Die Welt war ein Nichts geworden.
Kein schönes Nichts, kein beruhigendes Nichts. Ein grausames und blutiges Nichts, das nahm und nahm und wenig zurück gab. Wenn überhaupt.
Das Nichts war die neue Welt, gebaut auf dem Skelett von dem, was einmal gewesen war, und nie mehr werden würde. Wie eine Pflanze, die aus einem Kadaver spross, nur um bald in der unsäglichen Wüstensonne zu verdorren, sollte man auch hier weder Gnade noch Nachsicht erwarten und in den besonders finsteren Nächten, da fragte man sich, ob die Lebenden, nicht doch die Toten beneiden sollten.
Die Welt war ein Nichts geworden.
Und in dem Nichts musste man nun leben.
Wenn man die Welt fragen würde, wieso die Bobo Brüder nicht mehr mit ihrer Gruppe an Entertainern unterwegs war, dann gäbe es zwei Antworten, die vehement von zwei Lagern unterstützt würden. Die Einen würden sagen, dass die Bodo Brüder Vollidioten seien, die das Leben des Show-Bären Bob auf ihrem Gewissen hatten. Die Anderen würden sagen, dass sie einfach viel, viel zu gut für diese dilettantische Truppe von miesmutigen Mistkerlen seien. Diese Gruppe wären die Brüder selbst. Die andere Gruppe war die gesamte, restliche Welt, aber man will ja nicht kleinlich sein.
Fakt war, sie waren alleine in dieser großen Welt, die irgendwie heute ein wenig größer schien, als sie schweren Herzens durch die Wüste stapften. Ohne Wagen, ohne Schutz vor der prallen Sonne und nur mit den Dingen am Leib, die sie tragen konnten.
Und Helmut dem Hummer. „Wer hätte auch ahnen können, dass ein Bär das Hamsterrad nicht überleben würde?“, grummelte Bordo und trat gegen einen kleinen Sandhaufen, der das tat, was ein Sandhaufen eben so machte, wenn man gegen ihn trat: Er verteilte sich in kleinere Sandhaufen um.
„Nunja, ein Bär ist eben nicht für ein Hamsterrad ausgelegt und…“
„Ja, ja…“ Olaf wedelte mit der Hand, die nicht krampfhaft versuchte Helmuts Glas festzuhalten, in der Luft herum, um somit Brontus zum Schweigen zu bringen. Etwas, was er gerne tat, denn Brontus redete einfach gerne und viel zu viel. Ehrlich, wenn er noch eine Weisheit von Karl Ender hören musste, würde er morden. „Und ein Hummer ist keine Waffe. Tiere sind anpassungsfähig. Das nennt sich Revolution.“
„Meinst du nicht Evolution?“
„Nein, nein. Ich meine Revolution: Du weißt schon, wenn sich etwas anpasst um zu überleben.“ Die so oder so weichen Gehirne der Brüder wurden von der unerbittlichen Sonne nur noch weiter gekocht und vielleicht, vielleicht auch nicht lag es an der Reflektion ebenjener Sonne auf Olafs glitschig glänzender Glatze, die ihnen zum Verhängnis wurde.
Geblendet von der öligen Pracht, sahen sie die sehr schlecht versteckte Grube genau vor ihren Füßen nicht. Nur ein Idiot, oder eine Horde Trauender würde diese offensichtliche Falle übersehen, und da die Brüder keine Trauernden waren… Nun, die Antwort kann sich jeder selbst geben.
Es war ein grausames Gefühl, als würde man im Dunkeln nicht nur eine Treppenstufe übersehen, sondern gleich den ganzen Fahrstuhl-Schacht. Der Sturz dauerte nicht lange, aber lange genug, das jeder der Brüder sein halbes Leben vor dem geistigen Auge aufblitzen sehen konnte.
Es war kein schönes Leben.
Sie konnte nicht einmal schreien, so abrupt und plötzlich war der Sturz gewesen und der Sand rieselte ihnen nach, als wäre es Regen über der Steppe. „Wer lebt noch?“, stöhnte Oleg, die Hand tastete über de sandigen Boden, auf der Suche nach seiner Brille. Sand und noch mehr Sand. Verdammt, seine Gläser waren sicher verkratzt worden.
