinen Tisch.

“Jenny, das sind Hella und Edwin. Freunde von mir, die hier in der Gegend wohnen,” stellte er die Frau und den Mann vor. “Ich habe sie angerufen, damit sie uns helfen.”

Jenny lächelte schüchtern als sich die Beiden setzten. Sie könnte sich nicht mehr daran erinnern, dass John mit jemanden telefoniert hatte. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war. Das Letzte, an das sie sich noch erinnern konnte, war John, wie er ihr ein brennendes Feuerzeug reichte.

Die attraktive Frau griff nach Jennys Hand und streichelte sie leicht.

“Das muss schrecklich für dich gewesen sein,” sagte Hella freundlich. “Aber jetzt wird alles wieder gut.”

Edwin, nicht weniger gutaussehend, blickte Jenny nur mit steinerner Miene an.

“Jenny,” meinte John auf einmal und zeigte durch das Diner. “Ich glaube, der Sheriff hat noch ein paar Fragen an dich.”

Tatsächlich hatte der Sheriff gerade sein Telefonat beendet und blickte nachdenklich zu der kleinen Gruppe hinüber. Jenny nickte und ging zu ihm.

“Warum lebt das Miststück noch?” fragte Edwin mit kaum unterdrücktem Zorn.

“Weil es nicht meine Aufgabe ist sie umzubringen,” antwortete John. “So sind nun einmal die Regeln.”

“Das können wir gleich haben,” meinte Edwin wütend und wollte gerade aufspringen, als John ihn mit einem einzigen Blick zurückhielt.

“Setzt dich wieder hin,” sagte er mit deutlich scharfen Ton. “Ich habe diese Zusammenkunft einberufen und nur ich kann sie wieder auflösen. Und bis dahin herrscht Waffenruhe!”

Edwin grinste freudlos, blieb aber auf seinem Platz sitzen.

“Du und deine beschissenen Regeln,” sagte er trotzig.

“Diese Regeln dienen nicht meiner Sicherheit, Junge,” stellte John nüchtern fest. “Sie schützen euch beide vor mir.”

Hella hob beruhigend ihre Hände.

“Was genau ist eigentlich passiert?” fragte sie. “Wie konnte die Kleine unseren Schöpfer besiegen?”

Der alte Mann grinste innerlich. Er hatte Zeiten erlebt, da wäre Jedem, der sich von seinen Dienern “Schöpfer” nennen ließ, die Gliedmaßen einzeln aus dem Leib gerissen worden. Damals stand noch Stärke über allem. Famuli wurden geprüft und gnadenlos ausgesiebt, bevor man ihnen die Gnade der Nacht gewährte. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Seit sich ihre Art in den Schatten verbarg, zählten nur noch Verschlagenheit. Heute suchte man sich schwache Diener, die keine Bedrohung für einen selbst darstellten. So wie die Beiden.

Einst waren Hella und Edwin ein verliebtes Paar gewesen, doch dann waren sie ihrem späteren Herrn begegnet und der hatte sie vor eine sadistische Wahl gestellt. Sie durften selbst entscheiden, wer leben und wer sterben musste.

Zuerst war ihre Liebe gestorben, dann verloren sie ihr Leben, nur um gemeinsam wiedergeboren zu werden. Von dem, was die Beiden einst teilten, war nichts mehr geblieben und nur noch blinder Gehorsam ihrem Herrn gegenüber verband sie miteinander. Wie gut dressierte Hunde. Doch auch dieses Band war nun durchschnitten.

“Du willst wissen, was passiert ist?” fragte John nach und schnaufte abfällig dabei. “Er hat sie gejagt, hat mit ihr gespielt und als er mit ihr fertig war, hat er sie laufen lassen. So wie er immer getan hat. Ihr wisst schon, seine Beute in Sicherheit wiegen, um ihr dann den Rest zu geben. Nur diesmal…”

Diesmal war die Beute nicht geflohen. Als Jenny mit letzter Kraft ihr Auto erreicht hatte, war sie nicht davongefahren. Sie war umgedreht und hatte ihren Wagen als Waffe benutzt. Mit Hundertzwanzig Pferdestärken und zweieinhalb Tonnen Gewicht hatte sie den Schöpfer in die nächste Hauswand gerammt. Immer und immer wieder, bis sämtliche Knochen gebrochen, alle Sehnen gerissen und jeden Muskel zerfetzt war. Dann war Jenny ausgestiegen und hatte das Auto abgefackelt. Wenn man unsterblich war, vergaß man leicht, dass man auch Schwächen besaß. Es war kein schnelles Ende für den Schöpfer gewesen, er hatte lange geschrien. Doch das mussten die Beiden nicht wissen. Die Situation war schon schwierig genug.

