Burning (2018)
von Lee Chang-dong
Im Grunde bräuchte es nur genau zwei Worte um Burning zu beschreiben: "mysteriös" und "faszinierend". Denn ich fand praktisch jede einzelne Szene des Films zugleich unendlich mysteriös und unfassbar faszinierend. Immer ist irgendetwas an den Geschehnissen, den Verhaltensweisen, den Aussagen oder den Reaktionen der Figuren oder der Welt, die uns gezeigt wird, leicht "off"—mal subtil, mal klar und deutlich. Lee Chang-dong (bzw. Haruki Murakami, auf dessen Kurzgeschichte Burning beruht) versteht es, einem irgendwie immer das Gefühl zu geben, dem großen Ganzen des Mysteriums wieder einen Schritt näher gekommen zu sein und zugleich immer durch eine kleine mal bewusst, mal nur unbewusst spürbare Widersprüchlichkeit, Zweifel zu sähen, ob man wirklich auf der richtigen Spur ist. Und das Schlimmste (read: Beste) ist: das geht nach dem Film noch so weiter!
Ich hatte zwar am Ende das Gefühl, das große Ganze für mich zu einem logischen Bild zusammengefügt zu haben (wenn ich auch glaube, dass selbst da eine gewisse Ambivalenz beabsichtigt ist), jedoch hat der Film so viele kleine Abzweigungen und Ebenen, die ihre ganz eigenen Frage aufwerfen, Widersprüche & Geheimnisse in sich zu tragen scheinen, dass der Film nicht nur stark zum erneuten Sehen anregt, sondern auch währenddessen eine unglaubliche Dichte an Themen & Dingen, die offen oder verdeckt angesprochen werden, zu haben scheint. Daraus entsteht dann auch die meiner Meinung nach größte Stärke des Films, diese unglaublich geheimnisvolle und zum permanenten Mitdenken anregende Atmosphäre. Für diese besondere Atmosphäre besitzt er auch den perfekten Score, der wahnsinnig gut eingesetzt wird und Lee Chang-dongs Inszenierung ist ebenfalls der Hammer. Bin sehr gespannt auf seine anderen Filme.
Noch ein paar mehr oder weniger lose Gedanken, als Ansatzpunkt für Diskussionen über verschiedene Theorien oder als Ausgangspunkt für Theorien, die ich in einem Rewatch mal näher verfolgen möchte (einigermaßen sortiert von ‘viele/mehrere Details im Film unterstützen diese Theorie’ hin zu ‘mehr Gehirnfurz als Theorie, nur wenige Punkte im Film unterfüttern diese Idee’):
Zunächst die Hauptstoryline des Films: Was ist mit Hae-mi geschehen? Erste (deutlich realistischere Theorie mMn): Ben ist ein Serienmörder und hat sie ermordet. Sein "Hobby" "Burning Greenhouses" ist eine Metapher für das Töten seiner Bekanntschaften. Er redet von "alle 1-2 Monate" und dass er ein "Greenhouse" "in Jong-sus Nähe" am Tag nachdem er mit Hae-mi weggefahren ist, "abgebrannt" hat. Alle wörtlichen Greenhouses sind allerdings noch da. Seine Motivation: vermutlich wenn er ihrer überdrüssig wird (sein mehrmaliges Gähnen), im Falle von Hae-mi mglw. zusätzlich Eifersucht (erwähnt er gegenüber Jong-su) und vor allem der "Thrill"/Adrenalin-Rausch (er spricht mehrmals vom "bass" in seinem Herzen, den er spüren muss). Weiterer deutlicher Hinweis: Die rosa Uhr in seiner "Trophäensammlung" im Bad nachdem Hae-mi verschwunden ist. Außerdem: Schminken seiner späteren Bekanntschaft gehört mglw. zu einem Ritual, bevor er sie jeweils umbringt. Weitere Hinweise: ihre Katze; aufgeräumtes Zimmer = Spurenbeseitigung?)
Zweite Theorie dazu: Sie ist weggelaufen/hat sich umgebracht. In der Vergangenheit nennt Jong-su sie "ugly" -> später Schönheitsoperation. Letzte Konversation vor ihrem Verschwinden, er nennt sie "Schlampe" (er ist der einzige "dem sie traut" (laut Ben), Enttäuschung über sein Verhalten, auch dass er sich nicht an sie erinnert) + mgwl. Schulden, schonmal weggelaufen (Aussage der Mutter) -> erneutes Verschwinden/Untertauchen/Selbstmord? Wenn diese Theorie stimmt, dann würde aus Jong-su eher ein Typ mit "Anger-Management"-Problemen (wie sein Vater) werden, der aufgrund von falschen Vermutungen letztendlich zum Mörder wird. Hätte eine gewisse Tragik. Aber: Anruf impliziert Gewaltverbrechen.