„Ich!“
„Na toll, von allen musste ausgerechnet Olaf überleben.“ Er packte seine Brille und drückte sie wieder auf seine Nase, den Sand aus seinen Augen blinzelnd. Die Sonne schien unbarmherzig auf sie herunter, aber wann war diese Welt schon jemals barmherzig zu ihnen gewesen? Nein, nein, die Welt hatte sie immer getreten, geschlagen, nach unten gedrückt, versucht klein zu halten. Aber wer war die Welt schon gegen einen Bobo. Oleg stöhnte genervt, als er sich aufsetzte, den Schaden begutachtete. Keiner hatte einen gebrochenen Nacken, in Bordos Fall war er sich nicht einmal so sicher, ob er überhaupt einen Nacken hatte. „Wo zum Henker sind wir?“
„Ich würde sagen, dass das hier eine Grube ist!“
Brontus richtete sich auf, während die Anderen auch langsam aber sicher zu sich kamen. Er sah nach oben, das Gesicht entspannt. „Karl Ender sagt, dass wer anderen eine Grube gräbt, hat meist ein Grubengrabgerät.“ Und dieses Grubengrabgerät war fantastisch. Die Grube war tief, verdammt tief und die Wände waren aus gepresstem Sand, an dem sie weder nach oben klettern konnten, noch genug Halt finden konnten, ohne, dass die Wand nachgab.
Sie saßen in der Falle.
Verdammt.
Das konnten sie nach Bobs Tod gerade noch gebrauchen!
Oleg seufzte schwer, klopfte seine Taschen ab auf der Suche nach etwas, womit er etwas basteln konnte. Man nannte ihn den MacGyver der Wrestler, was an sich kein wirkliches Kompliment war, denn die wenigsten Wrestler waren am Werken interessiert. „Verdammt, ich habe nichts dabei. Die scheiß Entertainer haben die meisten meiner Sachen behalten. Aber… vielleicht kann ich aus was anderem was basteln?“ Seine Augen wanderten zu Olafs Hummer, der, wie durch ein Wunder, noch immer in seinem feuchten Gefängnis war, unbeschadet!
Wenn er Olafs Outfit als eine Art Seil benutzen würde und den Hummer daran festmachen würde, könnte er ihn sicher hochwerfen und der Hummer hielt sich dann an irgendwas fest und…
„Wag es dich“, zischte Olaf und drehte sich schützend vor seinen Hummer. Er wusste nicht, was sein Bruder plante, aber er traute ihm nicht mit seinem Hummer. Er traute Oleg mit vielem, aber nicht mit seinem Hummer. Zumindest, bis zu dem Tag, an dem er das Rätsel lösen konnte, wieso er, als einziger der Bobo Brüder, einen russischen Akzent hatte, der ab und an ins Französische umschwang. Aber er war nicht der einzige mit schlechten Ideen.
Ein Markenzeichen der Bobo Brüder.
„Quetschkanone!“ Bordo sah zu Olaf auf, ein grimmiges Schimmern in seinen Augen. „Quetschkanone!“, wiederholte er und Olaf nickte. Eine fantastische Idee, wirklich. (Nein, war es nicht.)
Er ging in Stellung und Bordo warf sich mit seinem kleinen, kompakten, fetten Arsch in seine Arme und er quetsche ihn. Das Öl tropfte dabei von seinen wortwörtlich stählernen Muskeln und machte die ganze Sache glitschig und binnen von Sekunden war Bordo nicht mehr Bordo sondern ein tödliches Projektil, das hoch in die Luft flog.
War es ein Vogel?
War es ein Flugzeug?
Nein!