“… diesmal hat die Maus die Katze gefressen.”

Sie sahen ihn fassungslos an.

“Was geschieht jetzt?” fragte Hella schließlich. “Was wird aus unserer Familie?”

“Genau aus diesem Grund seid ihr hier,” erklärte John. “Wird ein Mitglied einer Familie getötet, ist es das Recht des Anführers den Toten zu rächen. Ist der Anführer selbst der Tote, rächt ihn sein Nachfolger. So wurde das schon immer gehandhabt. Sobald ich das Diner verlassen habe, habt ihr freie Hand und derjenige, der mir den Kopf von Jenny bringt, ist der neue Anführer euer Familie.”

“Kein Happy End für Jenny!” lachte Edwin.

“Die anderen Familien werden das akzeptieren?” wollte Hella wissen und John nickte.

Würde John wetten, würde er sein Geld auf Hella setzen. Sie war deutlich stärker und schneller als Edwin. Besaß ein eiskaltes Gespür für das Notwendige und hatte ihre dunklen Gaben viel besser unter Kontrolle. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Es lag in der Natur der Herausforderung, dass man an ihr wuchs oder an ihr scheiterte. Ein unachtsamer Augenblick, ein Moment der Schwäche und das Blatt konnte sich wenden.

“Wir danken euch, Ältester,” sagte Hella unterwürfig. “Habt ihr einen Rat für uns?”

John blickte erst sie an, dann sah er zu Jenny hinüber. Die junge Frau beobachtete ihn. Er lächelte. Jenny lächelte nicht zurück. Hatte sie ihn durchschaut? Aber warum lief sie dann nicht davon? Vielleicht, weil Jenny ahnte, dass man dem Raubtier besser niemals den Rücken zuwendende.

“Es geht hier nicht darum, die Sache zu beenden. Das könnte jeder Junkie mit einem dreckigen Rasiermesser machen,” sagte John ruhig. “Das hier ist ein Anfang. Die anderen Familien werden euch nicht danach beurteilen ob euren Herren rächt, sondern wie ihr diese Sache regelt.”

“Keine Zeugen,” vermutete Hella.

John nickte zufrieden, sie hatte es verstanden.

“Kümmert euch zuerst um den Sheriff. Er sieht unfähig aus, ist aber ein erfahrener Mann. Dann um den fetten Typen mit dem Gewehr. Dann um die alten Leute. Zum Schluss um Jenny, sie ist zu erschöpft, um gefährlich zu werden.”

Es war still geworden in dem Diner, als ob die Menschen spüren würden, dass sich die Monster langsam näherten.

“Seht ihr den Gas-Herd?” fragte John und deutet in Richtung der Küche. “Der Koch war gerade dabei ihn sauberzumachen, dabei hat er die Sicherheitsflammen gelöscht. Natürlich hatte er vorher die Gasleitung geschlossen. Sehr vernünftig. Hätte er es nicht getan, wäre die gesamte Küche jetzt voller Gas. Da reicht ein Streichholz und von dem Laden würde nichts übrigbleiben.”

Unbewusst griff der Sheriff nach seinem Funkgerät aus dem seltsamerweise nur statisches Rauschen kam. Der Trucker öffnete langsam die Schachtel mit den Patronen und nahm einige heraus.

“Bei so einer Explosion wird eine Menge Energie freigesetzt,” erklärte John ungerührt. “Da wird sich niemanden wundern, wenn einer Leiche der Kopf fehlt und das Feuer wird alle Beweise beseitigen. Wir haben uns verstanden?”

Hella nickte und John stand auf.

“Warte,” sagte Edwin schnell. “Wie sollen wir das mit dem Anführer regeln?”

John blickte ihn erstaunt an. Musste er noch deutlicher werden?

“Es ist mir egal, wie ihr es regeln,” antwortete er gereizt. “Kämpft mit einander, macht einen Gesangswettbewerb oder werft eine verdammte Münze! Es ist mir wirklich scheißegal!”

Ohne zu wissen warum, umarmte Roslny plötzlich ihren verdutzten Mann.

