Capernaum
Natürlich ist es ergreifend einen kleinen Jungen zu sehen, der seiner Schwester dabei hilft ihre erste Regelblutung zu verheimlichen, weil er Angst hat sie wird zwangsverheiratet. Menschen in absoluter Armut dabei zuzusehen, wie sie leiden - und das mit dem ständigen Hintergedanken: “Das könnte auch eine Doku sein; das passiert gerade irgendwo wirklich” - ist immer etwas, das einem schwer im Magen liegt. Das Schicksal einer Flüchtlingsfrau mit ihrem kleinen Sohn zu sehen, in Anbetracht der immer noch aktuellen Flüchtlingsthematik, auch das drückt viele emotionale Knöpfe.
Dass für höchstmöglichen Realismus im Libanon an realen Schauplätzen und teilweise mit einheimischen Laien gedreht wurde, ist ebenfalls eine interessante Geschichte.
Allerdings kann ich die Jubelarien, die der Film von vielen Kritikern bekam, nicht ganz nachvollziehen. Mir ist er z.B. zu konservativ gedreht. Das ist ein Film, der auch so im ZDF Fernsehspiel laufen könnte. Mit der Kamera nahe und auf höhe des Kindes zu operieren ist auch nichts neues mehr.
Der interessanteste Punkt und für mich auch Selling Point des Films - der Sohn, der seine Eltern verklagt, weil sie ihn in Armut geboren haben - wird mir zu wenig beleuchtet. Der Film würde hier den Realismus verlassen, aber so eine Gerichtsverhandlung, mit all den ethischen Implikationen (z.B. Überbevölkerung oder eben die Frage, ob man in so einer Gesellschaft mit reinem gewissen Kinder zeugen darf) wäre meiner Meinung nach sehr viel interessanter gewesen, als wieder einmal Armut bzw. kultur-religiöse Konflikte zu zeigen.
Dennoch berührt der Film, gerade wegen des hervorragenden kleinen Hauptdarstellers.
3 1/2 Sterne von 5.
Shoplifters
Der Ruf, der dem Film vorauseilt ist verdient. Er ist ruhig und langsam und hat einen kauzigen Humor. Mit dem ständigen Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz stimmt in dieser Familie wächst einem ebenjene durch die Gangart des Films immer weiter ans Herz. Dann entblättert sich das komplexe Geheimnis dieser Menschen immer weiter um einem am Ende dann den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Zutiefst emotional und ja: Auch ich hatte dieses Erlebnis, dass ich nach dem Film die Credits laufen gelassen habe, um emotional etwas abzukühlen.
4 von 5 Sternen.
Die 39 Stufen
Die Hauptwerke von Hitchcock (bis auf North by Northwest, weil der nicht in der Blu-Ray-Box ist) hatte ich durch und habe mir vor einiger Zeit eine neue Box mit 6 Frühwerken gekauft.
Nun waren “Die 39 Stufen” von 1935 an der Reihe. Auch hier möchte ich mich dem Tenor der Kritiker anpassen: Es wirkt wie eine nicht ganz ausgefeilte Vorlage der späteren Klassiker. Es ist alles schon da: Agentenplot, Verschwörung, MacGuffin und ein Mann, der irgendwie dort hineingerät.
Überrascht war ich von den launigen Dialogen zwischen dem Hauptdarsteller und der Hauptdarstellerin, die sich durchweg fast in Screwball-Art necken. Für das Alter des Films und mit der Erfahrung, dass ältere Filme gerne mal steife und hölzerne Dialoge haben, war das eine echte Überraschung.
Nach heutigem Maßstab aber höchstens noch Durchschnitt, weil nicht besonders viel “Fleisch” hinter der Story steckt. Wie gesagt: Es ist alles da, was Hitchcock später berühmt gemacht hat, aber eben nicht sehr ausgefeilt.
3 von 5 Sternen.
Disclaimer: Ich bewerte Hitchcock nach heutigen Maßstäben, wie eben mein Seherlebnis war. Mir ist der historische Kontext und die Wichtigkeit seiner Filme für die Filmgeschichte absolut bewusst. Psycho und Vertigo z.B. haben bei mir auf Letterboxd auch “nur” 4 Sterne, weil es meiner Meinung nach bessere Filme gibt und ich sie nicht nur aus Nostalgie zu “Meisterwerken” ernenne.
Dem einzigen Hitchcock, dem ich 5 Sterne gegeben habe ist “Das Fenster zum Hof”, denn der ist mit dem Minimalismus einfach zeitlos genial.