Es war Bordo, der es mal gerade bis zur Hälfte der Grube schaffte, bevor er mit voller Wucht gegen die Wand donnerte und einen wütenden Abdruck hinterließ. Mit einem Stöhnen fiel er zurück und wurde von einem seiner Brüder gefangen und sanft wieder auf dem Boden abgesetzt. „Quetschkanone ist eine dumme Idee.“ Oleg seufzte schwer, ging die Grube einmal, zweimal ab, aber es blieb eine verdammte, beschissene, kleine Grube.
„Wir könnten den Doomsday Device versuchen.“
„Das bringt auch nicht viel mehr…“
„Hoch Drei.“ Die Stille die daraufhin zwischen die Brüder fiel, fiel härter und schwerer als Bordo noch vor wenigen Sekunden und alle Augen richteten sich auf Oleg, der nicht nur unter der heißen Sonne, sondern auch ihren Blicken schmolz. Er wusste, was er gerade vorgeschlagen hatte. Er wusste, das es dumm war… Im besten Falle.
„Aber der ist doch verboten.“
Er nickte und war sich sehr wohl darüber bewusst, dass es verboten war, aber… es war vielleicht ihre einzige Chance hier heraus. „Ja, ja. Verboten. Aber Brontus? Sagt Karl Ender nicht, dass man die Schranken des Verbotenen zertreten muss, oder so einen Unsinn?“ Er fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, als wollte er eine lästige Fliege vertreiben. „Ja, ja… Karl Ender sagt, dass man sich von den Scheuklappen der Furcht lösen muss, oder man bleibt für immer nur ein folgsamer Gaul…“
„Wir müssen hier raus. Ok? Bevor die Sonne uns killt, oder der, der die Grube gegraben hat, uns abholen kommt. Also los!“ Es war gefährlich. Die Chancen sich zu verletzen waren viel, viel zu hoch und es gab einen Grund, ach, tausende Gründe den Doomsday Device Hoch Drei nicht zu versuchen, aber sie hatten nur eine Chance.
Diese eine Chance. Und sie waren bereit dafür.
Sie waren nicht bereit dafür.
Das war der eindeutige Konsens, den sie daraus zogen, als sie wimmernd und weinend auf dem Boden lagen, Abschürfungen an Stellen, an denen eigentlich nie etwas abgeschürft werden sollte. Ein Fehlschlag.
Man könnte sagen, ein kritischer Fehlschlag.
Noch ein Loch, noch eine Gruppe Trauender.
Verdammt, Nook würde sich bald zu ihnen gesellen dürfen, wenn die nächste Grube wieder nur einen Haufen wimmernder Idioten haben würde. Könnte nicht zumindest ein Kaninchen, oder irgendwas Essbares in eine Grube fallen? Die Kinder des Chaos waren vielleicht chaotisch, aber auch sie mussten ab und an was essen. Er seufzte, schulterte sein Grubengrabgerät und machte sich mit dem Wagen auf zu der letzten Grube für heute. Schon von weitem konnte er das Heulen hören. Fantastisch, noch mehr Trauernde.
Er stöhnte, und ging auf die Grube zu, sah nach unten, aber zu seiner Überraschung waren dort keine vier Trauernden, sondern… Vier sehr verzweifelte Männer. Sie sahen ein wenig angeschlagen aus, mit Schürfwunden hier und da, aber ansonsten… lebendig! Ein verdammter Glücksgriff. „Na, was macht ihr denn in meiner Grube“, grinste Nook, die Hände in die Hüften gestemmt. Die Sonne schien in seinen Nacken, aber nichts kochte so heiß, wie sein Blut. Mother hatte gesagt, die Fallen die er gestellt hatte wären dämlich und nur absolute Vollidioten würden da hinein laufen, aber hier war er, vier neue Jungs für das Entertainment Programm.
Mother würde ihn reich belohnen.
„Mein Name ist Brontus Bobo und ich wohne hier“, antwortete der Fette von ihnen und Nook würde lügen, wen er sagen würde, dass ihn das nicht ein wenig aus der Bahn warf.