“Eine Sache noch,” sagte Edwin mit drohender Stimme. “Hättest du unseren Schöpfer retten können?”

John wusste, dass das eine Falle war, doch Mittlerweile hatte er keine Geduld mehr.

“Ja,” antwortete er kalt. “Aber warum hätte ich das tun sollen? Er war schwach, so wie seine Brut. Ich wollte es schon vor Jahrhunderten klären, aber euer Schöpfer hat sich immer hinter unseren Gesetzen versteckt. Es wäre leicht gewesen, dem Mädchen das Genick zu brechen, doch dann hätte ich nicht seine Schreie genießen können.”

“Du Schwein!” schrie Hella und sprang auf.

Und da war der Augenblick gekommen, der Moment der Schwäche. Noch bevor Hella reagieren konnte, hatte Edwin seine Hände, die sich noch in der Bewegung in Klauen verwandelt hatten, um ihren Hals gelegt. Ein Ruck und der Kopf löste sich von ihrem Nacken. Fast lautlos fiel Hellas Kopf auf dem Tisch und dunkles Blut spritze Edwin ins Gesicht.

Er hatte instinktiv gehandelt, getrieben von Angst und Hilflosigkeit. Doch nun, als das Blut seiner Geliebten wie Tränen seinen Wagen hinabfloss, begriff er die Konsequenten seiner Tat und begann hysterisch zu lachen.
John wartete nicht darauf, dass er sich wieder beruhigte. In einer einzigen fliesenden Bewegung trennte er ihm ebenfalls den Kopf ab. Die beiden Liebenden trafen sich auf der Tischplattes des kleinen Diners und wie es das Schicksal wollte, küssten sie sich ein letztes Mal, bevor sich ihre Körper zu Staub und Asche verwandelten.

Die Menschen in dem Diner hatten nicht alles gesehen, nicht jedes Detail, dafür war es zu schnell gegangen. Aber sie begriffen schlagartig, dass die Monster nicht in der Dunkelheit lauerten, sondern längst hier waren.

John blickte zu ihnen und die Welt verlangsamte sich. Er sah den Sheriff, der seine Waffe gezogen hatte und sie sofort fallen ließ, als sein Herz plötzlich aufhörte zuschlagen. Er sah denn Trucker, der verzweifelt versuchte seine Schrottflinte zu laden und sich dabei in die Hose pisste. Er sah das alte Ehepaar, wie sie sich entsetzt aneinanderklammerten. Und er sah Jenny.

Die riesige Jacke war ihr von den schmalen Schultern geglitten. Sie hatte sich die Waffe des Sheriffs geschnappt, hielt sie mit beiden Händen und zielte damit nun auf Johns Brust. Dort stand sie, als wäre sie schon immer da gewesen und blickte ihm direkt in die Augen.

Tapfere Jenny, starke Jenny. Kein Happy End für dich.

Es endete mit einem Schuss und begann mit Blut, Schmerzen und Verzweiflung.

