Cremaster Cycle
Review des gesamten Cremaster Cycles:
Vermutlich einer der bizarrsten Ausflüge in die Arthouse-Welt und in die eigene Seele, den ich seit langem gesehen habe.
Der 5-teilige Cremaster-Zyklus des Performance-Künstlers Matthew Barney (der bei allen Filmen Regie führte und in den meisten selbst auftritt) ist eine symbolistische Erfahrung über mehrere Erzählebenen.
Erstens: Die Filme zeigen in Reihenfolge 1-5, wie sich der sogenannte Cremaster-Muskel im Körper entspannt und die Hoden nach unten in den Sack fallen.
Zweitens: Die Filme zeigen in Reihenfolge 1-5 ein geschlechtsloses Embyro, das sich langsam männlich entwickelt.
Drittens: Die Filme sind eine Reise von West nach Ost über die Weltkarte und tauchen in die Symbole der jeweiligen Kultur ein.
Die Filme sind in nicht chronologischer Reihenfolge gedreht. Es ist aber zu empfehlen, sie in der Drehreihenfolge zu schauen, weil sie sich in Budget und Optik steigern und die Erfahrung darauf ausgelegt ist, auf Cremaster 3 zu enden, zumindest fühlt er sich sehr wie ein großer Abschluss an.
Als Inspiration nennt Barney viele Horrorfilme und es wird auch besonders gegen Ende des Zyklus ziemlich brutal. Barney erzählt weniger eine kohärente Handlung, sondern versucht besonders Gefühlswelten abzubilden. Seine Filme sind vermutlich am ehesten mit Jodorowsky oder Kenneth Anger vergleichbar, nur noch etwas unzugänglicher als die beiden.
Offiziell sind die Filme nur in Galerien und Spezialvorstellungen zu sehen. Es gibt keine offiziellen Heimkino-Auswertungen außer eine stark limitierte DVD eines Ausschnitts aus Cremaster 3.
CREMASTER 4 (1995, 42 min) führt den Zuschauer schon gut in Barneys Welt ein. Die meiste Zeit sehen wir Matthew Barney als Faun um ein Loch tanzen und ein gegengeschnittenes Autorennen.
CREMASTER 1 (1996, 41 min) zeigt eine Revue auf einem Football-Feld und die kuriosen Vorkommnisse in zwei Zeppelinen, die darüber fliegen.
CREMASTER 5 (1997, 55 min) präsentiert eine Opernaufführung, die sich irgendwann dazu entwickelt, Matthew Barneys steifen Penis betrachten zu dürfen.
CREMASTER 2 (1999, 79 min) handelt von der Lebensgeschichte eines echten Serienkillers und außerdem von Harry Houdini. Es ist der einzige Teil, in dem vereinzelt Dialog benutzt wird.
CREMASTER 3 (2002, 182 min) ist dann ein riesiges Epos über die Errichtung des Chrysler Buildings in New York, mit einem Prolog der eine Sage nacherzählt. Gegen Ende kommt dann das Segment „The Order“, der wohl bekannteste Teil des Cremaster-Zyklus: Hier klettert Matthew Barney als Monster in pinker Schottentracht das Guggenheim-Museum-Treppenhaus nach oben, um auf jeder der fünf Stufen eine abstrakte Challenge zu lösen.
Ich finde, diese Filmreihe ist der helle Wahnsinn. Sie befriedigt zwei Ebenen in mir: Die, die nach mehr sucht und sich generell viel zu viel mit Symbolik, Geheimbotschaften und Metaphern beschäftigt.
Und die andere, die auf gutes unvorhersehbares Kino steht. Denn ich liebe an dieser Art Film, dass man wirklich nie weiß was in den nächsten 10 Sekunden passieren könnte. Es ist freies Kino, das keinen Regeln folgt, das komplett wahnsinnig sein darf. Und ich freue mich wirklich jedes Mal sehr, wenn ich etwas sehen darf, das wirklich ALLE Konventionen abstreift.
Aber die Filme sind nicht nur „weird“, sie sind tatsächlich verdammt gut gedreht. Barney ist ein fähiger Regisseur und konnte die außerirdisch wirkenden Sets und Performances inszenatorisch gut festhalten. Kamera und Soundtrack sind fantastisch. Besonders „Cremaster 3“ ist meines Erachtens deutlich auf dem Niveau einer AA-Produktion in dieser Zeit.
Der wohl wichtigste Punkt für mich ist, dass diese Filme perfekt eine Landkarte der Gefühle des Zuschauers zeichnen. Barney weiß, wie bestimmte Dinge auf den Zuschauer wirken und er lässt dich zu jedem Zeitpunkt wissen, dass er es weiß. Obwohl Kenneth Anger, Stan Brakhage oder Alejandro Jodorowsky schon oft nah dran waren, muss ich sagen: Der Cremaster Cycle ist der Inbegriff davon, wenn man sagt, dass der Film einmal die Schädeldecke aufgeschraubt und drin rumgematscht hat.
Matthew Barney, du krankes Genie, fuck