„Aber… das ist meine Grube…“ Er deutete auf sein patentiertes Grubengrabgerät. „Ich hab sie gemacht.“
„Also, Karl Ender sagt, dass die Welt dein Zuhause ist, solange du ein offenes Herz hast.“ Der Fette hatte irgendwas genommen. Nook war sich nicht sicher was er genommen hatte, aber er wollte auch was davon. „Offenes Herz? Klingt nach nem kardiologischen Problem, mein Freund.“ Er wurde unterbrochen.
„Genug der Laberei, Kleiner! Holst du uns jetzt hier raus oder nicht?!“ Der Kleinste keifte zu ihm rauf und er sah aus als würde er am liebsten zu ihm rauf kommen und ihm die Fresse polieren. Kleiner Giftzwerg, vor dem würde Nook sich sicherlich in Acht nehmen, danke sehr.
„Sicher, irgendwann müsst ihr da raus. Ich meine, tot bringt ihr Mother nichts und ihr seid jetzt ihr Eigentum, nach den hochheiligen Regeln dieses Landes.“ Er grinste, setzte sich an den Rand der Grube, die Beine leicht über den Rand baumeln lassend. Oh, er war amüsiert. Die Vier da unten weniger, was?
„Wat?!“ Die Antwort war schnell und sprach von wenig Intelligenz. Aber was sollte Nook sagen, er hatte jetzt auch nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen. Er grinste sehr breit herunter, seine lückenhafte Bildung stand nur den lückenhaften Zähnen nach.
„Naja, ihr seid hier schon irgendwie in Mothers Land. Und dadurch, weil ihr in ihrem Gebiet seid… seid ihr ihr Besitz.“
„Mutterland? Nein, man. Wir kommen nicht von hier.“
„Sag… ich doch. Mothers Land. Das Land von Mother.“ Nook war sich nicht sicher, wer von den vieren gerade die eine Gehirnzelle benutzte, die sie sich anscheinend teilten, aber er hoffte, dass die Person als nächstes Antworten würde.
„Ich hab kein Schild gesehen, also…“ Nein… Nein, er hatte die Gehirnzelle nicht. Schade. Nook seufzte schwer. Er hatte gehofft, dass er das Ganze ohne irgendwelche Probleme lösen konnte, aber er musste die Idioten wohl betäuben. Er seufzte noch ein wenig schwerer, während er die kleine Bombe mit dem Betäubungsgas von seinem Gürtel löste.
„Warte, warte!“ Der Glitschige der Männer hob die Arme, als wollte er ihm Einhalt gebieten. „Warte, was auch immer du da runter werfen willst, lass es. Ich biete dir… Öl im Gegenzug an.“
„Öl?“
„Ja, Oil of Olaf! Ein Produkt, das im Kommen ist und sehr, sehr gefragt.“
Oil of Olaf? Das klang weniger… sexy. „Aber ich kann mir das Öl doch auch nehmen, wenn ihr alle ohnmächtig seid? Ich meine, ich werde so oder so all eure Besitztümer an mich nehmen, also…“
Der letzte der Männer schüttelte einfach nur den Kopf, bevor er in einem dicken, russischen Akzent hoch rief: „Wirf einfach die Bombe. Ich halte das nicht mehr aus.“ Und da war er. Der Mann auf den Nook gewartet hatte. Der Mann mit der einzigen Gehirnzelle zwischen den Vieren und mit einem Grinsen ließ er die Bombe fallen. Dichtes Gas breitete sich zwischen ihnen aus und einer nach dem Anderen fing an zu husten und zu prusten und schließlich kollabierten sie alle auf dem Boden. Ohnmächtig und sich nicht mehr bewegend. Nun, alle abgesehen von dem Hummer, den der glitschige Typ umklammert hielt. Warum hatte er einen Hummer dabei?
Aber… in dieser neuen Welt, da wunderte Nook nichts mehr. Auch kein Hummer, keine Trauernden, kein Öl und besonders keine vier Brüder, die ihm eine saftige Belohnung von Mother einbringen würde.
Die Welt war ein Nichts geworden.
Aber für Nook war das Nichts heute eine saftige Belohnung.
So wie Karl Ender schon sagte: Ein Nichts ist nicht für jeden ein Nichts.