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Kinderspiel

Ich gehe einige Schritte durch einen Korridor, ehe ich stehen bleibe und mich umdrehe.
“Wo wollte ich nochmal hin…”, frage ich mich selbst, doch es verhallt unbeantwortet im Flur der vor einer Tür verläuft. Angespannt schaue ich den Türknauf an, doch gehe keinen Schritt auf die Tür zu, durch die ich gerade noch gekommen sein muss… Meine Hände schwitzen bereits.
“Wieso erinnere ich mich nicht…”, möchte ich wissen, doch abermals ist niemand in der Nähe der mich wahrzunehmen scheint. Ein Schauer läuft mir über den Rücken als ich die Türen zum Fahrstuhl direkt neben dem Eingang betrachte. Es gibt keinen Schalter mit dem ich ihn rufen könnte. Das Messingpanel, an dem normalerweise der quadratische Knopf mit einem Pfeil abgebildet ist, ziert lediglich der Schriftzug “Ni”.
Ich wende mich wieder der Eingangstür zu und strecke meine Hand schon zum Knauf aus, doch ich rühre mich nicht von der Stelle.
„Es muss doch einen Grund geben…“ und wieder sträuben sich die Haare in meinem Nacken zu Berge. Langsam drehe ich den Kopf zur Seite, doch kann niemanden hinter mir wahrnehmen.
„Hallo?“, rufe ich nun laut hörbar und gehe energisch einige Tritte vorwärts.
Den Flur ziert nichts als eine weiße Tapete an Wänden und Decke und einem Parkettfußboden.
Meine Schuhe hallen über dem Boden und von einer unsichtbaren Kraft fühle ich mich weiter nach vorne getrieben und beschleunige den Schritt, doch vor mir liegt nichts als eine Treppe die in entgegengesetzter Richtung nach oben führt.
„Hallo?!“, rufe ich hinauf und warte einen Augenblick, während ich einen Blick zurück zur Tür werfe.
Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die erste Stufe, auf der ein Teppich bis nach oben verlegt liegt und ornamenthaft etwas eingestickt wurde: „„Das“, was soll das heißen? Ein weiterer Fahrstuhl steht ebenfalls hier auf dessen Platte „laus“ steht. Ich begreif‘s nicht…“
Die Treppe knarzt unangenehm laut, der Teppich dämpft nur meine Schuhe selbst. Das Geländer ist schnörkellos aus Holz gefertigt und widerwillig halte ich mich daran fest, während ich Stufe für Stufe hinauf schreite. Oben angekommen steht auf der letzten Stufe „ist“.
„Ich muss mindestens ein Stockwerk übersprungen haben, eigenartig“, denke ich und blicke abermals in einen langen Flur. Neben mir ist ein Fenster ohne Griff in der Wand doch ich kann nichts erkennen außer weißen Schwaden.
„Muss ziemlich neblig draußen sein“, flüstere ich.
„Jemand Zuhause?“, rufe ich den Flur entlang und gehe bereits weiter. „Auch hier hängt nichts an den Wänden. Wieso gibt es keine Zimmer? Das gesamte Gebäude besteht nur aus Erschließung bisher…“
Abermals finde ich nichts außer einer weiteren Treppe, die diesmal jedoch steil nach oben führt. „Bisher gehe ich nur im zig zag nach oben“, stelle ich fest.
Hier steht ebenfalls „das“ auf der ersten Stufe. Daneben befindet sich abermals ein Fahrstuhl, der diesmal aber auch einen Knopf besitzt dessen Pfeil nach unten zeigt und darüber „ko“ stehen hat.
„Der muss zu „laus“ führen, nach oben führt wohl nur die Treppe in den Dachboden.“
Beim Betätigen des Knopfes leuchtet dieser an den Rändern rot auf und ich höre wie sich ein Mechanismus in Bewegung setzt doch es geschieht nichts. Der Fahrstuhl kommt nicht. Auch nach einer Minute brummt es noch immer, aber die metallene Tür bleibt zu.
„Wenn hier jemand lebt, dann wohl auf dem Dachboden, ansonsten gehe ich eben wieder. Was soll das alles hier…“, versuche ich mich zu beruhigen.
Abermals knarzt das Holz und ich kralle mich in das Geländer der Treppe während ich angespannt nach oben schaue.
