Die ersten zwei Drittel des Filmes sind extrem stark! Wirklich sehr, sehr gut! Die Atmosphäre ist dicht, die Schauspieler grossartig, und das beschleichende, ungute Gefühl, das man fast von Anfang an hat nimmt Schritt für Schritt zu. Zu Beginn wirkt der Film sehr konventionell. Dann schleichen sich seltsame… „Fehler“ ein, vor allem eigenartige Kontinuitätsfehler, welche ich erst als Schnittfehler abgewunken habe. Aber die „Fehler“ werden immer deutlicher, die eigenartige Stimmung immer bizarrer. Jake, der Hauptcharakter, wirkt immer beängstigender und das Gesamtbild stimmt immer weniger.
Hier ist das Problem: Jeder, der solche Art von Filme schonmal gesehen hat fängt dann unter Umständen an, nach Erklärungen zu suchen. Sieht einer der Charaktere etwas anders, als die Welt wirklich ist? Ist alles nur eine Metapher? Ist alles nur eine Illusion… oder eine Simulation, in welcher die Protagonistin gefangen ist?
Zumindest geht bei mir das Hirn dann sehr schnell auf die Suche nach „Erklärungen“. Ist einfach so.
Und hier muss ich nochmals eine Spoilerwarnung in der Spoilerwarnung geben, denn ich will hier auch noch auf das Spiel „Silent Hill - Shattered Memories“ eingehen. Also, lieber nicht weiterlesen, wenn man das noch nicht kennt… lieber das Spiel erst zocken, denn es ist einfach brilliant
Der Grund warum ich dieses Spiel reinbringe ist, weil diese beiden Geschichten sehr, sehr ähnlich sind. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Protagonistin eine verzerrte Erinnerung des EIGENTLICHEN Hauptcharakters (von Jake) ist. Genau wie Harry eine Erinnerung im Kopf von Cheryl ist. Ein Charakter, den die Hauptperson entwickelt hat, um bestimmte Dinge aus ihrem Leben zu verarbeiten oder zu projezieren.
Ehrlich gesagt, die ganzen Szenen im Auto, im Schneegestöber, und der „Abstecher“ zur alten Highschool sind so derart vergleichbar mit „Shattered Memories“, dass ich schon während des Schauens des Filmes permanent daran erinnert wurde.
Das Problem ist, dass „Shattered Memories“ dies viel, viel besser umsetzt. Denn in „Shattered Memories“ macht es Sinn, warum Harry, der Vater in der Vorstellung der Tochter, über das ganze Spiel der „Hauptcharakter“ ist, obwohl er nur eine Projektion ihres Unterbewusstsein ist. Cheryl verarbeitet ihr Trauma durch ihn… und zum Schluss, wenn sie ihn konfrontiert, löst er sich auf. Zum Schluss geht die „Agency“ wieder von ihm auf sie über.
In diesem Film KÖNNTE es Sinn machen, warum Lucy der Hauptcharakter mit eigenem Antrieb ist, obwohl sie ein Teil von Jakes Vorstellung ist. Es KÖNNTE. Macht es aber zum Schluss nicht. Denn im letzten Drittel gehen wir plötzlich in die Sicht vom alten Jake zurück, und Lucy verschwindet als Protagonist. Sie sitzt zwar zum Ende im Publikum, aber dort hat sie plötzlich den gleichen Stellenwert wie der Vater und die Mutter. Es sass für mich einfach nicht richtig, und das ganze Konstrukt verwirrte mich nur noch.
Und darum ging ich etwas recherchieren, wollte sehen ob ich einfach falsch lag mit meiner Interpretation, wollte sehen ob ich was verpasst habe.
Und hier ist etwas, was ich gefunden habe:
Charlie Kaufman Explains I’m Thinking of Ending Things | IndieWire
Dieser Artikel erklärt viel über den Film und legt ein bisschen aus, worum es geht und was sich Kaufman laut Interviews bei vielen Aspekten gedacht hatte.
Und die Frage, warum Lucy einen eigenen Willen und Persönlichkeit hat wird aufgeworfen und beantwortet:
Within the “world” of “I’m Thinking of Ending Things” — one controlled by Kaufman as well as his protagonist — Lucy exists. “I needed her to have agency for it to work as a dramatic piece,” Kaufman said. “I really liked the idea that even within his fantasy, he cannot have what he wants. He’s going to imagine this thing, but then he’s going to also imagine how it won’t work, how she’s going to bored with him, how she’s going to not think he’s smart enough or interesting enough.”
Innerhalb der Welt des Filmes - kontrolliert bei Kaufman als auch seinem Protagonisten - existiert Lucy tatsächlich. „Es war nötig, dass sie einen eigenen Willen hat, damit es dramaturgisch funktionierte“ sagte Kaufman. „Ich mag die Idee, dass er sogar innerhalb seiner Fantasie nicht das haben kann, was er will. Er stellt sich dieses Dinge vor, aber dann stellt er sich auch vor, dass es halt nicht funktioniert, dass sie sich langweilt mit ihm, wie sie denken wird, er sei nicht intelligent oder interessant genug sei.“
Und DAS ist für mich der Schlüssel warum der Film zum Schluss nicht funktioniert.
Kaufman hätte das Konzept, dass Jake sogar in seiner Fantasie für seine Traumfrau nicht gut genug sein wird auch rüberbringen können, ohne Lucy zur Protagonistin zu machen, ohne sie zu einem Charakter mit eigenem Antrieb, einer Wahrnehmung und Willen zu machen. Dieser Punkt hätte auch anders gemacht werden können.
