Lady Bird
Ich berichte mal von meinem kleinen Experiment. Bereits vor dem Anschauen des Films hatte ich das Drehbuch gelesen und ein wenig analysiert. Generell würde ich das nicht weiterempfehlen, weil es natürlich nicht mehr möglich ist, den Film unbefangen und losgelöst zu erleben und zu bewerten. Mir ging es hauptsächlich darum, zu sehen, inwiefern sich das Drehbuch in Rhythmus und Pacing des Films übersetzen würde, inwiefern ersichtlich ist, warum der Film so erfolgreich ist, sowie im Allgemeinen um Dramaturgie, Schauspielleistung, Struktur, etc.
Was mir als erstes auffiel, ist, dass die Szenen generell recht kurzgehalten sind, selten länger als eine Seite. Von Greta Gerwig hätte ich im Vorfeld eher erwartet, dass sich schon ein gewisser Einfluss von Noah Baumbach durch eher längere, dialoglastige Szenen bemerkbar macht. Stattdessen war durch die kurzen Szenen und häufigen Schauplatzwechsel schon absehbar, dass sich am Ende wohl eine ziemlich kurzweilige Erzählweise ergeben würde. Darüber hinaus sind die Szenen generell sehr elliptisch – man wird mitten ins Geschehen gestürzt und verlässt dieses auch relativ schnell wieder. Das Ganze wird vom Schnitt noch weiter forciert. Normalerweise gibt es die Faustregel, dass eine Seite Drehbuch etwa einer Minute Film entspricht. Bei Lady Bird entspricht Seite 30 Minute 22, das gesamte Setup ist also recht schnell getaktet. Greta Gerwig hat dazu in einem Interview erzählt, dass dieses Pacing durchaus so beabsichtigt war. Sie wollte das Gefühl nachbilden, dass das High-School Leben viel zu schnell an einem vorbeizieht. Der erste, etwas ruhigere Moment kommt dann auf Seite 27 bzw. Minute 20 – was aber nur im Film und weniger im Drehbuch so auffällt. Das hat mich insgesamt schon etwas skeptisch gemacht in Bezug auf die dramatische Tiefe. Kann man mit derart kurzen Szenen wirklich emotionale Momente erzeugen?
Der Film lässt sich schwer bis gar nicht auf eine Drei-Akt Hollywood-Drehbuchstruktur herunterbrechen. Sämtliche Punkte im Skript, die dafür in Frage kämen, waren mir persönlich nicht stark und eindeutig genug. Aus meiner Sicht gibt es schlussendlich keine Kerngeschichte, an der sich eine solche Struktur zweifelsfrei festmachen könnte, vielmehr geht es um mehre Dinge: Selbstfindung im Sinne des klassischen Coming-of-Age Plots, um die Mutter-Tochter-Beziehung, die Beziehung von Lady Bird zu ihrer Heimatstadt, ob sie ihr Stipendium bekommt oder nicht usw., also um viele kleine Probleme, die sich zu einer Gesamterfahrung addieren, anstatt sich um ein einziges, großes Problem zu drehen. Allerdings ergibt sich dadurch auch kein großer Spannungsbogen.
Das liegt aber nicht nur an der übergreifenden Struktur, sondern auch an der Gestaltung der einzelnen Szenen. Es gibt irgendwo im Netz ein Video von Matt Stone und Trey Parker, in dem sie erklären, dass eine gute Geschichte aus Handlungen besteht, die durch “but” und “therefore” verknüpft sind, denn solche Handlungen enthalten eben Konflikte, die wiederum andere Konflikte nach sich ziehen usw. In Lady Bird findet man jedoch oftmals ein “and then”, also eher episodische Verknüpfungen. Am Ende vieler Sequenzen bzw. am Anfang der nächsten Sequenz ist die Gefühlslage der Protagonistin dann wieder da, wo sie bereits vorher war. Viele Szenen enthalten keine Konflikte bzw. nur sehr niedrige Konflikt-Level. Zum Ende des Films hin gibt es dann aber doch noch eine Charakterentwicklung und die meisten Handlungsstränge werden zusammengeführt, es wird weniger sprunghaft und schlussendlich doch noch emotionaler, sodass sich der Film im Vergleich zu Linklaters Boyhood runder und abgeschlossener anfühlt.
Und dennoch: hätte man das Drehbuch anonym 10 amerikanischen Film Schools zur Bewertung gegeben, dann bin ich mir ziemlich sicher, wäre die Durchschnittsnote keine 1. Wie lassen sich also die 99% auf Rotten Tomatoes, die Oscar-Nominierungen (inklusive Drehbuch) und der kommerzielle Erfolg erklären?
Ich vermute einfach, dass sich solche Drehbuch-“Nachlässigkeiten” bei vielen Zuschauern und Kritikern nicht gravierend bemerkbar machen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt und andere Aspekte wiederum einfach sehr gut umgesetzt sind.
Da sind zum einen die durchweg hervorragenden Schauspielleistungen, der Humor und die Tonalität des Films. Im Vergleich zum Skript habe ich auch bemerkt, wie stark die Schauspieler teilweise die Szenen nochmals aufwerten. Ein recht nüchtern geschriebener Halbsatz kann dann plötzlich zu einem einprägsamen Moment werden. Hinzu kommt aus meiner Sicht, dass die Coming-of-Age High-School Prämisse einfach total universell und für jeden nachvollziehbar ist bzw. dass, wenn man eine solche Lebensphase bereits durchlebt hat, diese ohnehin mit bestimmten (nostaligischen) Emotionen in Verbindung bringt und man nicht alles ausführlich auserzählen muss, sodass es teilweise reicht, bestimmte Dinge nur anzureißen. Und damit vielleicht zu den entscheidenden Punkten: Worldbuilding, Komplexität und Authentizität. Ich denke letztendlich sind es vor allem die Details, welche sich in den Charakterisierungen und Dialogen niederschlagen, die dafür sorgen, dass der Film eine Authentizität und Natürlichkeit versprüht, die viele als besonders empfinden. Gerade in Bezug auf die Mutter-Tocher-Beziehung, welche in der Form und in diesem Setting vielleicht noch nicht auf der großen Leinwand stattfand, erkennen sich vermutlich viele wieder. Lady Bird selbst ist außerdem eine komplexe Figur – sie ist eigensinnig, impulsiv (sowohl im positiven als auch im negativen Sinne), aber dennoch liebenswert. Darüber hinaus sind es aber auch die vielen Nebenfiguren, die das Gefühl einer komplexen Welt erzeugen, indem sie uns durch kleine Details einen winzigen Einblick in ihr Leben geben und sich damit teilweise von Stereotypen zu „echten“ Persönlichkeiten erheben.
Dabei fällt mir auch ein Satz von Hayao Miyazaki ein: “The creation of a single world comes from a huge number of fragments and chaos.” Vielleicht ist das am Ende auch das Erfolgsrezept von Lady Bird.