Doch oben angekommen auf einem schmalen Podest liegt vor mir direkt wieder eine Treppe die nach unten führt. Nur eine Fußmatte liegt hier vor einer Tür. „Haus“, lese ich auf der Matte. So stehe ich einen Augenblick vor der Tür und schaue abwechselnd die Treppe hinunter und auf die Türklinke. Schließlich hebe ich die Hand zum Klopfen. Am unteren Ende der Treppe scheint abermals ein Fahrstuhl zu liegen, allerdings auch nichts weiter. Die Treppe endet direkt davor und kein Flur zweigt ab.
Klopf, klopf, klopf…
Stille. Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und klopfe ein weiteres Mal an. Wieder rührt sich nichts während ich lausche.
„Haus? Oder wie sie auch heißen mögen. Sind sie da?“, doch es tut sich nichts. Ich umfasse vorsichtig die Klinke und drücke sie hinunter.
„Abgeschlossen. Na super“, stelle ich genervt fest, „Zeit zu gehen.“
Ich stapfe die Treppen hinunter zum Fahrstuhl und drücke auf den Knopf, über dem „vom“ steht. Im selben Atemzug erklingt ein Ton und die Tür öffnet sich. „Das ging schnell…“ Ich bleibe stehen und die Tür schließt nach kurzer Zeit wieder. Ich drücke abermals den Knopf und wieder öffnet sich die Tür auf Befehl. Langsam steige ich in die Kabine und schaue dabei auf den Boden zwischen den Schlitz, der den dunklen Schacht offenbart und mir wird plötzlich sehr warm.
Das Tastenfeld besitzt lediglich einen Knopf auf dem EG steht. „Der fährt nur nach unten? Das scheint mir wenig durchdacht.“ Widerwillig drücke ich den Knopf und sogleich schließt sich die Tür und die Kabine setzt sich in Bewegung.
„Dann muss ich ja immer noch die Etage in der Mitte überspringen…“
Wieder ertönt es und zwei Türen an den Seiten öffnen sich gegenüberliegend.
Verdutzt schaue ich durch beide Öffnungen.
„Stimmt, ich habe den Fahrstuhl gar nicht zur Flurseite hin betreten sondern direkt vom Flur in die Kabine gewechselt.“
Rechts neben der linken Öffnung liegt wieder die Haustür, doch die rechte Öffnung offenbart einen völlig neuen Flur. Er ist jedoch nur spärlich beleuchtet.
„Gelangt man so in den Keller?“
Der Blick hinaus offenbart jedoch abermals eine Treppe die nach oben führt.
„Geht es so ins Zwischengeschoss? Wieso nicht gleich über den Fahrstuhl? Nein, dafür ist die Treppe wie zuvor zu lang…“
Plötzlich schließt die Tür zum Flur der Haustür hinter mir.
„Hey, stop!“, rufe ich noch und schnelle zur Tür, doch diese geht weiter unbeirrt zu und verweilt so. Auch das wiederholte Betätigen der Taste öffnet sie nicht mehr.
„Der spinnt doch… Besser raus hier bevor die andere auch noch zu geht…“
Just als ich die Öffnung durchschreite schließt sich ebenfalls die Tür und der Fahrstuhl setzt sich wieder in Bewegung.
„Spätestens jetzt wird mir das hier unheimlich…“, versuche ich zu scherzen, doch mein Herz schlägt immer schneller.
Ich haste die Stufen hinauf und gelange abermals in einen Flur mit einem Fahrstuhl an der Seite.
„Was soll der scheiß?“, fluche ich und hole mit der Faust gegen den Knopf aus, doch plötzlich ertönt es und die Tür schiebt sich zur Seite.
„Das muss der Fahrstuhl sein, den ich vorhin gerufen habe…“, stelle ich perplex fest. Dann fällt am unteren Ende des Flures vom vorherigen Fahrstuhl das schwach flackernde Licht aus und nach ihm die Lichter eins nach dem anderen auf der Treppe.
„Ich muss hier raus!“, panisch betrete ich die Kabine und drücke den Knopf, der auch nur das Erdgeschoss aufführt. Die Tür schließt sich, doch dann ist es dunkel. Ich habe das Gefühl zu fallen und strecke meine Arme von mir und ertaste die kalte Wand meines Sarges doch dann ist alles still und ein Streifen aus Licht erscheint, der immer breiter wird. Der Flur.
Eilig verlasse ich die Kabine, die Tür schließt sich und entgeistert blicke ich auf die Palette auf der noch immer „laus“ steht.
„Aber… Weg hier!“, schüttel ich mich und renne den Flur entlang zur Haustür und reiße am Knauf, doch es wird mir nur weiß vor Augen.