Ich vermute, es gibt entweder eine “Geschichte innerhalb der Geschichte” (geschrieben von Jong-su = Writer) oder eine Art “surreales bzw. magischer Realismus” - Element, bei dem wir den Entstehungsprozess von Jong-sus Geschichte praktisch “live” von innerhalb der Geschichte miterleben, während er sie schreibt. Beides würde im Endeffekt auf ein sehr ähnliches Filmerlebnis hinauslaufen. Hinweise für beide Theorien: Beide anderen Charaktere, Hae-mi & Ben, mit kurzer (vielleicht noch unfertiger Backstory; Bens Backstory aus “The Great Gatsby” = Einfluss der literarischen Vorliebe des Autoren Jong-su?), beide wirken stark wie Fantasien oder Projektionsflächen der Wünsche oder Ängste Jong-sus als wie vollkommen eigenständige Figuren, extremer Kontrast in vielen Dingen zwischen Ben und Jong-su; interessante Ähnlichkeit zweier Shots: relativ zu Beginn: Hae-mis Apartment, Jong-su von hinten gefilmt, masturbierend, Blick Richtung Fenster, dann Blick auf Hae-mis Bild. Gegen Ende: Erneut Hae-mis Apartment, wieder Jong-su von hinten gefilmt, Blick Richtung Fenster, diesmal allerdings schreibend, Hände am Laptop (an der “Geschichte in der Geschichte”?, möglicherweise in der “Realität” eigentlich sein Apartment?) -> mglw. Schreiben gleichgesetzt mit Fantasieren Jong-sus. Außerdem: gefühlt findet eine kurze Tonveränderung in der Geschichte statt, als Jong-su den Joint raucht, Sonnenuntergangssequenz (Jong-sus Bewusstseinszustand in direkter Verbindung mit dem Ton der Geschichte?). Auch Hae-mis Backstory scheint wie vieles eine Summe aus Jong-su Realität (seine Mutter sagt: Brunnen ja, reingefallen: keine Ahnung) und seinen Wünschen / Fantasien (Brunnen: ja, reingefallen: ja -> Er rettet Hae-mi -> später “Liebesgeschichte” zw. beiden Charakteren) zu sein.
Zwei Dinge sind auffällig, die möglicherweise zusammenhängen, auf die ich mir aber nur so halb einen Reim machen kann. Erstens, der starke Kontrast zwischen Jong-su & Ben und teilweise auch zw. Hae-mi & Ben (neben den offensichtlichen Dingen z.B. auch Tränen (Emotionen) <-> niemals Tränen): Es wirkt oft, als würde er hier noch auf eine andere Ebene führen wollen, als diesen Gegensatz nur die für Hauptstory mit dem "Liebesdreieck" und dem Kontrast zw. "Arm und Reich" zu dienen. Zweitens, gleich zweimal wird die Idee des "little hunger & great hunger" angesprochen (für das unterschiedliche (vorrangige?) Bedürfnis mancher Menschen nur nach z.B. Essen(absolut notwendige Dinge) und dann nach zusätzlichen Dingen, wie Fragen nach dem "Sinn des Lebens"; mglw. ähnlich zur "Maslowsche Bedürfnishierarchie" oder den unterschiedlichen Zuständigkeiten der versch. Gehirnregionen -> Verkörpern die Charaktere in Jong-sus Geschichte unterschiedliche Bedürfnisse in seinem Leben?). Auch hier wirkt es als würde eine weitere thematische Ebene aufgemacht. Es passt aber nur so halb auf den Unterschied zwischen Hae-mi & Jong-su einerseits (z.B. 2x Einschlafen und Tränen bei Hae-mi) und Ben andererseits (nie Tränen, Szene in der Kirche (Glauben = Fragen nach dem Sinn des Lebens?, Essen nicht als Notwendigkeit, sondern er "bereitet sich selbst ein Opfer"). Wären dann Hae-mi & Jong-su als eine Einheit (Unterschicht?) zu sehen oder als noch mal getrennte Repräsentanten mit unterschiedlichen Bedürfnissen (Unterschicht & Mittelschicht)? Vielleicht passt es deshalb nicht richtig zusammen, weil es zwei unabhängige Aspekte des Films sind, die nur einen ähnlich klingenden Kontrast durch die sonstige Verwendung von Metaphern wie ein Gleichnis wirken lassen.
Ein Film für Leute, die auf sich langsam entwickelnde sehr atmosphärische Mystery-Thriller stehen, wo vielleicht das Rätseln & Fragenstellen selbst mehr im Mittelpunkt steht als eine möglichst spektakuläre Auflösung am Ende. Ganz großartiger Film!
9/10