Aber DRAMATURGISCH hätte es nicht funktioniert… denn das Konzept, dass sich alles nur im Kopf des Protagonisten abspielt (welches der Schlüssel zu diesem Film ist) wäre zu offensichtlich gewesen und dramaturgisch hätte das nicht funktioniert.
Kaufman: “She is a device, but I wanted her to be able to separate herself from that. I didn’t want it to be a twist. I felt like that would not work in a movie at this point in history.”
Kaufman: „Sie ist ein Objekt/Plotelement, aber ich wollte dass es ihr möglich ist, sich von ihm zu separieren. Ich wollte nicht, dass es ein Twist ist. Ich habe das Gefühl, dass würde heute in einem Film nicht mehr funktionieren.“
Ich habe den Eindruck, Kaufman wollte in erster Linie die Geschichte von Jake erzählen, und was sich an seinem letzten Tag in seinem verwirrten Geist abspielt, seine Fantasie zeigen. Weil dieser „Twist“ aber zu offensichtlich gewesen wäre (hätte man den ganzen Film aus der Sicht des jungen Jakes gesehen, dann wären vieler Zuschauer schnell auf die Idee gekommen, dass sich das alles nur in Jakes Kopf abspielt und vermutlich im Kopf des alten Schulabwarts zu dem man immer wieder zwischendurch schneidet, und dann hätte es dramaturgisch nicht mehr funktioniert), hat er nicht Jake den Protagonisten gemacht, sondern eine seiner Fantasie-Kreationen. Wir sehen den Film über fast die ganze Dauer aus IHRER Sicht, nicht seiner. Und der Grund warum ich „Shattered Memories“ angesprochen habe ist um zu zeigen, dass ich durchaus Nichts gegen diese Idee für sich habe… aber dann muss man es aus einem besseren Grund machen als: „Es funktionierte halt dramaturgisch so besser. Ich wollte die Erklärung zum Film nicht als einen Twist aufziehen“.
Wenn DAS der Grund ist, warum du den Protagonisten für 3/4 des Filmes jemanden machst, der dann am Ende nicht mehr der Protagonist ist und der innerhalb der Logik des Filmes nicht mal selber einen echten, eigenen Willen hätte, dann würde man es besser bleiben lassen.
Denn ansonsten enden wir mit einem Film wie diesem, wo ein massives, zentrales narratives Element (wer ist der Protagonist? Durch wessen Augen sehen wir die Welt?) unklar definiert ist, zum Ende hin ungeschickt gewechselt werden muss, und dadurch vieles kaputt macht, was über so lange Zeit so gut funktioniert hat.
Wenn Lucy der Protagonist des Filmes sein sollte, dann behalte sie als Protagonisten bis zum Schluss. Zeige, dass sie eine Figur mit eigener Persönlichkeit ist, welche bis zum Ende als Teil seiner Fantasie funktioniert. Oder mach etwas wie „Silent Hill - Shattered Memories“ wo es einen Grund gibt, warum dieser illusorische, fiktive Charakter im Kopf des eigentlichen Protagonisten plötzlich nicht mehr der Fokus ist.
Es gibt aber auch einen zweiten Grund, warum das Ende für mich nicht funktioniert hat.
Der Stimmung und der Ton. Bis hin zur Highschool hat der Film einen fast Horrorfilm-mässigen Ton. Eine unterschwellige Bedrohung, etwas unheimliches, zum Teil etwas fast aggressives. Und dann plötzlich kommt die Balletteinlage, und der ganze Ton kippt. Und er kippt nicht auf die Art, wie gewisse Horrorfilme gegen Ende plötzlich von unheimlichem Horror zu einer melancholischen Traurigkeit, oder einer leichten, hellen, erlösenden Stimmung wechseln. Es wechselt von bedrohlichem, ungemütlichem Ton zu… fast schon einer Farce. Einer Tanzeinlage und danach einer Szene mit einem animierten Schwein, welche fast etwas komödiantisches oder zumindest tonlich undefiniertes haben. Der Ton hätte da anders sein müssen. Die Inszenierung hätte weniger lustig, oder absurd oder seltsam sein müssen, sondern (je nachdem wie man den Film beenden will) traurig oder melancholisch oder weiterhin bedrohlich und ungemütlich. Aber dieses eigenartige „Holy Motors“-Feeling mit dem ich zurückgelassen wurde passte einfach nicht zum Rest des Filmes.
Wie man hier sehen kann… das Ende funktionierte für mich einfach nicht, auf keiner Ebene. Die „Auflösung“ worum es im Film geht funktionierte für mich nicht, weil eine der wichtigsten narrativen Elemente falsch gelegt wurde, und der Ton passt auch nicht zum Rest des Filmes.
Und es frustriert mich, weil der Film wirklich bis zur Ballettszene absolut hervorragend ist. Hätte er zum Schluss hin die Kurve gekriegt hätte dieser Film für mich zu einem absoluten Meisterwerk werden können. Bei der Szene, wo Lucy alleine und verlassen vor der Schule im Auto sitzt und auf Jakes Rückkehr wartete dachte ich mir noch: „Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal einen solch grossartigen Film gesehen habe!“
Und dann kam der Tonwechsel und ich dachte plötzlich: „Oh… ok. Es ist DIESE Art von Film. Schade.“
Ich verstehe, dass meine Kritikpunkte EXTREM spezifisch sind. Und ich erwarte nicht, dass auch nur eine Person hier den Film auf die gleiche Art sieht wie ich und darum das Ende gleich negativ aufnimmt wie ich… aber das ist halt der Eindruck welcher der Film für mich hinterliess.
Fazit: Das Ende enttäuschte mich leider ungemein. Aber meine Kritik an den Film ist sehr persönlich und der Film macht so vieles so extrem richtig, dass ich ihn dennoch absolut empfehlen würde.