##Diese Geschichte kann keine Preise gewinnen

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Die Hütte

‚Das war’s. Endgültig. Mir reicht diese ganze …‘
„ – mit deiner Präsentation, Thomas?“
Die nölige Stimme von Frau Hakelmann riss ihn, wie schon unzählige Male zuvor, aus seinem Gedankenmonolog. Fast schon übertrieben ruhig, aber innerlich bis zum Überlaufen mit brodelnder Wut gefüllt, sah er die Mittfünfzigerin an, die gelangweilt in ihrem braunen Baumwollkleid dastand und nichtsahnend zurückstarrte.
„Thomas?“
Thomas. So oft hatte er ihr schon zu verstehen gegeben, dass er doch bitte lieber Tom genannt werden möge. Und nicht Thomas. ‚Scheint wohl ziemlich schwer zu sein, sich das zu merken‘, dachte er verbittert.
„Hallo?“, hakte sie noch einmal mit einer Hand in die Hüfte gestemmt nach.
„Ja, hab‘ ich Ihnen doch schon gesagt. Die ist quasi fertig. Nur hatte ich die letzten paar Tage so viel zu tun, da hab‘ ich die nicht endgültig fertig machen können“, brachte er seiner Meinung nach beherrscht und in Anbetracht der Situation gemäßigt heraus. ‚Mein Gott. Das zu kapieren, scheint wohl genauso schwer zu sein, wie mich Tom zu nennen.‘
„Ja, das ist mir bewusst. Aber das ist jetzt schon seit drei Tagen deine Erklärung. Irgendwann muss die Präsentation ja trotzdem fertig werden, spätestens bis nächsten Freitag dann. Oder willst du mir jetzt bis zum Ende des Schuljahres immer diese Ausrede präsentieren?“, rief sie ihm ruhig die Deadline ins Gedächtnis, während sie sich langsam, für Thomas fast schon auf arrogante Art und Weise, zu ihrem Pult zurückdrehte, um ihre säuberlich geordneten Unterlagen zu betrachten.
Nicht wissend, was er darauf noch antworten sollte, begnügte sich Thomas mit einem grummelnden „Hrmpf“ und kehrte zu sich selbst zurück. Das Klassenzimmer mitsamt seinen Insassen wurde wieder nebensächlich. Was interessierte ihn schon ein über 200 Jahre altes Buch über irgendeinen Wissenschaftler und dass er darüber ein Referat halten sollte, damit die Hakelmann nichts erklären muss und sich faul in die Ecke setzen kann.
In dieser düsteren Verfassung fasste Thomas einen Entschluss. Heute sollte es soweit sein. Mit diesem Tag würde sein neues Leben beginnen.

Direkt als er von der Schule nach Hause kam, begann er damit, alles in den Armeerucksack seines Großvaters zu packen. Zum Glück hatten seine Mutter und sein Stiefvater Mittagschicht, so war er ungestört. Nach drei Stunden war der Rucksack bis zum Bersten gefüllt und Thomas schon recht erschöpft. Doch der anstrengende Teil seines Abenteuers sollte jetzt erst beginnen. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, seinen Sportschuhen an den Füßen und einem selbstgeschnitzten Wanderstock in der Hand ging Thomas los. Er lief die Straße hinauf, in der er schon sein ganzes Leben gelebt hatte, vorbei am Haus seines besten Freundes aus Kindheitstagen und dem kleinen Kiosk an der Ecke. Vorbei an allem, was er kannte. Mit jedem Schritt fühlte er sich ein Stück freier.
Sein Weg führte ihn langsam hinaus aus seinem Heimatort. Jenseits der Häuser bog er von der Straße auf einen kleinen Feldweg ab, der ihn immer weiter von den letzten Häusern wegführte. Schon nach kurzer Zeit war um ihn herum nichts mehr von der Ortschaft zu sehen oder zu hören. Kurz hielt er inne und atmete mit geschlossenen Augen einmal tief durch. Er zog die Trageriemen seines Rucksacks etwas strammer und setzte seinen Weg fort. Mitten durch die weitläufige Graslandschaft zogen sich die Gleise einer Eisenbahnstrecke. Ohne groß innezuhalten überquerte er die Gleise, die das letzte menschengemachte Hindernis auf dem Weg zu seinem neuen Leben darstellten. Von dort an sah sein Weg immer weniger wie ein Weg, sondern mehr wie ein in Vergessenheit geratener Pfad aus, den die Natur vor langer Zeit wieder für sich beansprucht hatte. Diesem folgte er für mehrere Stunden.

Da lag sie nun vor ihm, seine neue Heimat. Vor ihm erhoben sich die mächtigen Baumstämme des Waldes zu einer auf den ersten Blick undurchdringlichen Wand. In seinen Augen aber schienen die Bäume einen kleinen Bogengang zu bilden, wie um ihn hereinzubitten. Diese Einladung nahm Thomas dankend an und schritt los in den kühlen Schatten der Bäume. Über ihm vereinten sich die Baumkronen zu einem grünen Dom, durch den hier und da ein roter Strahl der Abendsonne durchblinzelte. Um ihn herum schien alles am Leben zu sein. Es brummte, raschelte, zirpte aus jeder Ecke. Thomas hatte es etwas stiller erwartet. Nicht ganz so sicheren Schrittes suchte er sich seinen Weg durch das hartnäckige Gestrüpp, das den Waldboden übersäte. Schon nach wenigen Metern waren seine Hosenbeine ausgefranst und voller Löcher. Der ein oder andere Dorn hatte auch schon seinen Weg in Thomas‘ Bein gefunden. Ungehalten ging er immer tiefer in den Wald hinein, wobei er seine Beine immer höher anhob, um nicht jede Dornenranke auf dem Weg unfreiwillig mitzunehmen. Er fand eine kleine grasbewachsene Lichtung, die ihm recht einladend erschien. Hier richtete er alles für seine erste Nacht in der Wildnis ein.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so schlecht geschlafen hatte. Wahrscheinlich noch nie. ‚So ein Mist. Diese verdammte Wurzel hat mir …‘ Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn innerlich verstummen. Direkt neben der Stelle, an der er seinen Schlafsack ausgebreitet hatte, stand eine Hütte. Offenbar hatte sich hier vor langer Zeit jemand eine Unterkunft gebaut aus den Materialien, die der Wald hergab. So sah die Hütte jedenfalls aus. Irgendwie schmächtig und gebrechlich, mit abstehenden Ästen hier und da. Trotzdem schien alles relativ gut in Schuss gehalten worden zu sein, sonst wäre die Hütte schon längst in sich zusammengefallen. Aus einem kleinen Loch im mit Gebüsch bedeckten Dach wand sich eine dünne Rauchsäule gen Himmel. Thomas rieb sich den Restschlaf aus den Augen und nahm ein paar Schritte auf die Hütte zu. Entweder war er jetzt komplett verrückt oder die Hütte war gestern wirklich noch nicht dagestanden. So dunkel war es gestern noch nicht gewesen, als dass er sie aus diesem Grund nicht hätte sehen können.
„Hallo?“, rief Thomas unsicher. Zu seiner Überraschung ertönte sofort eine Antwort aus dem inneren der Hütte.
„Guten Morgen. Dürfte ich dich bitten, in mein bescheidenes Zuhause zu treten?“, rief ihm eine Männerstimme freundlich entgegen.
Noch etwas benommen ob der katastrophalen Nacht und dieser morgendlichen Überraschung lief Thomas auf den Eingang der Hütte zu, der ihm direkt zugewandt war. In die Hütte sehen konnte er von außen nicht, daher näherte er sich erst zaghaft, da er nicht wusste, was genau ihn innen erwarten würde. Den aus Grashalmen gefertigten Vorhang schob er vorsichtig zur Seite, um in die spärlich beleuchtete Hütte einzutreten. Die unscheinbare äußere Erscheinung des Häuschens spiegelte sich im Inneren wider. Außer einer ebenerdigen Schlafstelle aus gewebtem Gras, einer kleinen Feuerstelle in der Mitte und einem einfachen Stuhl war die Hütte mit nichts weiter eingerichtet. Auf dem augenscheinlich selbstgebauten Stuhl saß ein alter Mann. Wobei Thomas gar nicht genau ausmachen konnte, ob der Mann überhaupt alt war. Sein schwarzgrauer Vollbart bedeckte fast sein gesamtes Gesicht. Nur die Falten auf der sonnengegerbten Stirn und um die Augenpartie ließen auf ein höheres Alter schließen. Nichts an dem Mann schien besonders, weder seine Kleidung noch sein Auftreten.
„Schön, dass du mich hier besuchen kommst“, eröffnete der Unbekannte das Gespräch.
„Ja, ähm, aber wer sind Sie denn? Und warum war das alles hier gestern Abend noch nicht da?“, fragte Thomas doch mit etwas mehr Aufregung in der Stimme als er eigentlich wollte.
„War sie das nicht? So so.“ Dem Mann entfuhr ein warmes Lachen. Thomas konnte nicht anders als sich ob dieses Lachens etwas zu entspannen. Von dem Mann ging eine herzliche Atmosphäre aus.
„Das kann schon sein, ja. Warum das so ist, kann ich dir aber auch nicht sagen, mein Junge. Auf jeden Fall bin ich froh, dass wir hier aufeinandertreffen, denn dies wird das letzte Mal sein, dass ich hier sein werde.“
„Okay. Ganz ehrlich verstehe ich nicht, was hier gerade vor sich geht. Ich werde lieber wieder gehen“, erwiderte Thomas.
„Natürlich, das darfst du. Ich möchte dich vorher noch um etwas bitten. Würdest du ihn hier mitnehmen?“ Dabei zeigte der Mann auf seinen Schlafplatz. Erst jetzt fiel Thomas auf, dass dort ein Hundewelpe zusammengekauert neben dem Kissen aus Moos lag und schlief.
„Was?“, war alles was Thomas darauf antworten konnte.
„Er ist mein Freund. Doch da, wo ich jetzt hinmuss, kann er nicht mitkommen. Deshalb braucht er ein neues Zuhause bei einem vertrauenswürdigen Menschen. Bei so einem vertrauenswürdigen jungen Mann wie dir“, lächelte der Mann Thomas ins Gesicht.
„Aber wo haben Sie denn überhaupt einen so jungen Hund her?“
„Ich weiß bedauerlicherweise auch nicht so viel, wie ich gern möchte. Ich kann dir keine Antworten geben. Er stand eines Morgens einfach jaulend vor meiner Hütte.“
Völlig überrumpelt stand Thomas in dem bescheiden eingerichteten Raum und blickte den kleinen Hund an.
„Und wenn ich ihn nicht mitnehme?“
„Dann muss er wieder vor die Hütte und alleine hierbleiben. Das wäre sein Tod.“ Die Stimme des Mannes wurde nun ernst.
„Das kann nicht Ihr Ernst sein!“, entfuhr es Thomas.
„Leider doch. Aber dazu wird es nicht kommen. Du hast doch sicherlich ein schönes Zuhause und eine nette Familie, die sich über diesen kleinen pelzigen Zuwachs freuen würde.“
„Jaah, aber …“, wollte Thomas antworten.
„Na also. Dann gratuliere ich dir zu deinem neuen Freund“, sprach der Mann und erhob sich von seinem Stuhl. Er war größer als Thomas zunächst gedacht hatte. Mit einer geschmeidigen Bewegung hob er das Hundewelpe auf und drückte es Thomas in die Arme. Dieser hatte gar keine andere Wahl als es mit beiden Armen fest an seinen Oberkörper gedrückt zu halten.
„Ich kann doch jetzt nicht Ihren Hund mitnehmen!“
„Aber wieso denn nicht? Du wirst gut auf ihn aufpassen und ihm ein guter Freund sein. Sonst würdest du jetzt nicht hier stehen und dich mit mir unterhalten.“
„Und was mach ich jetzt?“, wollte Thomas noch ratlos wissen. Der Mann stand jetzt direkt vor ihm und schien wieder seine anfängliche Freundlichkeit angenommen zu haben.
„Geh ihn deiner Familie vorstellen. Deine Mutter und dein Stiefvater freuen sich sicher“, antwortete der Mann und schob den verdutzten Thomas in Richtung Ausgang. Gänzlich überrumpelt ließ er es geschehen.
Er stand nun wieder vor der Hütte. Als er die frische Waldluft einatmete, wurde sein Kopf ein wenig klarer.
„Hey, Moment mal“, rief Thomas aus und schob den Vorhang wieder beiseite. „Woher wissen Sie denn …“ Es war niemand da, um seinen Einwand zu hören. Die Hütte war leer. Nur der Stuhl, der Schlafplatz und die kleine Feuerstelle waren im schummrigen Licht auszumachen. Von dem Mann fehlte jede Spur.
Völlig überfordert trat Thomas wieder aus der Hütte. Er blickte auf den schlafenden Hund auf seinem Arm. Ein Anflug von einem Lächeln zeigte sich auf Thomas‘ Gesicht. Verloren in Gedanken fing Thomas an, den Weg, den er erst gestern hierher genommen hatte, zurückzugehen. Seine Habseligkeiten und seinen Rucksack ließ er unbeachtet neben der Hütte zurück.

Wieder kam er an dem kleinen Kiosk an der Ecke und am Haus seines besten Freundes vorbei. Viel ruhiger als erwartet bog er auf die Einfahrt des Hauses ein, in dem er aufgewachsen war. Er klingelte.
Seine Mutter öffnete die Haustür.
„Tom, mein Gott, da bist du ja. Wo warst du denn nur? Und wer ist denn der kleine Kerl hier?“, fragte ihn seine Mutter erstaunt. Ohne ein Wort zu sagen, trat er über die Türschwelle, setzte das Hundewelpe ab und umarmte seine Mutter.
„Er hat noch keinen Namen. Nein, warte. Yoshi, das ist Yoshi“, sagte er ihr ins Ohr. „Das ist mein neuer Freund.“
Thomas umarmte seine Mutter weiter, während Yoshi um sie beide herumtollte. Erleichtert lächelnd drückte seine Mutter ihn noch einmal fest und schloss dann die Tür hinter ihm.

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